Il Ritorno in Patria
L’aspettato non giunge e pur fuggono gli anni
Il Ritorno d’Ulisse in Patria hat Claudio Monteverdi seine Vertonung der Odyssee genannt, Il Ritorno in Patria ist der Titel der vierten und letzten Erzählung in Sebalds Schwindel.Gefühlen, il Ritorno di Selisse in Patria. Mit der Bearbeitung des Themas Heimkehr wäre der bislang in den kleinen Sebaldstücken überwiegend verfolgte Ansatz, von kleinen Randthemen aus eher nur verstohlene Blicke zum Zentralen hin zu wagen, sicherlich aufgegeben, denn nicht nur Selysses in den Schwindel.Gefühlen kehrt heim, auch Austerlitz ist ein Heimkehrer, die Ausgewanderten kehren auf die eine oder andere Art heim und auch nicht wenige der Figuren unter den Ringen des Saturn. Der Glaube an die Angemessenheit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenthemen hat allerdings im Verlaufe der Untersuchungen fortwährend abgenommen zugunsten der Überzeugung, Sebald habe das Pisanello zu Recht oder zu Unrecht abgelesene Programm in jedem Fall selbst umgesetzt, daß nämlich allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Blatt und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird (SG 84). Dieselbe Daseinsberechtigung: nimmt man das so ernst, wie es ernst zu nehmen ist, so würde nicht nur die Unterscheidung von Haupt- und Nebenthemen hinfällig, sondern auch die verstohlene Blicke zur Mitte hin, da es eine Mitte nicht gibt. Austerlitz wäre so sehr und so wenig ein Buch über den Holocaust wie die Ringe des Saturn ein Buch über die Seidenraupe. Für uns alle hat das Verständnis des Holocausts eine ungleiche höhere Bedeutung als das der Seidenraupen oder der Motten, Sebald hätte so wenig widersprochen wie irgendjemand sonst, seine Prosa aber ist, wie schon an anderer Stelle erfahren, Sprache in einem Ausnahmezustand, der die üblichen Hierarchien unkenntlich macht. In jedem Fall müssen alle Versuche der Offenlegung eines dominierenden monothematischen Kerns in Sebalds Werk scheitern.
Auch wenn der Titel Il Ritorno in Patria offen auf das Odysseusthema anspricht, so gibt es in Sebalds Werk naturgemäß keine Heimkehr nach Art des Odysseus, keine Wiederinbesitznahme der Heimat unter den Zeichen Rache und blutiger Verheerung. Die Thematik hat sich in vielen Fällen verschoben hin zu einem vaterlosen Telemach, der bei der Rückkehr des Heimatgeländes allenthalben auf die Spuren der blutigen Verheerung durch die Väter stößt. Auch sind Heimat und Fremde nicht klar unterscheidbar und vertauschen leicht ihre Plätze. In der Fremde erlebt Austerlitz-Selysses im Inneren eines flüchtigen Augenblicks das heimatliche und friedvolle Zusammenleben mit Penelope: Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. (AUS 207) Die beiden, Penelope und Selysses, gehen in einer Atmosphäre tiefer Vertrautheit, aufgehoben in der liebevollen Nähe des anderen still ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Dann und wann geht der Blick auf die Gasse hinaus, offenbar, wenn schon nicht Ithaka so doch eher Delft als London, ein Interieur a la Vermeer oder de Hoch.
Die Heimat, Prag, ist demgegenüber die völlige Fremde. Eine Unebenheit im Pflaster und damit eine Reverenz an Proust leitet die Erinnerung ein: Und vollends wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend, die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung (AUS 220).
Es mochte eine Stunde verstrichen sein, bis ich endlich im obersten Stock an der rechtsseitigen Wohnung läutete, und dann eine halbe Ewigkeit, wie es mir vorkam, bis ich drinnen etwas sich rühren hörte und die Tür aufgemacht wurde (AUS 223).Das große, gänzlich unglaubliche Wunder, die Eltern würden öffnen, geschieht nicht, das kaum geringere schon: Die Tür wurde aufgemacht, und Věra Ryšanová stand mit gegenüber. Věra Ryšanová hatte seinerzeit an der Prager Universität Romanistik studiert, war Jacquot Austerlitz’ Kinderfrau, fast schon Zweitmutter gewesen und wird jetzt gleichsam zur Hebamme bei Austerlitz’ zweiter Geburt.
Wie durch ein Wunder wird die Muttersprache zurückgewonnen, das Tschechische, von dem keine Spur mehr vorhanden schien: Jeden, dvě, tři, zählte Věra, und ich, sagte Austerlitz, zählte weiter, čtyři, pět, šest, sedm (AUS 234). Skurrile, gutmütige Gestalten tauchen auf aus der Vergangenheit, einfache Leute, deren Platz in dieser Welt noch nie jemand so selbstverständlich und großartig hat reklamieren können wie Sebald. Zwar bilden sie in gewisser Weise einen Hintergrund für die eigentlichen Sebaldhelden und dokumentieren die Wirklichkeit der Heimat, die diese suchen, zugleich aber manifestiert sich an ihnen die Pisanellodoktrin der durch nichts geschmälerten Daseinsberechtigung, so am Schneider Moravec: Am wichtigsten aber sei es gewesen, den Augenblick nicht zu versäumen, da Moravec die Nadel und den Faden, die große Schere und sein sonstiges Handwerkszeug weglegte, den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumte, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte und das abwechslungsweise und je nach der Saison aus etwas Weichkäse mit Schnittlauch, ein paar Tomaten mit Zwiebeln, einem geräucherten Hering oder aus gesottenen Kartoffeln bestand (AUS 228); und an der Tante Otýlie, die ein alleinstehendes Fräulein gewesen ist von einer beängstigend zierlichen Statur. Sie trug stets ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze und bewegte sich in einer kleinen Wolke aus Maiglöckchenduft (AUS 233).
Die Suche nach der Mutter führt Austerlitz nach Theresienstadt, aber wenn er eine wahrnehmbare Spur von ihr finden sollte, so ist es ein Gesicht in einem alten Film, das für einen Sekundenteil im Bildhintergrund auftaucht. Die Suche nach dem Vater führt Austerlitz nach Paris und von dort aus weiter: Als ich mich kurz vor meiner Abreise aus Paris mit Austerlitz noch einmal zum Morgenkaffee am Boulevard Auguste Blanqui traf, sagte er mir, daß er tags zuvor eine Nachricht erhalten habe, derzufolge Maximilian Aychenwald Ende 1942 in dem Lager Gurs interniert gewesen sei, und daß er, Austerlitz, diesen weit drunten im Süden in den Vorbergen der Pyrenäen gelegenen Ort nun aufsuchen müsse (AUS 409f). Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, und ich werde also weitersuchen nach meinem Vater und auch nach Marie de Verneuil. Offenbar hofft Austerlitz am Ende seiner Suche nach Kindheit und Heimat genug von sich selbst gefunden zu haben, um Marie nicht mehr nur als ein Schatten, sondern als er selbst begegnen zu können. Die Konstellation Austerlitz / Marie de Verneuil ist allerdings derjenigen Bereyter / Mme Landau (s.u.) derart ähnlich, daß der Ausgang vorgezeichnet scheint. Wir werden es nicht erfahren, denn an dieser Stelle verläßt Austerlitz das Buch, und wir verlieren ihn auf immer aus den Augen.
Ganz anders il ritorno di Selisse in patria. Selysses muß nicht investigativ nach der Heimat forschen, sie ist ihm wohlvertraut, aber er hat sie seit langem gemieden. Der auf die Initiale W(ertach) geschrumpfte Heimatort ist nicht Ziel einer Reise, der Reise, wie man im Falle des Austerlitz sagen muß, er wird sozusagen im Vorbeifahren aufgesucht: In einem weit oberhalb von Bruneck , am Ende der Vegetation gelegenen Hotel faßte ich eines nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war (SG 187). Von einer Suche nach den Eltern kann nicht die Rede sein, sie werden vielmehr in ihrer Wohnzimmereinrichtung versteckt: Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte (SG 210ff). Selysses selbst verwandelt sich in seinen Großvater: Er hatte mich, wie der Lukas mir sogleich sagte, mehrfach aus dem Engelwirt herauskommen sehen, aber nicht gewußt, wo er mich hintun sollte. Wenn er es sich jetzt recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus seiner Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen (SG 229f). Deutlicher als der heimgekehrte Selysses gerät das Kind, gleichsam Selysses als Telemach, in das Blickfeld, aber auch Telemach sieht man überwiegend nur auf Gängen durch das Dorf, allein oder an der Hand des Großvaters, als Bindeglied im Panoptikum der Dorfbewohner, die, wie der Schneider Moravec und die Tante Otýlie in Prag, für uns unvergeßlich bleiben werden: der einbeinigen Engelwirtpächter Sallaba und seine Frau, die Engelwirtin Rosina Zobel, die Ambrosersippe, die Tanten Babett und Bina, der Jäger Hans Schlag und die schöne Ramona, die Mediziner Piazolo und Rambousek. Telemach selbst tritt ein wenig deutlicher hervor in seinen Frühbegegnungen mit den verschiedenen Sparten der Kunst.
Nahezu einen Monat lang, bis Anfang Dezember, hatte ich mich in W. aufgehalten, tags darauf saß ich, W. schon unendlich weit hinter mir, im Expreß nach Hoek van Holland und fuhr durch das mir von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land (SG 275f).
Selysses war lediglich heimgekehrt, um endgültig zu verschwinden und seinen wahren Platz zu finden, als Person sozusagen ausgehöhlt und an den äußeren Rand der Welt gedrückt, um von dort aus zurückzukehren als allgegenwärtige Stimme, als Stil, als Syntax, als Prosa in alemannisch-deutscher Sprache. Das ist das Geschenk der Heimat an den Dichter. Tatsächlich hat Sebald einen zweiten Ritorno di Selisse in Patria geschrieben, als er zusammen mit seinen engsten alemannischen Freunden Logis in einem Landhaus genommen hatte. Die in der angelsächsischen Rezeption oft spürbare leichte Verwunderung und Irritation darüber, daß Sebald nicht den Weg Conrads und Nabokows gegangen und ein englischsprachiger Autor geworden ist, beruht erkennbar auf einem Mißverständnis.
Paul Bereyter, die zweite Erzählung im Band Die Ausgewanderten, ist zum einen eine Fortsetzung der Erzählung Il Ritorno in Patria aus den Schwindel.Gefühlen, insofern als Telemach-Selysses nach seinem Umzug aus W(ertach) nach S(onthofen) im Jahre 1952 ebendort beim jüdischen Lehrer Bereyter in die Schule gegangen ist, und zum anderen eine Art Vorentwurf zum Austerlitzbuch, von dem die Erzählung jedenfalls mehr vorwegnimmt als das geschehen ist durch die Lebensgeschichte der Susi Bechhöfer, die sich bekanntlich beklagt hat, Sebald habe ihr mit Austerlitz eben diese ihre Lebensgeschichte gestohlen.
Zunächst scheint es, Paul Bereyter sei nicht als Heinkehrer zu behandeln, der ja zunächst fortgegangen sein muß, um heimkehren zu können, denn es wird angegeben, er habe mit gewissen Unterbrechungen stets in S. und unter der Bevölkerung von S. gelebt (AW 43). Es zeigt sich aber, daß die gewissen Unterbrechungen in der Summe letztendlich eine stattliche Anzahl von Jahren ergeben. Die Jahre 1935 bis 1939 hat Bereyter als Hauslehrer in Frankreich verbracht, von 1939 bis 1945 war er Soldat an den verschiedenen Fronten und von 1972 bis 1984, dem Jahre seines Todes durch Selbstmord auf den Schienen, war er bei Mme. Landau in Yverdon in der Schweiz. Hier habe Paul eine Beweislast zusammengetragen, deren im Verlauf der Prozeßführung zunehmendes Gewicht ihn endgültig zu der Überzeugung brachte, daß er zu den Exilierten und nicht nach S. gehörte (AW 87f).
Mme. Landau, der in der Erzählung die Deutung Bereyters überlassen bleibt, soweit Deutung überhaupt möglich ist, hält die Rückkehr Pauls nach Deutschland im Jahr 1939 wie auch die Rückkehr nach S. bei Kriegsende und seine Wiederaufnahme des Lehrerberufes ebendort, wo man ihm zuvor die Tür gewiesen hatte, für Aberrationen (AW 83). Natürlich war er aber einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen - ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte. Was aber den Paul 1939 und 1945 vor allem anderen zur Rückkehr bewegte, wenn nicht gar zwang, das war die Tatsache, daß er von Grund auf ein Deutscher gewesen ist, gebunden an dieses heimatliche Voralpenland und an dieses elende S., das er eigentlich haßte und in seinem Innersten samt seinen ihm in tiefster Seele zuwideren Einwohnern am liebsten zerstört und zermahlen hätte. (AW 84). – Wollte man psychologisieren, so könnte man natürlich auf den Einfall kommen, Sebald habe in der Gestalt des Paul Bereyter sein eigenes Dilemma gebannt, um sich dann den Abschied von W. so leicht zu ermöglichen, wie in Il Ritorno in Patria vorgeführt – freilich, wie bereits hervorgehoben, mit der Sprache des heimatlichen Voralpenlandes im Gepäck.
Unterschiedliche Motive tauchen auf hinter dem Tode Paul Bereyters auf den Bahngleisen, so die einsetzende Erblindung, auch wenn er selbst diese Erklärung zurückweist und von einer anderen Welt spricht, in die er im Begriff sei einzutreten, zwar enger als die bisherige, von der er sich aber doch ein gewisses Gefühl des Komforts verspreche (AW 88). Letztlich sind es die Traumatisierungen als Jude in der Nazizeit und auch weiterhin in der Nachkriegszeit, die ihm die Heimat und mit ihr die Welt verleidet haben.
Schon in der Kindheit hatte sich bei Paul Bereyter eine Eisenbahnmanie eingestellt und einen Onkel zu der Bemerkung veranlaßt, er werde noch einmal bei der Eisenbahn enden. Der makabre posthume Sinn dieser Prophezeiung wird Mme. Landau zu einem sinistren Zeichen: Wahrscheinlich weil ich den Ausdruck bei der Eisenbahn enden in der von dem Onkel gemeinten landläufigen Bedeutung nicht sogleich begriff, hatte er auf mich die dunkle Wirkung eines Orakelspruchs. Die von meinem momentanen Fehlverständnis ausgelöste Beunruhigung - heute ist es mir manchmal, als hätte ich damals wirklich ein Todesbild gesehen – war aber nur von der kürzesten Dauer und ging über mich hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug (AW 92f). Zum Schluß eines dieser schön auffliegenden Bilder, das fast über jedem Prosagrund zu schön wäre, von einer provokanten Schönheit geradezu, die sich aber von den aus den dichten Erzählmustern Sebalds aufsteigenden Geistern tragen lassen kann. Das Bild zeigt uns, was Literatur kann: Ahnungen erzeugen, und was sie nicht kann und auch nicht versuchen sollte: erklären.
Von den verschiedenen Heimkehrern in den Ringen des Saturn soll uns nur der Major Georges Wyndham Le Strange beschäftigen. Le Strange hatte während des Letzten Krieges in dem Panzerabwehrregiment gedient, das am 14. April 1945 das Lager von Bergen Belsen befreite, sei aber unmittelbar nach dem Waffenstillstand, aus Deutschland zurückgekehrt, um die Verwaltung der Güter seines Großonkels in der Grafschaft Suffolk zu übernehmen (RS 77f). Le Strange kehrt in die Heimat zurück und bleibt dort für immer. Mit seiner Hausfrau Penelope, die auf den Namen Florence hört, lebt er unter sehr spezifischen Regeln zusammen. Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Le Strange diese Haushälterin, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme (RS 80). Ein Freiergesindel gilt es nicht zu vertreiben, aber das Hausgesinde wird entlassen: Nachforschungen haben ergeben, daß Le Strange gegen Ende der fünfziger Jahre nach und nach sein Hauspersonal ebenso wie seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter entlassen hatte, daß er von da an in dem großen Steinhaus allein mit der schweigsamen Köchin aus Beccles lebte und daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und zerfielen (RS 80f). Le Strange, schon vom Namen her seltsam und wunderlich, wird zunehmend zu einem seltsamen Heiligen im engeren Wortsinn, zum Heiligen Franz: Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln, die teils am Boden um ihn herliefen, teils in der Luft ihn umflogen (RS 82) – und zum Heiligen Hieronymus: Einmal im Sommer habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen habe gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste (RS 82f).
Sebald dürfte mit der Religiosität Paul Bereyters im wesentlichen auch die eigene umrissen haben: Dem Paul, von dem das Gerücht ging, daß er gottgläubig sei, war offenbar nichts derart zuwider wie die katholische Salbaderei (AW 83). Völlig außer Frage steht, daß die Pisanellodoktrin der uneingeschränkten Daseinsberechtigung für Sebald auch und zwar in besonderem Maße für die Vergangenheit gilt, für die Toten nicht weniger als für die Lebenden. Tendenzen, die das zeitgenössische Theater dominieren, die Vergangenheit zur bloßen Staffage der Gegenwart zu machen und alte Stücke zum Nutzen der Lebenden herzurichten und umzurüsten, stoßen beim Dichter nur auf Zurückweisung und Hohn: Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte (CS 237).
Wenn Sebald Heilige bemüht, dann mit allem Ernst und mit ihrer authentischen Stimme, auch wenn diese inzwischen ins Leere geht. Der heilige Le Strange hat das Wissen seiner heiligen Vorgänger bewahrt, diese Welt kann nicht unsere Heimat sein oder sie kann es nur dann sein, wenn wir nicht von dieser Welt sind. Die Heiligen müssen weiter sprechen, da es keinen Ersatz gibt für ihre Stimme und weil ihre Stimme unverzichtbar ist, wenn nicht die pausenlosen uns von allen Seiten umstellenden heftigen Bemühungen einer Abrichtung auf gnadenlose Immanenz rundum erfolgreich sein sollen. Die von der Gegenwart unbarmherzig abgeschnittene und um ihre Gehalte gebrachte Vergangenheit gegen die Gegenwart zu richten, darin liegt Sebalds besondere Widerständigkeit.
Sebald negiert den Begriff der Heimat nicht in modischer Weise, bestätigt ihn aber auch nicht traditionalistisch. Heimat ist nur möglich in der Evokation der Heimat, die wir als Kind erlebt haben, sei es in Prag oder in W. Das Geschenk der Heimat an den Dichter ist die Sprache. Für die vier hier exemplarisch vorgeführten Heimkehrer führt die Heimkehr, der Ritorno in Patria, auf die eine oder andere Weise zum Verschwinden. Selysses verschwindet in die Worte, Paul Bereyter in den Tod, Austerlitz aus dem Buch und unserem Blickfeld und Le Strange in die ganz andere Welt der Heiligen.
L’aspettato non giunge e pur fuggono gli anni
Il Ritorno d’Ulisse in Patria hat Claudio Monteverdi seine Vertonung der Odyssee genannt, Il Ritorno in Patria ist der Titel der vierten und letzten Erzählung in Sebalds Schwindel.Gefühlen, il Ritorno di Selisse in Patria. Mit der Bearbeitung des Themas Heimkehr wäre der bislang in den kleinen Sebaldstücken überwiegend verfolgte Ansatz, von kleinen Randthemen aus eher nur verstohlene Blicke zum Zentralen hin zu wagen, sicherlich aufgegeben, denn nicht nur Selysses in den Schwindel.Gefühlen kehrt heim, auch Austerlitz ist ein Heimkehrer, die Ausgewanderten kehren auf die eine oder andere Art heim und auch nicht wenige der Figuren unter den Ringen des Saturn. Der Glaube an die Angemessenheit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenthemen hat allerdings im Verlaufe der Untersuchungen fortwährend abgenommen zugunsten der Überzeugung, Sebald habe das Pisanello zu Recht oder zu Unrecht abgelesene Programm in jedem Fall selbst umgesetzt, daß nämlich allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Blatt und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird (SG 84). Dieselbe Daseinsberechtigung: nimmt man das so ernst, wie es ernst zu nehmen ist, so würde nicht nur die Unterscheidung von Haupt- und Nebenthemen hinfällig, sondern auch die verstohlene Blicke zur Mitte hin, da es eine Mitte nicht gibt. Austerlitz wäre so sehr und so wenig ein Buch über den Holocaust wie die Ringe des Saturn ein Buch über die Seidenraupe. Für uns alle hat das Verständnis des Holocausts eine ungleiche höhere Bedeutung als das der Seidenraupen oder der Motten, Sebald hätte so wenig widersprochen wie irgendjemand sonst, seine Prosa aber ist, wie schon an anderer Stelle erfahren, Sprache in einem Ausnahmezustand, der die üblichen Hierarchien unkenntlich macht. In jedem Fall müssen alle Versuche der Offenlegung eines dominierenden monothematischen Kerns in Sebalds Werk scheitern.
Auch wenn der Titel Il Ritorno in Patria offen auf das Odysseusthema anspricht, so gibt es in Sebalds Werk naturgemäß keine Heimkehr nach Art des Odysseus, keine Wiederinbesitznahme der Heimat unter den Zeichen Rache und blutiger Verheerung. Die Thematik hat sich in vielen Fällen verschoben hin zu einem vaterlosen Telemach, der bei der Rückkehr des Heimatgeländes allenthalben auf die Spuren der blutigen Verheerung durch die Väter stößt. Auch sind Heimat und Fremde nicht klar unterscheidbar und vertauschen leicht ihre Plätze. In der Fremde erlebt Austerlitz-Selysses im Inneren eines flüchtigen Augenblicks das heimatliche und friedvolle Zusammenleben mit Penelope: Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. (AUS 207) Die beiden, Penelope und Selysses, gehen in einer Atmosphäre tiefer Vertrautheit, aufgehoben in der liebevollen Nähe des anderen still ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Dann und wann geht der Blick auf die Gasse hinaus, offenbar, wenn schon nicht Ithaka so doch eher Delft als London, ein Interieur a la Vermeer oder de Hoch.
Die Heimat, Prag, ist demgegenüber die völlige Fremde. Eine Unebenheit im Pflaster und damit eine Reverenz an Proust leitet die Erinnerung ein: Und vollends wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend, die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung (AUS 220).
Es mochte eine Stunde verstrichen sein, bis ich endlich im obersten Stock an der rechtsseitigen Wohnung läutete, und dann eine halbe Ewigkeit, wie es mir vorkam, bis ich drinnen etwas sich rühren hörte und die Tür aufgemacht wurde (AUS 223).Das große, gänzlich unglaubliche Wunder, die Eltern würden öffnen, geschieht nicht, das kaum geringere schon: Die Tür wurde aufgemacht, und Věra Ryšanová stand mit gegenüber. Věra Ryšanová hatte seinerzeit an der Prager Universität Romanistik studiert, war Jacquot Austerlitz’ Kinderfrau, fast schon Zweitmutter gewesen und wird jetzt gleichsam zur Hebamme bei Austerlitz’ zweiter Geburt.
Wie durch ein Wunder wird die Muttersprache zurückgewonnen, das Tschechische, von dem keine Spur mehr vorhanden schien: Jeden, dvě, tři, zählte Věra, und ich, sagte Austerlitz, zählte weiter, čtyři, pět, šest, sedm (AUS 234). Skurrile, gutmütige Gestalten tauchen auf aus der Vergangenheit, einfache Leute, deren Platz in dieser Welt noch nie jemand so selbstverständlich und großartig hat reklamieren können wie Sebald. Zwar bilden sie in gewisser Weise einen Hintergrund für die eigentlichen Sebaldhelden und dokumentieren die Wirklichkeit der Heimat, die diese suchen, zugleich aber manifestiert sich an ihnen die Pisanellodoktrin der durch nichts geschmälerten Daseinsberechtigung, so am Schneider Moravec: Am wichtigsten aber sei es gewesen, den Augenblick nicht zu versäumen, da Moravec die Nadel und den Faden, die große Schere und sein sonstiges Handwerkszeug weglegte, den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumte, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte und das abwechslungsweise und je nach der Saison aus etwas Weichkäse mit Schnittlauch, ein paar Tomaten mit Zwiebeln, einem geräucherten Hering oder aus gesottenen Kartoffeln bestand (AUS 228); und an der Tante Otýlie, die ein alleinstehendes Fräulein gewesen ist von einer beängstigend zierlichen Statur. Sie trug stets ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze und bewegte sich in einer kleinen Wolke aus Maiglöckchenduft (AUS 233).
Die Suche nach der Mutter führt Austerlitz nach Theresienstadt, aber wenn er eine wahrnehmbare Spur von ihr finden sollte, so ist es ein Gesicht in einem alten Film, das für einen Sekundenteil im Bildhintergrund auftaucht. Die Suche nach dem Vater führt Austerlitz nach Paris und von dort aus weiter: Als ich mich kurz vor meiner Abreise aus Paris mit Austerlitz noch einmal zum Morgenkaffee am Boulevard Auguste Blanqui traf, sagte er mir, daß er tags zuvor eine Nachricht erhalten habe, derzufolge Maximilian Aychenwald Ende 1942 in dem Lager Gurs interniert gewesen sei, und daß er, Austerlitz, diesen weit drunten im Süden in den Vorbergen der Pyrenäen gelegenen Ort nun aufsuchen müsse (AUS 409f). Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, und ich werde also weitersuchen nach meinem Vater und auch nach Marie de Verneuil. Offenbar hofft Austerlitz am Ende seiner Suche nach Kindheit und Heimat genug von sich selbst gefunden zu haben, um Marie nicht mehr nur als ein Schatten, sondern als er selbst begegnen zu können. Die Konstellation Austerlitz / Marie de Verneuil ist allerdings derjenigen Bereyter / Mme Landau (s.u.) derart ähnlich, daß der Ausgang vorgezeichnet scheint. Wir werden es nicht erfahren, denn an dieser Stelle verläßt Austerlitz das Buch, und wir verlieren ihn auf immer aus den Augen.
Ganz anders il ritorno di Selisse in patria. Selysses muß nicht investigativ nach der Heimat forschen, sie ist ihm wohlvertraut, aber er hat sie seit langem gemieden. Der auf die Initiale W(ertach) geschrumpfte Heimatort ist nicht Ziel einer Reise, der Reise, wie man im Falle des Austerlitz sagen muß, er wird sozusagen im Vorbeifahren aufgesucht: In einem weit oberhalb von Bruneck , am Ende der Vegetation gelegenen Hotel faßte ich eines nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war (SG 187). Von einer Suche nach den Eltern kann nicht die Rede sein, sie werden vielmehr in ihrer Wohnzimmereinrichtung versteckt: Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte (SG 210ff). Selysses selbst verwandelt sich in seinen Großvater: Er hatte mich, wie der Lukas mir sogleich sagte, mehrfach aus dem Engelwirt herauskommen sehen, aber nicht gewußt, wo er mich hintun sollte. Wenn er es sich jetzt recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus seiner Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen (SG 229f). Deutlicher als der heimgekehrte Selysses gerät das Kind, gleichsam Selysses als Telemach, in das Blickfeld, aber auch Telemach sieht man überwiegend nur auf Gängen durch das Dorf, allein oder an der Hand des Großvaters, als Bindeglied im Panoptikum der Dorfbewohner, die, wie der Schneider Moravec und die Tante Otýlie in Prag, für uns unvergeßlich bleiben werden: der einbeinigen Engelwirtpächter Sallaba und seine Frau, die Engelwirtin Rosina Zobel, die Ambrosersippe, die Tanten Babett und Bina, der Jäger Hans Schlag und die schöne Ramona, die Mediziner Piazolo und Rambousek. Telemach selbst tritt ein wenig deutlicher hervor in seinen Frühbegegnungen mit den verschiedenen Sparten der Kunst.
Nahezu einen Monat lang, bis Anfang Dezember, hatte ich mich in W. aufgehalten, tags darauf saß ich, W. schon unendlich weit hinter mir, im Expreß nach Hoek van Holland und fuhr durch das mir von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land (SG 275f).
Selysses war lediglich heimgekehrt, um endgültig zu verschwinden und seinen wahren Platz zu finden, als Person sozusagen ausgehöhlt und an den äußeren Rand der Welt gedrückt, um von dort aus zurückzukehren als allgegenwärtige Stimme, als Stil, als Syntax, als Prosa in alemannisch-deutscher Sprache. Das ist das Geschenk der Heimat an den Dichter. Tatsächlich hat Sebald einen zweiten Ritorno di Selisse in Patria geschrieben, als er zusammen mit seinen engsten alemannischen Freunden Logis in einem Landhaus genommen hatte. Die in der angelsächsischen Rezeption oft spürbare leichte Verwunderung und Irritation darüber, daß Sebald nicht den Weg Conrads und Nabokows gegangen und ein englischsprachiger Autor geworden ist, beruht erkennbar auf einem Mißverständnis.
Paul Bereyter, die zweite Erzählung im Band Die Ausgewanderten, ist zum einen eine Fortsetzung der Erzählung Il Ritorno in Patria aus den Schwindel.Gefühlen, insofern als Telemach-Selysses nach seinem Umzug aus W(ertach) nach S(onthofen) im Jahre 1952 ebendort beim jüdischen Lehrer Bereyter in die Schule gegangen ist, und zum anderen eine Art Vorentwurf zum Austerlitzbuch, von dem die Erzählung jedenfalls mehr vorwegnimmt als das geschehen ist durch die Lebensgeschichte der Susi Bechhöfer, die sich bekanntlich beklagt hat, Sebald habe ihr mit Austerlitz eben diese ihre Lebensgeschichte gestohlen.
Zunächst scheint es, Paul Bereyter sei nicht als Heinkehrer zu behandeln, der ja zunächst fortgegangen sein muß, um heimkehren zu können, denn es wird angegeben, er habe mit gewissen Unterbrechungen stets in S. und unter der Bevölkerung von S. gelebt (AW 43). Es zeigt sich aber, daß die gewissen Unterbrechungen in der Summe letztendlich eine stattliche Anzahl von Jahren ergeben. Die Jahre 1935 bis 1939 hat Bereyter als Hauslehrer in Frankreich verbracht, von 1939 bis 1945 war er Soldat an den verschiedenen Fronten und von 1972 bis 1984, dem Jahre seines Todes durch Selbstmord auf den Schienen, war er bei Mme. Landau in Yverdon in der Schweiz. Hier habe Paul eine Beweislast zusammengetragen, deren im Verlauf der Prozeßführung zunehmendes Gewicht ihn endgültig zu der Überzeugung brachte, daß er zu den Exilierten und nicht nach S. gehörte (AW 87f).
Mme. Landau, der in der Erzählung die Deutung Bereyters überlassen bleibt, soweit Deutung überhaupt möglich ist, hält die Rückkehr Pauls nach Deutschland im Jahr 1939 wie auch die Rückkehr nach S. bei Kriegsende und seine Wiederaufnahme des Lehrerberufes ebendort, wo man ihm zuvor die Tür gewiesen hatte, für Aberrationen (AW 83). Natürlich war er aber einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen - ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte. Was aber den Paul 1939 und 1945 vor allem anderen zur Rückkehr bewegte, wenn nicht gar zwang, das war die Tatsache, daß er von Grund auf ein Deutscher gewesen ist, gebunden an dieses heimatliche Voralpenland und an dieses elende S., das er eigentlich haßte und in seinem Innersten samt seinen ihm in tiefster Seele zuwideren Einwohnern am liebsten zerstört und zermahlen hätte. (AW 84). – Wollte man psychologisieren, so könnte man natürlich auf den Einfall kommen, Sebald habe in der Gestalt des Paul Bereyter sein eigenes Dilemma gebannt, um sich dann den Abschied von W. so leicht zu ermöglichen, wie in Il Ritorno in Patria vorgeführt – freilich, wie bereits hervorgehoben, mit der Sprache des heimatlichen Voralpenlandes im Gepäck.
Unterschiedliche Motive tauchen auf hinter dem Tode Paul Bereyters auf den Bahngleisen, so die einsetzende Erblindung, auch wenn er selbst diese Erklärung zurückweist und von einer anderen Welt spricht, in die er im Begriff sei einzutreten, zwar enger als die bisherige, von der er sich aber doch ein gewisses Gefühl des Komforts verspreche (AW 88). Letztlich sind es die Traumatisierungen als Jude in der Nazizeit und auch weiterhin in der Nachkriegszeit, die ihm die Heimat und mit ihr die Welt verleidet haben.
Schon in der Kindheit hatte sich bei Paul Bereyter eine Eisenbahnmanie eingestellt und einen Onkel zu der Bemerkung veranlaßt, er werde noch einmal bei der Eisenbahn enden. Der makabre posthume Sinn dieser Prophezeiung wird Mme. Landau zu einem sinistren Zeichen: Wahrscheinlich weil ich den Ausdruck bei der Eisenbahn enden in der von dem Onkel gemeinten landläufigen Bedeutung nicht sogleich begriff, hatte er auf mich die dunkle Wirkung eines Orakelspruchs. Die von meinem momentanen Fehlverständnis ausgelöste Beunruhigung - heute ist es mir manchmal, als hätte ich damals wirklich ein Todesbild gesehen – war aber nur von der kürzesten Dauer und ging über mich hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug (AW 92f). Zum Schluß eines dieser schön auffliegenden Bilder, das fast über jedem Prosagrund zu schön wäre, von einer provokanten Schönheit geradezu, die sich aber von den aus den dichten Erzählmustern Sebalds aufsteigenden Geistern tragen lassen kann. Das Bild zeigt uns, was Literatur kann: Ahnungen erzeugen, und was sie nicht kann und auch nicht versuchen sollte: erklären.
Von den verschiedenen Heimkehrern in den Ringen des Saturn soll uns nur der Major Georges Wyndham Le Strange beschäftigen. Le Strange hatte während des Letzten Krieges in dem Panzerabwehrregiment gedient, das am 14. April 1945 das Lager von Bergen Belsen befreite, sei aber unmittelbar nach dem Waffenstillstand, aus Deutschland zurückgekehrt, um die Verwaltung der Güter seines Großonkels in der Grafschaft Suffolk zu übernehmen (RS 77f). Le Strange kehrt in die Heimat zurück und bleibt dort für immer. Mit seiner Hausfrau Penelope, die auf den Namen Florence hört, lebt er unter sehr spezifischen Regeln zusammen. Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Le Strange diese Haushälterin, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme (RS 80). Ein Freiergesindel gilt es nicht zu vertreiben, aber das Hausgesinde wird entlassen: Nachforschungen haben ergeben, daß Le Strange gegen Ende der fünfziger Jahre nach und nach sein Hauspersonal ebenso wie seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter entlassen hatte, daß er von da an in dem großen Steinhaus allein mit der schweigsamen Köchin aus Beccles lebte und daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und zerfielen (RS 80f). Le Strange, schon vom Namen her seltsam und wunderlich, wird zunehmend zu einem seltsamen Heiligen im engeren Wortsinn, zum Heiligen Franz: Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln, die teils am Boden um ihn herliefen, teils in der Luft ihn umflogen (RS 82) – und zum Heiligen Hieronymus: Einmal im Sommer habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen habe gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste (RS 82f).
Sebald dürfte mit der Religiosität Paul Bereyters im wesentlichen auch die eigene umrissen haben: Dem Paul, von dem das Gerücht ging, daß er gottgläubig sei, war offenbar nichts derart zuwider wie die katholische Salbaderei (AW 83). Völlig außer Frage steht, daß die Pisanellodoktrin der uneingeschränkten Daseinsberechtigung für Sebald auch und zwar in besonderem Maße für die Vergangenheit gilt, für die Toten nicht weniger als für die Lebenden. Tendenzen, die das zeitgenössische Theater dominieren, die Vergangenheit zur bloßen Staffage der Gegenwart zu machen und alte Stücke zum Nutzen der Lebenden herzurichten und umzurüsten, stoßen beim Dichter nur auf Zurückweisung und Hohn: Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte (CS 237).
Wenn Sebald Heilige bemüht, dann mit allem Ernst und mit ihrer authentischen Stimme, auch wenn diese inzwischen ins Leere geht. Der heilige Le Strange hat das Wissen seiner heiligen Vorgänger bewahrt, diese Welt kann nicht unsere Heimat sein oder sie kann es nur dann sein, wenn wir nicht von dieser Welt sind. Die Heiligen müssen weiter sprechen, da es keinen Ersatz gibt für ihre Stimme und weil ihre Stimme unverzichtbar ist, wenn nicht die pausenlosen uns von allen Seiten umstellenden heftigen Bemühungen einer Abrichtung auf gnadenlose Immanenz rundum erfolgreich sein sollen. Die von der Gegenwart unbarmherzig abgeschnittene und um ihre Gehalte gebrachte Vergangenheit gegen die Gegenwart zu richten, darin liegt Sebalds besondere Widerständigkeit.
Sebald negiert den Begriff der Heimat nicht in modischer Weise, bestätigt ihn aber auch nicht traditionalistisch. Heimat ist nur möglich in der Evokation der Heimat, die wir als Kind erlebt haben, sei es in Prag oder in W. Das Geschenk der Heimat an den Dichter ist die Sprache. Für die vier hier exemplarisch vorgeführten Heimkehrer führt die Heimkehr, der Ritorno in Patria, auf die eine oder andere Weise zum Verschwinden. Selysses verschwindet in die Worte, Paul Bereyter in den Tod, Austerlitz aus dem Buch und unserem Blickfeld und Le Strange in die ganz andere Welt der Heiligen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen