Montag, 16. Februar 2009

Europa

Fläche: 10.180.000 km²
Bevölkerung: 700.000.000
Länder: 50



Hat man bei der Erstlektüre von Austerlitz die voreilige Einschätzung als Bahnhofsroman für unzureichend erkannt, scheint eine Charakterisierung als Europaroman möglich: fortwährend sind Austerlitz und Selysses unterwegs auf dem europäischen Territorium. Das Gesamtwerk vor Augen, ist zu bestätigen, daß Selysses Europa nicht verläßt, mit der Ausnahme von zwei investigativen Besuchen in den USA im Fall Ambros Adelwarth; in andere ferne Weltgegenden läßt Selysses sich von Reiseberichten oder mit Hilfe der Imagination tragen.


Aber auch Europa wird längst nicht in allen seinen Winkeln durchforscht, ähnlich wie im Comic auf das kleine namenlose gallische Dorf in der Bretagne, scheint das mehr als Zehnmillionen Quadratkilometer umfassende Land bei Sebald auf das kleine Dorf W. am Alpenrand zu schrumpfen. Von dort aus werden die südlichen Nachbarländer Österreich, die Schweiz und Norditalien erfaßt, vom restlichen Deutschland eigentlichen nur die Bahnlinien über Nürnberg und Bonn nach Seebrügge zur Fährstation, im Westen Frankreich und Belgien, im Osten die Tschechei, von Großbritannien der Osten Englands, Manchester, London und Wales, kurze Abstecher nach Irland. Weithin unberücksichtigt bleiben die iberische Halbinsel, Fuß und Schaft des Stiefels, die Balkanhalbinsel, die slawischen und die skandinavischen Länder. Schon als Leser ostwestfälischer Extraktion findet man sich im Schatten der Dichtung und kann vermutlich froh darüber sein, denn die Urteile des Dichters sind oft hart und ungerecht, so heißt es etwa über die Belgier: Tatsächlich gibt es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie sonst nur selten antrifft.

Ersichtlich ist Selysses nicht unterwegs im Auftrag des Präsidenten der Europäischen Union mit Dienstsitz in Brüssel. Er nimmt nicht teil an den offiziellen Formen sogenannter Vergangenheitsbewältigung und auch nicht an den Versuchen, die Welt durch sprachliche Korrektheit zu bereinigen. Eine Entscheidung über die Richtigkeit oder Falschheit von Worten und Aussagen, die nicht im Bereich der Kunst getroffen wurde, ist keine Vorgabe für die Dichtung. Die Menschen, die wir uns angewöhnt haben, ohne schon zu einer endgültigen Lösung vorgedrungen zu sein, als Farbige, Dunkelhäutige, als Afrikaner oder vielleicht doch besser als Afroafrikaner - denn von den Buren müssen sie aus den verschiedensten Gründen und vor allem im eigenem Interesse unterscheidbar bleiben - zu bezeichnen, diese Menschen also treten bei Sebald hartnäckig als Neger auf, ohne daß irgendein Leser, ob er sie nun im Allgäu, im Londoner U-Bahnschacht oder im Staate New York antrifft, meinen könnte, ihnen würde dabei ein Leid geschehen. Dichtung steht nicht in einer Reihe und auf einer Ebene mit Journalismus, Geschichtsschreibung oder gar mit der Sprache der Politik. Alle vorgefundenen Sprachformen dienen der Dichtung nur als Material, ähnlich wie dem Wort die Phoneme, und müssen von ihr umgeformt und zerstört werden, und auch die Gerechtigkeit der Dichtung ist nicht von dieser Welt, sondern eine solche ihrer Sprache. Bei Sebald bedingen die vollständige Ausgewogenheit der Sprache und die Unausgewogenheit der Urteile einander. Thomas Bernhard, in vielem durchaus ein Geistesverwandter, hat Salzburg und andere Städte immer auf das Übelste beschimpft, um dann Warschau in unergründliche Gnadenwillkür als die Schöne und Aufregende und Unheimliche zu preisen. - Werfen wir nach diesen Klarstellungen einen Blick auf die einzelnen Länder.

Deutschland
Ein ausgewogenes Urteil über Deutschland ist von Sebald kaum mehr zu erwarten als ein ausgewogenes Urteil von Thomas Bernhard über Österreich. Wo immer etwas die äußere Gestalt eines Urteils annimmt, ist es negativ. Die Vergangenheit ist nicht zu bewältigen, geschweige denn wieder gut zu machen. Die dichterische Wahrheit wird geklärt in der kleinen Ortschaft W. und der nur um einiges größeren Ortschaft S. Hier treffen wir auf die Paul Bereyter in der tiefsten Seele zuwideren Einwohner, die er, offenbar im Einverständnis mit dem Dichter, am liebsten zerstört und zermahlen gesehen hätte, und wir treffen eingangs der Erzählung Ambros Adelwarth und gleichfalls in Ritorno in Patria oder auch in den Moments Musicaux die so liebevoll geschilderten kleinen Leute, die im Grunde die gleichen sind. Eins steht neben dem anderen und hebt sich nicht auf, das ist die Gerechtigkeit des Dichters.
Prominente Kollegen seiner Herkunftsart wie Keller, Hebel und Robert Walser hat Sebald sich ins Landhaus eingeladen.

Belgien
Belgien geht es ähnlich, es geht Deutschland voraus. Im Fünften Teil der Ringe des Saturn wird Belgien das größte Verbrechen des 19. Jahrhunderts, begangen im Kongo, zuerkannt. Die Eingangspassage von Austerlitz bestätigt dann noch einmal Belgiens führende Position beim Aufbranden des auf kolonialer Ausbeutung beruhenden Kapitalismus. Mittlerweile ist Brüssel Hauptstadt und Zentrum des unierten Europas. Den belgischen Gegenwartsmenschen kann da nur wenig Gerechtigkeit widerfahren. Sie mögen empirisch schön, hochgewachsen und wohlgestalten sein, im Auge des Dichters sind sie verkrüppelt und häßlich, wie Rumpele Stilt im Märchen der Brüder Grimm: erlogen und ungerecht, aber erhellend und wahr.

England
Die Vorstellung eines größten, alle anderen überragenden Verbrechen ist keine Vorstellung Sebalds. Daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen ist, gilt auch für Verbrechen und Leid. Gibt man dem durch die Naziverbrechen verursachten Leid den Wert Hundert und dem der britischen Luftangriffe den Wert Acht, so neigen viele aus Furcht vor dem Subtraktionswert Zweiundneunzig dazu, es bei Hundert zu belassen, obwohl jeder, auch wenn er kein Dichter ist, leicht erkennen könnte, daß der Additionswert Hunderundacht der einzig richtige ist. Im Interesse des Additionswertes beschränkt Sebald seine Hinweise auf die Luftangriffe nicht auf seinen Essay, sondern geht auch im dichterischen Werk wiederholt darauf ein.
Der Luftkrieg dominiert aber in keiner Weise das englische Motiv im Werk. In der Erzählung Max Aurach treten wir ein in das neue Jerusalem der tausend rauchenden Schlote, Manchester, inzwischen nur noch mit Mühe unter den Lebenden. Die Ringe des Saturn sind, sieht man von der nach der Seitenzahl allerdings wohl überwiegenden gedanklichen Ausflügen des Dichters ab, ganz dem Südosten Englands gewidmet, der seine Zeit aufblühender Seebäder und Paläste der Ricchissimi ebenfalls längst hinter sich hat. Die Ausflüge sind nicht zu geringem Teil solche zu Größen des englischen Dichten und Denkens, Thomas Browne, Roger Casement, Robert Swinburne, Edward FitzGerald.
London tritt eigentlich nur auf, soweit es als Verkehrsknotenpunkt unvermeidbar ist. Wie Norddeutschland wird auch Nordengland, samt Schottland, mit Schweigen übergangen.

Wales
Wales ist nicht England, Dafydd Elias alias Jacques Austerlitz lernt neben Englisch auch Kymrisch. Der Dichter wird das Land bereist haben, es ist ihm aber nicht so vertraut wie seine zweite Heimat in Südostengland. Einiges ist vom Korsikaprojekt nach Wales versetzt worden, der Totenkult und das Weiterleben der kleinwüchsigen Toten. Wales ist ein keltisches Zauberland mit dem ohne verstehbaren Grund gottverfluchten Haus des Predigers des Predigers Elias in Bala und dem Paradies Andromeda Lodge bei Barmouth, Aufenthaltsort Adela Fitzpatricks, neben Marie de Verneuil und Mme Landau eine der überirdischen Frauengestalten Sebalds, die, nach den Worten des Fliegers Douglas in einem der im Marbacher Katalog veröffentlichten Korsikafragmente, die beinahe metaphysische Ausnahmen unter den Liebesgeschichten begründen können.


Irland
Die Familie Ashbury, Achter Teil der Ringe des Saturn, mußte aus Irland fliehen und wirft einen Blick zurück auf die Unruhen. Sie habe damals, so Mrs. Ashbury, von den einesteils tragischen und andernteils lächerlichen irischen Verhältnissen, die ihr bis heute fremd geblieben seien, nicht die geringste Ahnung gehabt. Offenbar war das Niederbrennen der Häuser das wirksamste Mittel zur Ausräucherung und Vertreibung der mit der verhaßten englischen Staatsgewalt, sei es zu Recht oder zu Unrecht, identifizierten Familien. – Als Mrs. Ashbury mit ihrer Geschichte zu Ende war, schien es mir, als bestünde ihre Bedeutung für mich in der unausgesprochenen Aufforderung, ich möge bei ihnen bleiben und ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben teilen.

Österreich
Zu Beginn von All’estero hält sich Selysses in seelisch verwirrtem und leidendem Zustand in Wien auf, zu Beginn von Ritorno in Patria begibt er sich, innerlich gefestigt allerdings nicht ohne äußeres Unbill, von Südtirol durch Tirol nach W. in Allgäu. Die Tonart auf dem Weg überläßt er, ohne die eigene aufzugeben, Thomas Bernhard. Ist der damit auch verantwortlich für das immerwährende grauenvollste Wetter in Innsbruck, für die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht oder für die Ausgeschämtheit der Bedienerin im Bahnhofsrestaurant, die Selysses auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann das Maul anhängt? – Selysses wird im Fortgang der Erzählung noch hinreichend mit den Allgäuern auf seiner Seite der Grenze zu schaffen haben.
In den Aufsatzsammlungen die Beschreibung des Unglücks und Unheimliche Heimat hat Sebald sich zu verschiedenen Facetten des österreichischen Wesens geäußert.


Norditalien
Die Beschränkung auf Norditalien weist nicht hin auf Vorlieben des Dichters innerhalb der apenninischen politischen Parteien. Zum einen erfordert die Tiefe der Erfassung thematische und topographische Eingrenzung, und zum anderen sind die Schwindel.Gefühle ein Buch der Alpen und ihre nördlichen und südlichen Gestade.
Sebald schickt Stendhal, den notorischen Freund Italiens, voraus, aber der verliert sich in den Unübersichtlichkeiten der Liebe und kann nicht helfen. Für Selysses wird der erste Italienaufenthalt zu einer fortgesetzten Flucht. In Venedig erinnert er sich an Grillparzers Reiseunlust und an Casanovas Entkommen, mit knapper Not, aus den Bleikammern des Dogenpalastes. Nur im Giardino Giusti zu Verona findet er kurzen Frieden, als er beim Hinausgehen eine Zeitlang ein weißes türkisches Taubenpaar beobachtet, das mehrmals hintereinander mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhob, eine kleine Ewigkeit stillstand in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelte, ohne sich selbst zu rühren um die schönen Zypressen herum, von denen die eine oder andere vielleicht an die zweihundert Jahre schon gestanden hatte an ihrem Platz. Dann aber ist es für Selysses selbst soweit, er rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber, geht in eine hellerleuchtete Bar, läßt sich ein Taxi rufen, fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet mit dem Nachtzug nach Innsbruck.
Der zweite Aufenthalt, sieben Jahre später, gelingt dann um einiges besser. Länger andauernden Alltagsfrieden findet er in Limone im Gasthof der Wirtin Luciana Michelotti. In Mailand treten dann wieder starke Schwindelgefühle auf.
Stendhals Quartiermachen war doch nicht umsonst, das Buch leuchtet im Licht Italiens, das sich schließlich als Strohhut und extravagante Kopfbedeckung um das Haupt des Ritter Georg legt: San Giorgio con cappella di paglia, ein Bildnis Pisanellos.


Korsika
Das Korsikaprojekt wird man sich im ausgeführten Zustand ähnlich vorstellen wie die Ringe des Saturn, auf den Spuren Napoleons wird man in alle Gegenden der Welt und bis nach Rußland getragen. Die veröffentlichten Nachlaßfragmente sind so suggestiv, daß man Menschen trifft, die zuvor nichts wußten von der Insel und nun ganz und gar entschlossen sind hinzufahren. Es war einmal eine Zeit, da war Korsika ganz von Wald überzogen. Stockwerk um Stockwerk wuchs er Jahrtausende hindurch im Wettstreit mit sich selber bis in eine Höhe von fünfzig Meter und mehr, und wer weiß, vielleicht hätten sich größere und größere Arten herausgebildet, Bäume bis in den Himmel hinein. Bereits die Kleinsterzählung La cour de l’ancienne école aber nährt die Sehnsucht nicht wenig. Korsika gehört zu den vergessenen und daher in der Poetologie Sebalds eher heilsamen Randlagen Europas, andererseits brach hier der erste moderne Sturm europäischer Einigung aus. Wir sahen beim Fenster hinaus, über die Mauer des Schulhofs hinweg und über den weißen Rand der Lagune, hinein in das blendende Licht, das weit draußen zitterte über dem tyrrhenischen Meer.


Schweiz
Von der wirklich wunderschönen Schweiz ist in der Erzählung Max Aurach die Rede. Es ist das Land der Bergsteiger und Flieger, die in ihrer Sehnsucht zu Tode stürzen. Es ist die späte Residenz Nabokows, das Land Lucy Landaus. Michael Parkinson, der, wenn die Ärmel abgestoßen und die Ellbogen durchgewetzt waren selbst zu Nadel und Faden griff und einen Lederbesatz aufnähte, macht in der Sommervakanz regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland, manchmal auch durch den Jura oder durch die Cevennen. Es ist eher als die Deutsch- die Welschschweiz, das Land Rousseaus, il me semble que sous les ombrages d’une forêt je suis oublié, libre et paisible comme si je n’avais plus d’ennemies. Vielleicht ist das Landhaus auf Schweizer Boden gebaut. – Die Feinde freilich ruhten nicht.

Frankreich
Hätte Mitterand nicht die neue von der Place Valhubert aus zu erreichende Nationalbibliothek erbauen lassen, wäre Paris, und mit ihm Frankreich, alles in allem wohl auf der guten Seite und es bleibt dort schließlich auch so. Es ist die Stadt und das Land der Marie de Verneuil, die Stadt der alten Nationalbibliothek in der rue Richelieu, in dem Marie Austerlitz, dessen seltsame Traueranwandlung sie bemerkt haben mußte, einen Kassiber zuschiebt, mit dem sie ihn auf einen Kaffee einlädt; die Stadt, in dem Austerlitz’ Vater vorläufig untertauchen konnte. Nahe der neuen Nationalbibliothek befindet sich die Gare d’Austerlitz, der Schicksalsbahnhof: Ich weiß nicht, was das alles bedeutet und werde wohl weiter suchen nach meinem Vater und auch nach Marie de Verneuil.
Der europäische Teil der Erzählung Ambros Adelwarth endet im französischen Deauville, und es sieht so aus, als habe George Grosz an Prousts Balbec gearbeitet.

Tschechei
Als die Stadt Kafkas ist Prag ohnehin sakrosankt. Im Tagebuch lesen wir unter dem 24.12.1911 anläßlich der Beschneidung von Kafkas Neffen: Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz, der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führt die Sache sehr geschickt aus. Selysses widerfährt in der Stadt eigentlich nur Gutes. Schon die Staatsarchivbeamtin Tereza Ambrosová ist mehr als freundlich, und dann findet er Vêra wieder und kann aus dem Nichts heraus Tschechisch reden. Anders ist es naturgemäß in Theresienstadt: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub – aber der Vernichtungswunsch zielt natürlich nicht auf Böhmen, sondern auf das, was dem Land angetan wurde und auf die, die es taten. Marienbad schließlich, Stadt der verschlungenen Minnen Goethes - dies herrliche Geflecht aber will Selysses nicht recht gefallen, und auch die beinahe metaphysische Liebesgeschichte der Marie de Verneuil scheitert vorerst an dem von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen Austerlitz.


Das sind alles nur Andeutungen, es gäbe noch viel zu sagen, und es könnte sich als sinnvoll erweisen, für das eine oder andere Land ein eigenes Kapitel zu schreiben.

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