Samstag, 16. Oktober 2010

Schulfreunde

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich kenne ihn schon seit meiner frühen Jugend. Er ist um zwei oder drei Jahre älter als ich, aber dieser Altersunterschied ist wenig zur Geltung gekommen, heute scheine sogar ich der Ältere zu sein, er selbst sieht es nicht anders an. Doch hat sich das nur allmählich entwickelt. Er stammte aus einer vielköpfigen Kleinhäuslerfamilie und hatte, soweit man wußte, keinen richtigen Vater. An nichts hatte er so viel Interesse, wie an allem, was mit Viktualien, mit ihrer Zubereitung und Einverleibung zu tun hatte. Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung. Wir waren neu am Ort und ich zum ersten Mal auf dem Weg zur neuen Schule. Es war ein dunkler Winternachmittag, ich war ein kleiner Junge bestimmt für die dritten Volksschulklasse. Als ich um eine Straßenecke bog, sah ich ihn, er war stark, untersetzt und hatte ein knochiges und dennoch fleischiges Gesicht, er sah ganz anders aus als heute, körperlich hat er sich seit seiner Kindheit bis zur Unkenntlichkeit verändert. An einer Leine zerrte er einen jungen scheuen Hund. Ich blieb stehn und sah zu, nicht aus Schadenfreude, nur aus Neugierde, ich war sehr neugierig, alles reizte mich. Er aber nahm das Zuschauen übel und sagte: Kümmere dich um deine Sachen, Dummkopf. Nur eine halbe Stunde später trafen wir und in der Schule wieder. Er machte, wie ich bald herausfand, die dritte Klasse zum zweiten Mal. Er war sichtlich um seine Arbeit bemüht, doch ging sie ihm unendlich langsam vonstatten. Sogar als die Nachzügler längst fertig waren, hatte er nicht mehr als ein Dutzend Kreuzchen auf seinem Papier. Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte ich geschwind sein fragmentarisches Werk zu Ende, wie ich in den fast zwei Jahren, die wir von diesem Tag an noch nebeneinander saßen, einen Gutteil seiner Rechen- und Schreibarbeiten erledigte, was sich vor allem deshalb sehr leicht bewerkstelligen ließ, weil wir, wie der Lehrer Kopfschüttelnd bemerkte, die gleiche schweinische Handschrift hatten, mit dem Unterschied, daß er nicht geschwind und ich nicht langsam schreiben konnte. Eines Tages hat er mir eröffnet, daß er Koch werden würde, und Koch ist er dann auch geworden, und zwar, wie ohne weiteres gesagt werden kann, ein Koch von Weltrenommé.


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