Samstag, 9. Oktober 2010

Klangfarbe

Fast lautlose Klage

Noch im ersten Drittel des monumentalen Werkes vermerkt der Icherzähler in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands, der einerseits unermüdlich und unerschrocken für Freiheit und Revolution kämpft und andererseits Dichter werden will, eine Klangfarbe habe sich eingestellt, die es ihm möglich erscheinen ließe, allen Gedanken und Erfahrungen Ausdruck zu geben. Im Umkehrschluß ist zu vermuten, ohne die gefundene Klangfarbe ließe sich weniges nur oder gar nichts ausdrücken und ferner: ohne die Klangfarbe zerfiele das zum Ausdruck Gebrachte zu Asche.

Sebald wird ein bestimmter, für ihn charakteristischer Sound nachgesagt, mit Klangfarbe recht gut ins Deutsche übertragen. Nicht alle aber können den Sound hören oder die Klangfarbe wahrnehmen. In jedem Fall scheint es so, als hielten viele Interpreten für wahr, alle vom Thema des Holocausts Affizierten Schriftsteller, Améry, Simon, Weiss, Sebald, hätten den gleichen Sound, nämlich den notgedrungen tonlosen des Holocaust, und folglich müsse man sich um Fragen dieser Art bei ihnen weiter nicht kümmern. Aber schon die Klangfarben bei Sebald und Weiss sind so unterschiedlich wie nur denkbar. Erscheint uns Sebald als der Dichter der lächelnden Sätze, so steigt in den tausendzweihundert steinernen Seiten der Widerstandsästhetik weder dem Autor noch einer seiner zahllosen Figuren je ein Lächeln in die Augen, und kein Mundwinkel bewegt sich.

Tonlos ist er nicht, der Widerhall der lautlosen und obendrein längst schon verstummten Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln auf einem Fresco des Malers Giotto erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille der Kapelle des Enrico Scrovegni zu Padua. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können?

Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, daß die Einschätzung als wunderbar und Wunderbarstes nach den Regeln der Sprache allein auf die Färbung der Flügel zu beziehen ist und damit ein Motiv aufgreift, das bei Sebald auch in der gleichsam säkularisierten Form auftritt: Die Farbgebung Federkleids der Enten, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzige mögliche Antwort erschienen auf die Fragen, die mich von jeher bewegten. So könnte auch Weiss gedacht haben, dem als Maler, der er auch gewesen ist, sicher klar war, daß sich Antworten ebenso gut wie aus einer Klangfarbe aus einem Farbklang ergeben können und ohne das eine oder das andere oder ein drittes von dieser Art alle Antworten der wichtigen Art ausbleiben müssen.

Der aufmerksame Leser mit Hang zum Peniblen ist nicht unbedingt der beste, im anstehenden Fall mag es ihm an Gespür dafür fehlen, daß das Wunderbare auf den gesamten Absatz und die lautlose Klage in der Stille der Kapelle ausstrahlt. Wenn in dem Pisanello zugeschriebenen Prinzip, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird, auch ein Darstellungsprinzip auch der Prosa Sebalds zu sehen ist; wenn Thomas Browne als Bewegungsideal der Prosa abgelesen wird, daß es ihr gelinge, von der Erde abzuheben mitsamt ihrer Fracht, um sich höher und höher tragen zu lassen wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, damit selbst den Leser ein Gefühl der Levitation ergreift; wenn das also richtig ist, so kann vielleicht der Beschreibung des Frescos in der Kapelle des Enrico Scrovegni ein Hinweis auf die angestrebte Klangfarbe der Prosa entnommen werden: es ist die der schönen, fast lautlosen Klage in einem stillen Raum. Wer außer Selysses hat die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde gesehen in den Engelsflügeln, wer hat ähnlich tief die Klage der Engel empfunden und wer getraut sich, ihre Klage als Klangfarbe seiner Prosa wahrzunehmen, wo sie doch nach verbreiteter Auffassung bei einem sogenannten prime speaker of the Holocaust nur als anstößig gelten müßte. Tatsächlich sind entsprechende Vorwürfe erhoben worden. Läßt man aber die abwegige Einordnung als prime speaker of the Holocaust fallen, kann man fortfahren in den Überlegungen.

Natürlich hat Sebalds Prosa weder den Farbklang noch die Klangfarbe des spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen von Giotto gemalten Freskos. Über Sebalds Welt schweben keine Engel, wir hören ihre Klage nicht, sie hören nicht die unsrige und können sie auch nicht weiterleiten, da der Adressat verloren gegangen ist. Sebalds Klageton ist der einer Menschheit, die mit ihrer Klage allein zurecht kommen muß. Abprallend von der Wand, hinter der einst das Absolute vermutet und benannt wurde, ändert sie ihre Klangfarbe. Ein Verlust des Wunderbaren und Schönen aber ist bei Sebald nicht zu beklagen, auch wenn der Himmel offenbar verloren ging und die Menschen auf Hilfe nicht hoffen können.

Bei Flaubert wird beobachtet, wie die Erkundung der Seelenzustände auf die intimste und zugleich diskreteste Weise vonstatten geht, ohne aber, wäre hinzuzufügen, daß der Autor seine tatsächliche oder vorgeschobenen Kälte für einen Augenblick ablegt, umso auffälliger, wenn wir ihn durch die Fenster der ungleich angenehmer temperierten Räume Sebalds betrachten. Hier, in diesen Räumen, herrscht die Atmosphäre eines milden Spotts, wie er dem Zustand einer verlassenen Menschheit zukommt, in dem wir uns gegenseitig in unserer Schwäche sehen und erkennen, ein milder Spott über die umfassende Unzulänglichkeit der Existenz. Der Spott hat dabei nur das winzige Ausmaß der hellgrünen Spuren der Veroneser Erde, er verleiht der Milde Würze und Halt und ist nichts anderes als eine Form der Liebe, heilsamer Spott auch, wenn etwa Kafka, der nichts mehr fürchtet als die auf ihn gerichteten Augen der anderen, erzählt wird, die geschlossen auf dem Marktplatz von Desenzano versammelte Bevölkerung schaue allein auf ihn. Die Liebe verführt keinen Augenblick zu der Annahme, alles sei gut, und beeinträchtigt nicht das Wissen, daß kaum etwas gut ist. Die wunderbare lautlose Klage kann nicht verstummen, und die Liebe gilt längst nicht allen, sondern nur denen, die die ungute Welt in gewisser Weise verlassen haben, den Soldaten in der Kohorte des Georgius Miles. Aber auch alle anderen können sich trösten, denn früher oder später, das steht außer Frage, werden auch sie sich aus der Welt zurückziehen müssen.

Die Schwindel.Gefühle haben wir gelesen als einen einzigen Versuch, Kafka und mit ihm all die anderen Untröstlichen aufzuheitern. Auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn meiner Reise, heißt es zu Beginn der Ringe des Saturn, wurde ich, in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit in das Spital eingeliefert wurde, wo ich dann, in Gedanken zumindest, begonnen habe mit der Niederschrift der nachstehenden Seiten. Bei Einbruch der Dämmerung war es mir irgendwie gelungen auf allen vieren die Wand zu erreichen und trotz der damit verbundenen Schmerzen mich aufzurichten, indem ich mich an der Fensterbrüstung mühsam emporzog. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von der ebenen Erde erhoben hat, stand ich gegen die Glasscheibe gelehnt und mußte unwillkürlich an die Szene denken, in der der arme Gregor, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd aus seinem Kabinett herausblickt in undeutlicher Erinnerung, wie es heißt, an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen.

Der Blick geht zurück zu Giottos Engeln, die in ihrer gedrungenen Aerodynamik durchaus etwas Hummelhaftes haben. Nicht selten haben wir auch einen Käfer beobachtet, wie er, ganz doch, wie es schien, auf seine wenig behende Art der Vorwärtsbewegung am Boden verwiesen, unversehens innehielt für einen Augenblick, um dann zu unseren erstaunten Erschrecken einfach fortzufliegen. Vielleicht geht es darum, die Fenster aufzustoßen und Gregor an seine vergessene Flugfähigkeit zu erinnern. Selysses erlernt wenige Seiten später von Thomas Browne die Kunst der Levitation und mit ihm lassen wir uns höher und höher tragen zu lassen Segler auf den warmen Strömungen der Luft über dem Osten Englands und bis nach Afrika und China. Außer Frage steht, daß Kafka dabei ist, zumal beim Ausflug nach China, wo er sich in seinen Schreibträumen so gern und kenntnisreich aufgehalten hat, auch wenn er und seine Erlebnisse in diesem Buch weiter nicht weiter erwähnt werden.

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