Montag, 18. Oktober 2010

Irgendwo in Südböhmen

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Irgendwo in Südböhmen auf einer waldigen Anhöhe, etwa zwei Kilometer von einem Fluß entfernt, den man leicht von hier aus sehen würde, wenn nicht der Wald die Aussicht benähme, liegt ein kleines Haus. Dort wohnt ein alter Mann. Äußere Würde des Alters ist ihm nicht zuteil geworden. Er ist klein, das eine Bein ist gerade, das andere aber stark nach außen gebogen. Das Gesicht ist schütter, aber überall von weißem, gelbem, hie und da auch wohl schwärzlichem Bart bewachsen, die Nase ist plattgedrückt und ruht auf der ein wenig vorgeworfenen Oberlippe, von ihr fast geschlossen, auf. Die Lider hängen tief. Diese alles in allem niederdrückende Erscheinung hat er nicht immer gehabt, war in seiner Jugend vielmehr ein stattlicher Mensch gewesen. Auf Wunsch seines Vaters hatte er in Brünn und Prag Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er seinen wenigen Besuchern mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht, auf Korridoren und Treppen, die nirgendwo hinführen, in türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. Geschwächt und geradezu vernichtet von diesem Leben, war er in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen.

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