Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich stand auf dem Balkon meines Zimmers. Es war sehr hoch, ich zählte die Fensterreihen, es war im sechsten Stockwerk. Unten waren Rasenanlagen, es war ein kleiner von drei Seiten geschlossener Platz in Paris. Ich ging ins Zimmer hinein, die Tür ließ ich offen, es schien zwar erst März oder April zu sein, aber der Tag war warm. In einer Ecke stand ein kleiner, sehr leichter Schreibtisch, ich hätte ihn mit einer Hand heben und in der Luft herumschwingen können. Jetzt aber setzte ich mich zu ihm, Tinte und Feder war bereit, ich wollte eine Ansichtskarte schreiben. Ich griff unsicher, ob ich eine Karte hätte, in die Tasche, da hörte ich einen Vogel und bemerkte, als ich herumsah, auf dem Balkon an der Hausmauer einen Vogelbauer. Gleich ging ich wieder hinaus, ich mußte mich auf die Fußspitzen heben, um den Vogel zu sehn, es war ein Kanarienvogel. Dieser Besitz freute mich sehr. Ich drückte ein Stückchen grünen Salats, der zwischen den Gitterstäbchen steckte, tiefer hinein und ließ den Vogel daran knabbern. Dann wandte ich mich wieder dem Platz zu, rieb die Hände und beugte mich flüchtig über das Geländer. Jenseits des Platzes in einem Mansardenzimmer schien mich jemand mit einem Operngucker zu beobachten, wahrscheinlich, weil ich ein neuer Mieter war, das war kleinlich, aber vielleicht war es ein Kranker, dem die Fensteraussicht die Welt ist. Da ich in den Taschen doch eine Karte gefunden hatte, ging ich ins Zimmer, um zu schreiben, auf der Karte war allerdings keine Ansicht von Paris, sondern nur ein Bild, es hieß Abendgebet, man sah einen stillen See, im Vordergrund ganz wenig Schilf, in der Mitte ein Boot und darin eine Frau mit ihrem Kind im Arm. Weder der Kanarienvogel noch das Bild der Frau kamen mir aus dem Sinn, als Marie, die überdies der Frau auf dem Bild in einer schwer zu fassenden Weise glich, mit mir in den nachfolgenden Wochen und Monaten oft im Luxemburggarten, in den Tuilerien und im Jardin des Plantes spazierengegangen ist, in das Palmenhaus hinein und wieder aus dem Palmenhaus hinaus, über die verschlungenen Wege des Alpengartens oder auch durch das trostlose Zoogelände. Ich entsinne mich mehr noch als an alles andere an eine Damwildfamilie, die in einer graslosen, staubigen Einfriedung und zugleich verängstigt unter einer Heuraufe beieinander stand, und daran, daß die eingesperrten Tiere und wir, ihr menschliches Publikum, uns anblickten à travers une brèche d’incompréhension, wie Marie in einer mir unvergeßlich gebliebenen Weise sagte.
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Ich stand auf dem Balkon meines Zimmers. Es war sehr hoch, ich zählte die Fensterreihen, es war im sechsten Stockwerk. Unten waren Rasenanlagen, es war ein kleiner von drei Seiten geschlossener Platz in Paris. Ich ging ins Zimmer hinein, die Tür ließ ich offen, es schien zwar erst März oder April zu sein, aber der Tag war warm. In einer Ecke stand ein kleiner, sehr leichter Schreibtisch, ich hätte ihn mit einer Hand heben und in der Luft herumschwingen können. Jetzt aber setzte ich mich zu ihm, Tinte und Feder war bereit, ich wollte eine Ansichtskarte schreiben. Ich griff unsicher, ob ich eine Karte hätte, in die Tasche, da hörte ich einen Vogel und bemerkte, als ich herumsah, auf dem Balkon an der Hausmauer einen Vogelbauer. Gleich ging ich wieder hinaus, ich mußte mich auf die Fußspitzen heben, um den Vogel zu sehn, es war ein Kanarienvogel. Dieser Besitz freute mich sehr. Ich drückte ein Stückchen grünen Salats, der zwischen den Gitterstäbchen steckte, tiefer hinein und ließ den Vogel daran knabbern. Dann wandte ich mich wieder dem Platz zu, rieb die Hände und beugte mich flüchtig über das Geländer. Jenseits des Platzes in einem Mansardenzimmer schien mich jemand mit einem Operngucker zu beobachten, wahrscheinlich, weil ich ein neuer Mieter war, das war kleinlich, aber vielleicht war es ein Kranker, dem die Fensteraussicht die Welt ist. Da ich in den Taschen doch eine Karte gefunden hatte, ging ich ins Zimmer, um zu schreiben, auf der Karte war allerdings keine Ansicht von Paris, sondern nur ein Bild, es hieß Abendgebet, man sah einen stillen See, im Vordergrund ganz wenig Schilf, in der Mitte ein Boot und darin eine Frau mit ihrem Kind im Arm. Weder der Kanarienvogel noch das Bild der Frau kamen mir aus dem Sinn, als Marie, die überdies der Frau auf dem Bild in einer schwer zu fassenden Weise glich, mit mir in den nachfolgenden Wochen und Monaten oft im Luxemburggarten, in den Tuilerien und im Jardin des Plantes spazierengegangen ist, in das Palmenhaus hinein und wieder aus dem Palmenhaus hinaus, über die verschlungenen Wege des Alpengartens oder auch durch das trostlose Zoogelände. Ich entsinne mich mehr noch als an alles andere an eine Damwildfamilie, die in einer graslosen, staubigen Einfriedung und zugleich verängstigt unter einer Heuraufe beieinander stand, und daran, daß die eingesperrten Tiere und wir, ihr menschliches Publikum, uns anblickten à travers une brèche d’incompréhension, wie Marie in einer mir unvergeßlich gebliebenen Weise sagte.
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