Sonntag, 17. Oktober 2010

Flucht aus Riva

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Als Beyle und Mme Gherardi wenige Tage später in den kleinen Hafen von Riva einliefen, saßen zwei Knaben auf der Kaimauer zum Würfelspiel. Ein schwerer alter Kahn - verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen – hatte anscheinend auch vor kurzer Zeit erst angelegt. Zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen trugen gerade eine Bahre an Land, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme Gherardi fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug aus Riva abzureisen, und als Beyle Einwände machte, sprang sie, die ja nichts anderes war als eine Ausgeburt seiner Wünsche und Gedanken und dabei während der ganzen Reise schon seinen Gedanken und Wünschen wenig fügsam und aufgeschlossen, ohne ein weiteres Wort an Land und lief die Landstraße entlang, ich sah sie nicht, erzählte Selysses später, ungläubig noch immer, Zeuge dieses Vorfalls gewesen zu sein und keinesfalls restlos überzeugt, daß sich alles so abgespielt hatte, ich sah sie nicht, ich merkte nur, wie sie im Laufen schwang, wie ihr Schleier flog, wie ihr Fuß sich hob, ich saß am Feldrand und blickte in das Wasser des kleinen Baches. Sie durchlief die Dörfer, Kinder standen in den Türen, sahen ihr entgegen und sahen ihr nach.

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