Freitag, 13. Februar 2009

Ohne Literatur keine Literatur

Ship of Old


Nehmen wir an, der SPIEGEL müßte bei seiner Bestsellerliste auf die Unterscheidung von Sachbuch und Belletristik verzichten, weil es Belletristik bislang nicht gibt, und nun, in diesem Augenblick, tritt der erste Belletrist auf den Plan. Die Wahrscheinlichkeit, daß schon bald ein zweiter hinzukommt, ist hoch, ebenso die, daß der zweite ein Leser des ersten ist. Der erste Belletrist ist aber unter keinen Umständen vom Himmel gefallen, alle Anfänge sind verborgen. An den Rändern der Sachbuchliteratur, die es nach unserer Annahme bereits gibt, werden sich vielmehr vermehrt belletristische Elemente gebildet haben – nehmen wir unsere Fiktion für einen Augenblick historisch ernst: an den Rändern der theologischen Sachbuchliteratur -, und so gesehen besteht auch die Möglichkeit, daß der erste und der zweite Belletrist unabhängig voneinander über die Abbruchkante gefallen sind. In jedem Fall gilt, keine Literatur ohne Literatur, und sogleich ist auch schon die literarischen Physik in Gang gesetzt, der Sog, es gleich oder ähnlich zu machen, der Wille, es ganz anders zu machen, und jeder Winkelgrad dazwischen, das ganze noch einmal gebrochen durch die zunächst dunkle und wortlose Existenz des Autors und die gesellschaftlichen Anordnungen seiner Zeit.


Sebalds Werk könnte, läßt man die Chronologie der Bände ein wenig außer Acht, als eine getreue Nachzeichnung dieses Planspiels gelesen werden. Er hat literaturwissenschaftliche Sachbücher geschrieben, im Handel sind Beschreibung des Unglücks und Unheimliche Heimat, Aufsätze mit zunehmend belletristischen Anklängen. Die Abbruchkante bildet sich in Logis in einem Landhaus, das Rousseaukapitel fällt ohne Einschränkung in die Sparte Belletristik. Der Übergang zum ersten Prosaband, Schwindel.Gefühle, ist absolut fließend, Rousseau bekommt Gesellschaft von Stendhal und Kafka. In den Ringen des Saturn gesellen sich Thomas Browne, Joseph Conrad, Swinburne, Chateaubriand und Edward FitzGerald hinzu.

Neben den zahlreichen offenen Bezügen zu Schriftstellerkollegen stehen nicht weniger zahlreiche verdeckte Bezüge. Kafka war bereits mit dem Gracchusmotiv tief in das Gesamtgefüge der Schwindel.Gefühle eingedrungen. Die Darstellung des Brüssler Justizpalastes in Austerlitz ist weithin kafkaesk, die Schilderung des Aufbruches in einem Hotel oberhalb von Bruneck und der Ankunft in Innsbruck zu Beginn des Ritorno in Patria ist bernhardesk, das Feuerchen, das Kellers Mutter unterhält und das von fast gar nichts brannte, wie wir es leibhaftig in Logis in einem Landhaus zu sehen bekommen hatten, findet sich wieder als kellereskes Feuerchen in der Stube des Onkels Evelyn: Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte (AUS 131). Der Name Austerlitz ist vor allem einer Stelle aus Kafkas Tagebüchern entlehnt, ebenso der Aufbruch des Knaben Jacques vom Prager Bahnhof und das Flattern der weißen Taschentücher, gleich dem einer auffliegenden Taubenschar, mit denen die zurückbleibenden Eltern ihren Kindern nachwinkten. Mit einer entsprechenden Erudition ließen sich fraglos noch zahlreiche wenn nicht zahllose Stellen bei Sebald als Literaturtransformationen erkennen, und bei keiner Stelle kann man sich völlig sicher sein, daß sie nicht einen solchen Hintergrund hat.

Wenn also, wie angenommen, Literatur in jedem Fall, wenn auch nie ausschließlich, auf Literatur zurückzuführen ist, so scheint bei Sebald doch eine extreme Auslegung vorzuliegen. In jedem Absatz seines Prosawerks scheint er sich in die Abhängigkeit eines der Meister zu begeben, zu denen er als Literaturwissenschaftler aufschaut, und gewinnt dabei doch die größte Freiheit. Trittfest, wie er ist, kann er sich in jede schmale Gasse über holpriges Pflaster begeben, ohne zu stolpern, und wenn er leicht stolpern sollte wie Proust (AUS 220), so nur, um diesen folgend die Erinnerung in Gang zu setzen und aufblühen zu lassen. Man spricht vom Sebaldsound, ein etwas unglücklicher Ausdruck, läßt er doch an Leute wie James Last oder Phil Spector denken, nicht die gleiche Liga. Worauf der Ausdruck wohl hinaus will, ist der souveräne, alle Vielfalt übergreifende, modulationsreiche und doch nahezu uniforme Vortrag, erreicht durch die ständige Anwesenheit des Autors, die freilich fast gänzlich eine Anwesenheit in Stil und Satzbau bei Abwesenheit der Person ist.

Literatur aus Literatur, populär ist das nicht, wie Sebald ja auch kein populärer Autor ist. In Romanen und ähnlichem suchen Leser das wahre, wenn nicht gar das pralle Leben. Das Verhältnis von Literatur und Leben ist aber unübersichtlich. Literatur besteht aus dunklen Zeichen vor hellem Hintergrund – man kann das auch umkehren, ohne daß sich viel ändert – andererseits könnten wir ohne Sprache nicht sagen, daß wir leben, und ohne literarische Bilder hätten wir keinen Maßstab für das wahre oder auch pralle Leben. Auch so werden wir und nie sicher und rätseln an unserem Leben solange wir leben, aber nur die Literatur ermöglicht es überhaupt, die Rätselfragen zu stellen. – Vielleicht glauben Leute wie Medicus und Braun, Sebald damit Gutes zu tun, wenn sie seine Literatur nicht auf Literatur, sondern auf ein ordentliches Trauma zurückführen.

Während in den meisten Fällen Literatur eher hinter den Kulissen auf Literatur einwirkt, hat Sebald seinen Confrères offen Logis im Landhaus seiner Prosa gewährt. Häuser, seien es vermeintliche Prachtbauten der Moderne, bescheidene Kapellen oder eben Landhäuser, können bei Sebald jederzeit zu Schiffen werden: man meint, durch irgendein Versehen auf das Deck der Berengaria oder eines anderen Ozeanriesen geraten zu sein und wäre wohl nicht im erstaunt, wenn auf einmal, unter Aufdröhnen eines Nebelhorns, die Horizonte der Stadt Paris gegen den Pegel der Türme im Gleichmaß mit dem die Wellenberge durchquerenden Dampfer sich höben und senkten - die Berengaria also oder auch nur die Krummenbacher Kapelle: ich setzte mich eine Zeitlang hinein in dieses gemauerte Gehäuse, und bald kam es mir vor, als befände ich mich in einem Kahn auf der Fahrt und überquerte das große Wasser – die Berengaria, halten wir uns an sie, rettet nicht nur die Bände der Pariser Bibliothek, sondern die Dichter, die einfachen Menschen, wie den Schneider Moravec oder die Tante Otýlie, und die Sebaldmenschen wie Austerlitz und Bereyter, die Heiligen, die Tiere, auch Motten und Seidenwürmer, und die Pflanzen in den Gärten und auf den Feldern, eine wahre Arche Sebald. Die Dichter aber stehen nicht nur auf Deck, sondern stecken, wie in einer Wurzel Jesse, auch in den Planken, die aus den Sätzen des Textes gemacht sind. Von weither kommend unter geblähten Segeln, mit einem Kapitän so unergründlich wie Ahab, mit Kafka als erstem Offizier und einer auserlesenen Crew, wie es nie eine gab, hat das Schiff Fahrt aufgenommen und wirft eine Bugwelle so gewaltig, daß sie in die seichten Gewässer schlägt und so manches Boot, das sich auf Weltmeeren der Moderne wähnt in Not und Havarie bringt. Denn niemand sollte den antimodernen Modernismus Sebalds – für Marinetti hat er sich nicht offenkundig erwärmt und ihn wegen erwiesener Unverträglichkeit des Wesens auch nicht an Bord genommen - für harmlos und betulich halten, er ist von einer lautlosen und siegreichen Aggressivität. - Mächtige Bugwelle, schäumendes Kielwasser, wie alle Kunst eine Spur von Stolz und Vergeblichkeit auf dem Weltenmeer.

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