Sonntag, 9. Oktober 2011

Nach der Vorstellung

Ich weiß nicht zu sagen, warum wir in Paris ein Theater aufgesucht haben, um dort Schillers Räuber, Les Brigands, zu sehen. Im Foyer stand ein Herr, der zwei Damen unterhielt. Er hatte eine ausgezogene, abgenützte Gesichtshaut und trug einen Frackanzug, der etwas lose hing und der, wenn er nicht neu vom Schneider wäre, hier nicht getragen würde und besser in ein Historienstück gepaßt hätte. Er ließ das Monokel fallen und nahm es wieder auf, klopfte, wenn das Gespräch stockte unsicher mit seinem Stock auf. Er stand immer da mit Armzuckungen, wie wenn er jeden Augenblick die Absicht hätte, mit ausgestrecktem Arm seinen Damen mitten durch die Menge Platz zu machen. Von dem Stück habe ich im Grunde dann nicht viel gesehen, im Dunkel des Parketts fühlte ich mich vielmehr für die längste Zeit zurückversetzt in den in einem Wirtshaus untergebrachten Veranstaltungssaal meiner Geburtsortes. Sicher ein halbes dutzendmal bin ich in dort unter der teilweise bis aus den Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen, um dieses eine Stück, Die Räuber, zu sehen. Immer habe ich damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen. Die Tiefe unseres frühen literarischen Erlebens läßt sich später auch mit einem vielleicht tausendmal besseren Buch oder einer tausendmal kühneren Inszenierung nicht wieder erreichen. Nach der Vorstellung, auf dem Platz, wurde uns nach der Hitze im Theater, wo ich die heiße Luft durch das offene Hemd an meine Brust gefächelt hatte, die Nachtluft, das Sitzen im Freien, das Ausstrecken der Beine auf das Trottoir hinaus besonders bewußt, trotzdem die erleuchtete große Teaterfacade mit den Seitenlichtern der Kaffeehäuser des Theaters ausreichte, den kleinen Platz, besonders seinen Boden bis unter die Tischchen hin, wie ein Zimmer zu beleuchten. Wir hingen jeder unseren Gedanken nach.

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