Montag, 18. Oktober 2010

Jene Wilden

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Kaum halbwegs wiederhergestellt sei er mit dem erstbesten Schiff nach Südamerika gegangen, um sich dort als Diamanten- und Goldsucher durchzubringen. Eine Zeitlang lebte er in der grünen Wildnis bei einem Stamm kleiner, kupferglänzender Leute, die eines Tages, ohne daß auch nur ein Blatt sich gerührt hätte, neben ihm aufgetaucht waren wie aus dem Nichts. Er nahm ihre Gewohnheiten an und stellte, so gut es ging, ein Lexikon ihrer Sprache zusammen, von der an dem Institut für Sprachwissenschaften in Sao Paulo nicht ein einziges Wort verzeichnet ist. Neben der Sprechversion hat die Sprache eine Schreiversion, die fast nur aus den in unendlichen Variationen betonten und akzentuierten Laut A besteht, aus Kó Xiáisoxái Baósaí wird, um nur ein Beispiel zu geben, Ká, Kaákakaá, kaákaá. Dabei ist das Leben dieser Leute, wie ihm schon bald klar wurde, in keiner Weise einfach oder leicht. Diese sogenannten Wilden haben kein anderes Verlangen haben als zu sterben oder vielmehr sie haben nicht einmal mehr dieses Verlangen, sondern der Tod hat nach ihnen Verlangen und sie geben sich hin oder vielmehr sie geben sich nicht einmal hin, sondern sie fallen in den Ufersand und stehn niemals mehr auf – jenen Wilden gleiche ich sehr, dachte er, und habe auch Stammesbrüder ringsherum, aber die Verwirrung ist auch hier so groß, das Gedränge wogt auf und ab bei Tag und Nacht und die Brüder lassen sich von ihm tragen. Das nennt man hierzulande einem unter den Arm greifen, solche Hilfe ist hier immer bereit; einen, der ohne Grund umsinken könnte und liegenbliebe, fürchtet man wie den Teufel, es ist wegen des Beispiels, es ist wegen des Gestankes der Wahrheit, der aus ihm steigen würde. Gewiß, es würde nichts geschehn, einer, zehn, ein ganzes Volk könnte liegenbleiben und es würde nichts geschehn, weiter ginge das mächtige Leben, noch übervoll sind die Dachböden von Fahnen, die niemals aufgerollt gewesen sind, dieser Leierkasten hat nur eine Walze, aber die Ewigkeit in eigener Person dreht die Kurbel. Und doch die Angst! Wie tragen doch die Leute ihren eigenen Feind, so ohnmächtig er ist, immer in sich. Später, in sein Heimatland zurückgekehrt, begann er mit dem Malen von Bildern. Das Hauptmotiv, dessen er sich dabei bediente, war das des Buchstabens A, den er in die von ihm aufgetragene Farbfläche hineinkratzte, immer gleich und doch sich nie wiederholend, aufsteigend und abfallend in Wellen, wie ein lang anhaltender Schrei der Todessehnsucht.

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