In einem Interview mit dem Spiegel unterscheidet Sebald zwischen der bürgerlichen Person, dem Schriftsteller, dem Erzähler und den Figuren im Prosawerk. Damit ist er selbst, bei genauer Betrachtung, in seinem Werk und in dessen Umgebung gleich fünffach vertreten, fünffach, wenn man noch den Wissenschaftler hinzuzählt, der ja, nimmt man Wittgenstein als einen seiner Prototypen, nicht unbedingt als Bürger zu verstehen ist, und wenn man ferner den Erzähler ein weiteres Mal unter den erzählten Figuren wiederfindet. Schließlich ist es ein Unterschied, ob der Erzähler sich, wie in Ritorno in Patria oder in Paul Bereyter, auch über vergangene Zustände seines eigenen Ichs beugt, oder ob er nur als blasser Schatten Jacques Austerlitz begleitet, der selbst für lange Strecken als Icherzähler auftritt, so daß der Leser des öfteren innehält und sich fragt, wer denn nun im Augenblick eigentlich das Wort hat.
Wenn die kleinen Sebaldstücke den Bürger, den Wissenschaftler und fast auch den Schriftsteller nach Möglichkeit außen vor lassen, um sich ungestört an den mit der Chiffre Selysses belegten Erzähler zu halten, ist das nicht zu deuten als fehlendes Interesse an den anderen Facetten des Autors, die ja sämtlich in einem gleichsam bebenden Verhältnis zueinander stehen. Vielleicht ließe sich die in David Foster Wallace’s Roman über Wittgensteins Besen im System von dem genialen Seelenkundler Dr. Curtis Jay Ph.D. zur Anwendung gebrachte geniale Membranentheorie für eine genauere Beschreibung der Verhältnisse nutzen. Unbestritten in jedem Fall sind die schönen und gültigen Ergebnisse, die sich erreichen lassen, wenn man vom Autor her auf das Werk schaut. Legt nun jemand eine Darstellung von Sebalds Leben und Werk vor, der den Dichter persönlich gekannt hat, so erfaßt gerade auch den auf das dichterische Werk konzentrierten wahren Sebaldleser – eine wichtige Spezies innerhalb der von Sebald entdeckten Gattung der wahren Leser, erkenntlich daran, daß sie die neue Pariser Nationalbibliothek meiden – ein numinoser Schauder, ähnlich dem des Frommen, der die Evangelisten Matthäus und Johannes für die Apostel gleichen Namens nimmt und so zu leibhaftigen Begleitern des Herrn macht. Schickt man sich in Oberjoch an, den Sebaldweg herabzuwandern, hat man ähnliche Empfindungen wie auf dem Berg Tabor, Empfindungen numinoser Art , da die von den Zeitzeugen berührte Wirklichkeit im Vergangenheitsschlund des Unwirklichen verschwunden und für ihn, den späteren Leser, auf immer unerreichbar ist. Erleichtert und beglückt ist der wahre Sebaldleser, wenn er feststellen kann, daß U. Schütte seinen Wirklichkeitsvorsprung nicht zur Kumpanei nutzt und sich selbst ein hagiographisches Verhältnis zum Dichter bescheinigt.
Im biographischen Teil erfährt man viel Neues, naturgemäß aber nicht alles, was man gern gewußt hätte, und auch die gemeine Menschenneugier wird längst nicht in allen Punkten gestillt. So hätte mancher sich insgeheim erwünscht, das Werk wäre als Rororomonographie erscheinen, der dort genreüblichen Bebilderung wegen. So wie es ist, kennt die breitere Öffentlichkeit, um ein Beispiel zu geben, von Sebalds Familie weiterhin nur die Augenpartie der Tochter. Gern wäre man über Sebalds Verhältnis zum Vater so tiefgehend unterrichtet, wie man es im Fall Kafkas zu sein glaubt, nach dem man seinen langen Brief gelesen hat, gern wäre man bei den Reisevorbereitungen des Dichters dabei oder bei Gesprächen in der Fakultät &c.
Da das alles nicht erfüllt werden kann, mag man verleitet sein, in einem Gedankenspiel in die entgegengesetzte Richtung zu gehen und zu fragen was wäre, wenn wir es statt mit W.G. Sebald mit Traven B. Sebald zu tun hätten, von ihm gar nichts wüßten und nur auf sein Werk angewiesen wären. Da man ohnehin, wie herausgefunden wurde, zu keinem Wort, sei es Würfel oder Sebald je ein vollständiges Bild aufrufen kann, ist das Spiel in philosophischer legitim.
In einem weiteren Schritt könnte man sich vorstellen, auch das literaturkundlich-essayistische Werk sei verloren gegangen und nur die Dichtung erhalten. Man liest verschiedentlich, Sebald der Dichter langer weicher Satzmelodien sei nicht zu haben ohne Sebald den aggressiven Polemiker. Das ist richtig, solange es um den Menschen Sebald geht, die Freunde des Selysses hingegen würden nur geringen Trennungsschmerz verspüren. Um ihr Geschäft gebracht wären allerdings diejenigen, die immer wieder gern streiten, ob die Luftkriegsvorwürfe gegen die deutsche Nachkriegsliteratur stichhaltig sind und ob Andersch hinreichende Gerechtigkeit widerfährt.
In einem dritten Schritt schließlich stellen wir uns vor, das Korsikaprojekt wäre ausgeführt und stattdessen Austerlitz nicht mehr geschrieben worden. Dieser Schritt würde zu einem erheblich veränderten Bild des Dichters führen, der Holocaust wäre das mehr oder weniger kräftige Wetterleuchten am Horizont der ersten drei Prosabücher geblieben, und niemand wäre auf die Idee verfallen, Sebald als Prime Speaker des Themas anzusehen, der auch nicht viel anderes als eben dieses im Sinn gehabt habe. Es geht nicht darum, die unbezweifelbare Bedeutung des Themas in Sebalds Werk herabzumindern, wohl aber seine Überbetonung durch den Teil der Leserschaft, gegen den Nabokow Zeit seines Lebens ebenso vehement wie erfolglos vorgegangen ist, erfolglos schon wegen der Überzahl derjenigen, die dem Literarischen in der Literatur fremd gegenüber stehen, dagegen stark sind im Feld der Meinungen und weltanschaulichen Positionen und die Dichtung in größerer Nähe zum Journalismus als zur Musik vermuten.
U. Schütte widerspricht entschieden der Einschätzung von Sebald als Holocaustdichter, für manchen Geschmack aber, so mag es zunächst scheinen, nicht entschieden genug. So zitiert er zu Beginn weitgehend kommentarlos die Ansicht, Sebald habe eigentlich immer das gleiche Buch geschrieben, nur jedesmal besser, Austerlitz müßte bei dieser Rechnung dann das Opus Maximum sein. Tatsächlich verläuft eine klare und für jedermann leicht erkennbare Trennlinie zwischen den beiden Reise- und Wanderbüchern auf der einen und den zwei Lebensgeschichtenbüchern auf der anderen Seite. Die Vorliebe nicht weniger Leser kann durchaus auf der Seite der Reisebücher liegen, und nicht wenige, zu denen, wie sich später zeigt, auch U. Schütte gehört, haben in Austerlitz ausdrücklich nicht die Krönung des Werks sehen wollen. Dem wahren Sebaldleser ist angesichts der betörenden Schönheit aller vier Prosabücher ohnehin immer das Buch das liebste, das er gerade liest.
U. Schütte spricht einleitend drei, im einzelnen nicht genannten Werken des Dichters Ewigkeitswert zu und könnte, wie man zunächst vermutet und befürchtet, die Schwindel.Gefühle als Wackelkandidaten ansehen. Diese Vermutung scheint bestärkt durch den Umstand, daß eine wichtige Facette des Dichters in seiner Arbeit kaum zu Worte kommt: der scherzende Sebald. Sucht man im Erstlingswerk, dem Elementargedicht Nach der Natur nach Spuren von Humor, so sucht man lange und vergebens, in den Schwindel.Gefühlen bestimmt er dann aber nahezu die allgemeine Tonlage, wenn auch stets umschleierte und immer wieder scharf kontrastiert von dem in verschiedensten Formen einbrechenden Unheil. Man denke nur an das in wahrhaft umwerfender Weise ins Stehbuffet des Bahnhofs Venedig verlagerte Jüngste Gericht, wo der mit Wucht auf dem Tresen abgestellte Capuccino gleichbedeutend ist mit der Einweisung ins Paradies; oder an die Kafkaklone im Bus nach Riva; oder an den verlorenen Paß in Limone, an den Brigadiere mit der schwungvollen Bedienung der Schreibmaschine, an das kradbetriebene Arzt-Pfarrer-Paar in W. und viele andere mehr. Die Bus- und die Paßszene werden auch von U. Schütte ausdrücklich behandelt, nur bei der Busszene aber vermerkt er knapp einen Umschlag ins Komödiantische. Auch die von U. Schütte ausführlich behandelte Koinzidenzpoetik steht innerhalb des Zweiklangs von Scherz und tiefere Bedeutung näher beim Scherz, und, verbunden damit, ist auch das selbstironische Lächeln Sebalds über Sebald den Apokalyptiker am ENDE des Buches schwer zu übersehen. There is a mighty judgement coming on - but I may be wrong. Wahrscheinlich verdanken die Schwindel.Gefühle ihre relativ geringe Beachtung in der werkbegleitenden Literatur ihrer Heiterkeit, stört sie doch empfindlich das sorgsam um den Holocaust gerundete Bild eines immerzu untröstlichen Sebald. Ein deutscher Forscher ist beim Studium des nachgelassenen Lyrikbandes erstmals auf mögliche Anzeichen von Humor bei dem zu Lebzeiten zuverlässig humorlosen Dichter gestoßen.
In den weiteren Büchern ist die humoristische Stillage zurückgenommen, aber keineswegs verschwunden. Empfindsame glauben in fast jedem Satz ein feines Lächeln zu spüren; ein Lächeln nahe dem Geheimnis, warum wir uns in Sebalds Prosa immer wohl fühlen und guten Mutes sind, von welchen Schrecken auch gerade berichtet werden mag. Ein Lächeln das sich stellenweise immer wieder verdichtet, man denke an die Tante Theres, die bei ihren Heimatbesuchen nur eine tränenfreie Woche kennt, da sie die ersten drei Wochen fortwährend vor Freude weint und die drei letzten des schon wieder einsetzenden Trennungsschmerzes wegen (AW); an die Papierlandschaften der Dozentin Janine Rosalind Dakyns (RS); an den Lehrer Hilary, der seinen Stoff wegen eines Bandscheibenleidens auf dem Rücken am Boden liegend vorträgt (AUS). Die Beteuerung des Erzählers, die Unterrichtsgestaltung in der Rückenlage sei keineswegs komisch gewesen, ist eine der zahllosen kleineren und größeren Irreführungen und Schwindeleien in Sebalds Büchern.
Auf den dem Spaßmacher eng verwandten Schwindler geht U. Schütte zu recht immer wieder ein. Die Schwindeleien können, einmal durchschaut, dem Leser besondere Glücksgefühle bereiten. So hat der Major Wyndham Le Strange alle Merkmale einer besonders schönen und tiefen Sebalderfindung, und der Leser ist enttäuscht und fast schon verärgert, daß er ihn als eine nur reale, auf eine Zeitungsnotiz zurückgehende Gestalt ansehen soll, umso größer ist dann die Euphorie, wenn sich die Realitätsnachweise als Fiktion erweisen.
Christian Wirth hebt hervor, daß U. Schüttes Buch in einer Sprache fern vom Fachchinesisch der Germanisten geschrieben ist, eine Sprachhaltung, die Sebald verhaßt gewesen sei. Vielleicht kann man noch weitergehen und vermuten, daß Sebald Dichter geworden ist, weil er kein Germanist mehr sein, weil er nicht mehr über seine Dichterfreunde schreiben wollte, sondern mit ihnen. Dieser Schritt ist im Aufsatzbuch Logis in einem Landhaus vollzogen, und die Schwindel.Gefühle sind ein wahrer Tanz mit Stendhal und Bernhard, auch mit Giotto, Pisanello und Tiepolo, vor allem aber naturgemäß mit Kafka.
Man muß allerdings froh sein, daß nicht alle Sebald auf diesem Weg folgen können und wollen, sonst gäbe es unter anderem U. Schüttes Buch nicht zu lesen. Gerade für jemanden, der vor allem von kleineren, querschießenden Motiven, wie etwa den Empfangsdamen oder den Mitreisenden, den Sehfehlern oder den Uhren, in Sebalds Werk sich hat fesseln lassen, ist es ein besonderes Erlebnis, sich unter sorgsamer Aufsicht Schritt für Schritt durch das Gesamtwerk führen zu lassen. Viele bisherige Verständnislücken werden dabei geschlossen, nicht wenig ist zu korrigieren. Ärger kommt verschiedentlich auf, aber ausschließlich Ärger über sich selbst: warum hast du diese Einzelheit immer wieder überlesen, warum diesen Zusammenhang nicht selbst erkannt. Alles ist bemerkens- und bedenkenswert, auch wenn man dann beim Bedenken hie und da zu einer etwas anderen Auffassung neigen mag. Man schließt das Buch und kann die eigenen Sebaldlektüren weiterhin unbeschwert in der Haltung des einfachen, nur seiner Freude verpflichteten Lesers fortsetzen, dies aber mit neuer Qualität.
Ungeklärt ist die Frage nach dem vierten Buch, dem der Zutritt zur Ewigkeit verweigert bleibt. Die Möglichkeit, das Elementargedicht Nach der Natur könne ein weiteres Prosabuch aus dem verbleibenden Triumvirat stoßen, soll ausgeschlossen sein. U. Schütte bringt erhebliche Vorbehalte gegen das Austerlitzbuch vor, denen man nur beipflichten kann. Kehren wir aber zurück zu unserem Gedankenspiel, drehen es im letzten Schritt radikal um und stellen uns vor, vom unbekannten Dichter Traven B. Sebald sei nur Austerlitz erhalten: die Pforte zur Ewigkeit müßte sich öffnen, und so auch, bei gleichem Verfahren, für jedes andere der Prosabücher. U. Schütte hat denn auch, möchte man meinen, kein bestimmtes Buch im Auge gehabt, sondern aus Gründen der Vorsicht eine Art negativen Joker eingeführt, den jeder Leser nach Belieben einsetzen kann, den er aber, wenn er nur bei Sinnen ist, nicht ins Spiel bringt.
Wenn die kleinen Sebaldstücke den Bürger, den Wissenschaftler und fast auch den Schriftsteller nach Möglichkeit außen vor lassen, um sich ungestört an den mit der Chiffre Selysses belegten Erzähler zu halten, ist das nicht zu deuten als fehlendes Interesse an den anderen Facetten des Autors, die ja sämtlich in einem gleichsam bebenden Verhältnis zueinander stehen. Vielleicht ließe sich die in David Foster Wallace’s Roman über Wittgensteins Besen im System von dem genialen Seelenkundler Dr. Curtis Jay Ph.D. zur Anwendung gebrachte geniale Membranentheorie für eine genauere Beschreibung der Verhältnisse nutzen. Unbestritten in jedem Fall sind die schönen und gültigen Ergebnisse, die sich erreichen lassen, wenn man vom Autor her auf das Werk schaut. Legt nun jemand eine Darstellung von Sebalds Leben und Werk vor, der den Dichter persönlich gekannt hat, so erfaßt gerade auch den auf das dichterische Werk konzentrierten wahren Sebaldleser – eine wichtige Spezies innerhalb der von Sebald entdeckten Gattung der wahren Leser, erkenntlich daran, daß sie die neue Pariser Nationalbibliothek meiden – ein numinoser Schauder, ähnlich dem des Frommen, der die Evangelisten Matthäus und Johannes für die Apostel gleichen Namens nimmt und so zu leibhaftigen Begleitern des Herrn macht. Schickt man sich in Oberjoch an, den Sebaldweg herabzuwandern, hat man ähnliche Empfindungen wie auf dem Berg Tabor, Empfindungen numinoser Art , da die von den Zeitzeugen berührte Wirklichkeit im Vergangenheitsschlund des Unwirklichen verschwunden und für ihn, den späteren Leser, auf immer unerreichbar ist. Erleichtert und beglückt ist der wahre Sebaldleser, wenn er feststellen kann, daß U. Schütte seinen Wirklichkeitsvorsprung nicht zur Kumpanei nutzt und sich selbst ein hagiographisches Verhältnis zum Dichter bescheinigt.
Im biographischen Teil erfährt man viel Neues, naturgemäß aber nicht alles, was man gern gewußt hätte, und auch die gemeine Menschenneugier wird längst nicht in allen Punkten gestillt. So hätte mancher sich insgeheim erwünscht, das Werk wäre als Rororomonographie erscheinen, der dort genreüblichen Bebilderung wegen. So wie es ist, kennt die breitere Öffentlichkeit, um ein Beispiel zu geben, von Sebalds Familie weiterhin nur die Augenpartie der Tochter. Gern wäre man über Sebalds Verhältnis zum Vater so tiefgehend unterrichtet, wie man es im Fall Kafkas zu sein glaubt, nach dem man seinen langen Brief gelesen hat, gern wäre man bei den Reisevorbereitungen des Dichters dabei oder bei Gesprächen in der Fakultät &c.
Da das alles nicht erfüllt werden kann, mag man verleitet sein, in einem Gedankenspiel in die entgegengesetzte Richtung zu gehen und zu fragen was wäre, wenn wir es statt mit W.G. Sebald mit Traven B. Sebald zu tun hätten, von ihm gar nichts wüßten und nur auf sein Werk angewiesen wären. Da man ohnehin, wie herausgefunden wurde, zu keinem Wort, sei es Würfel oder Sebald je ein vollständiges Bild aufrufen kann, ist das Spiel in philosophischer legitim.
In einem weiteren Schritt könnte man sich vorstellen, auch das literaturkundlich-essayistische Werk sei verloren gegangen und nur die Dichtung erhalten. Man liest verschiedentlich, Sebald der Dichter langer weicher Satzmelodien sei nicht zu haben ohne Sebald den aggressiven Polemiker. Das ist richtig, solange es um den Menschen Sebald geht, die Freunde des Selysses hingegen würden nur geringen Trennungsschmerz verspüren. Um ihr Geschäft gebracht wären allerdings diejenigen, die immer wieder gern streiten, ob die Luftkriegsvorwürfe gegen die deutsche Nachkriegsliteratur stichhaltig sind und ob Andersch hinreichende Gerechtigkeit widerfährt.
In einem dritten Schritt schließlich stellen wir uns vor, das Korsikaprojekt wäre ausgeführt und stattdessen Austerlitz nicht mehr geschrieben worden. Dieser Schritt würde zu einem erheblich veränderten Bild des Dichters führen, der Holocaust wäre das mehr oder weniger kräftige Wetterleuchten am Horizont der ersten drei Prosabücher geblieben, und niemand wäre auf die Idee verfallen, Sebald als Prime Speaker des Themas anzusehen, der auch nicht viel anderes als eben dieses im Sinn gehabt habe. Es geht nicht darum, die unbezweifelbare Bedeutung des Themas in Sebalds Werk herabzumindern, wohl aber seine Überbetonung durch den Teil der Leserschaft, gegen den Nabokow Zeit seines Lebens ebenso vehement wie erfolglos vorgegangen ist, erfolglos schon wegen der Überzahl derjenigen, die dem Literarischen in der Literatur fremd gegenüber stehen, dagegen stark sind im Feld der Meinungen und weltanschaulichen Positionen und die Dichtung in größerer Nähe zum Journalismus als zur Musik vermuten.
U. Schütte widerspricht entschieden der Einschätzung von Sebald als Holocaustdichter, für manchen Geschmack aber, so mag es zunächst scheinen, nicht entschieden genug. So zitiert er zu Beginn weitgehend kommentarlos die Ansicht, Sebald habe eigentlich immer das gleiche Buch geschrieben, nur jedesmal besser, Austerlitz müßte bei dieser Rechnung dann das Opus Maximum sein. Tatsächlich verläuft eine klare und für jedermann leicht erkennbare Trennlinie zwischen den beiden Reise- und Wanderbüchern auf der einen und den zwei Lebensgeschichtenbüchern auf der anderen Seite. Die Vorliebe nicht weniger Leser kann durchaus auf der Seite der Reisebücher liegen, und nicht wenige, zu denen, wie sich später zeigt, auch U. Schütte gehört, haben in Austerlitz ausdrücklich nicht die Krönung des Werks sehen wollen. Dem wahren Sebaldleser ist angesichts der betörenden Schönheit aller vier Prosabücher ohnehin immer das Buch das liebste, das er gerade liest.
U. Schütte spricht einleitend drei, im einzelnen nicht genannten Werken des Dichters Ewigkeitswert zu und könnte, wie man zunächst vermutet und befürchtet, die Schwindel.Gefühle als Wackelkandidaten ansehen. Diese Vermutung scheint bestärkt durch den Umstand, daß eine wichtige Facette des Dichters in seiner Arbeit kaum zu Worte kommt: der scherzende Sebald. Sucht man im Erstlingswerk, dem Elementargedicht Nach der Natur nach Spuren von Humor, so sucht man lange und vergebens, in den Schwindel.Gefühlen bestimmt er dann aber nahezu die allgemeine Tonlage, wenn auch stets umschleierte und immer wieder scharf kontrastiert von dem in verschiedensten Formen einbrechenden Unheil. Man denke nur an das in wahrhaft umwerfender Weise ins Stehbuffet des Bahnhofs Venedig verlagerte Jüngste Gericht, wo der mit Wucht auf dem Tresen abgestellte Capuccino gleichbedeutend ist mit der Einweisung ins Paradies; oder an die Kafkaklone im Bus nach Riva; oder an den verlorenen Paß in Limone, an den Brigadiere mit der schwungvollen Bedienung der Schreibmaschine, an das kradbetriebene Arzt-Pfarrer-Paar in W. und viele andere mehr. Die Bus- und die Paßszene werden auch von U. Schütte ausdrücklich behandelt, nur bei der Busszene aber vermerkt er knapp einen Umschlag ins Komödiantische. Auch die von U. Schütte ausführlich behandelte Koinzidenzpoetik steht innerhalb des Zweiklangs von Scherz und tiefere Bedeutung näher beim Scherz, und, verbunden damit, ist auch das selbstironische Lächeln Sebalds über Sebald den Apokalyptiker am ENDE des Buches schwer zu übersehen. There is a mighty judgement coming on - but I may be wrong. Wahrscheinlich verdanken die Schwindel.Gefühle ihre relativ geringe Beachtung in der werkbegleitenden Literatur ihrer Heiterkeit, stört sie doch empfindlich das sorgsam um den Holocaust gerundete Bild eines immerzu untröstlichen Sebald. Ein deutscher Forscher ist beim Studium des nachgelassenen Lyrikbandes erstmals auf mögliche Anzeichen von Humor bei dem zu Lebzeiten zuverlässig humorlosen Dichter gestoßen.
In den weiteren Büchern ist die humoristische Stillage zurückgenommen, aber keineswegs verschwunden. Empfindsame glauben in fast jedem Satz ein feines Lächeln zu spüren; ein Lächeln nahe dem Geheimnis, warum wir uns in Sebalds Prosa immer wohl fühlen und guten Mutes sind, von welchen Schrecken auch gerade berichtet werden mag. Ein Lächeln das sich stellenweise immer wieder verdichtet, man denke an die Tante Theres, die bei ihren Heimatbesuchen nur eine tränenfreie Woche kennt, da sie die ersten drei Wochen fortwährend vor Freude weint und die drei letzten des schon wieder einsetzenden Trennungsschmerzes wegen (AW); an die Papierlandschaften der Dozentin Janine Rosalind Dakyns (RS); an den Lehrer Hilary, der seinen Stoff wegen eines Bandscheibenleidens auf dem Rücken am Boden liegend vorträgt (AUS). Die Beteuerung des Erzählers, die Unterrichtsgestaltung in der Rückenlage sei keineswegs komisch gewesen, ist eine der zahllosen kleineren und größeren Irreführungen und Schwindeleien in Sebalds Büchern.
Auf den dem Spaßmacher eng verwandten Schwindler geht U. Schütte zu recht immer wieder ein. Die Schwindeleien können, einmal durchschaut, dem Leser besondere Glücksgefühle bereiten. So hat der Major Wyndham Le Strange alle Merkmale einer besonders schönen und tiefen Sebalderfindung, und der Leser ist enttäuscht und fast schon verärgert, daß er ihn als eine nur reale, auf eine Zeitungsnotiz zurückgehende Gestalt ansehen soll, umso größer ist dann die Euphorie, wenn sich die Realitätsnachweise als Fiktion erweisen.
Christian Wirth hebt hervor, daß U. Schüttes Buch in einer Sprache fern vom Fachchinesisch der Germanisten geschrieben ist, eine Sprachhaltung, die Sebald verhaßt gewesen sei. Vielleicht kann man noch weitergehen und vermuten, daß Sebald Dichter geworden ist, weil er kein Germanist mehr sein, weil er nicht mehr über seine Dichterfreunde schreiben wollte, sondern mit ihnen. Dieser Schritt ist im Aufsatzbuch Logis in einem Landhaus vollzogen, und die Schwindel.Gefühle sind ein wahrer Tanz mit Stendhal und Bernhard, auch mit Giotto, Pisanello und Tiepolo, vor allem aber naturgemäß mit Kafka.
Man muß allerdings froh sein, daß nicht alle Sebald auf diesem Weg folgen können und wollen, sonst gäbe es unter anderem U. Schüttes Buch nicht zu lesen. Gerade für jemanden, der vor allem von kleineren, querschießenden Motiven, wie etwa den Empfangsdamen oder den Mitreisenden, den Sehfehlern oder den Uhren, in Sebalds Werk sich hat fesseln lassen, ist es ein besonderes Erlebnis, sich unter sorgsamer Aufsicht Schritt für Schritt durch das Gesamtwerk führen zu lassen. Viele bisherige Verständnislücken werden dabei geschlossen, nicht wenig ist zu korrigieren. Ärger kommt verschiedentlich auf, aber ausschließlich Ärger über sich selbst: warum hast du diese Einzelheit immer wieder überlesen, warum diesen Zusammenhang nicht selbst erkannt. Alles ist bemerkens- und bedenkenswert, auch wenn man dann beim Bedenken hie und da zu einer etwas anderen Auffassung neigen mag. Man schließt das Buch und kann die eigenen Sebaldlektüren weiterhin unbeschwert in der Haltung des einfachen, nur seiner Freude verpflichteten Lesers fortsetzen, dies aber mit neuer Qualität.
Ungeklärt ist die Frage nach dem vierten Buch, dem der Zutritt zur Ewigkeit verweigert bleibt. Die Möglichkeit, das Elementargedicht Nach der Natur könne ein weiteres Prosabuch aus dem verbleibenden Triumvirat stoßen, soll ausgeschlossen sein. U. Schütte bringt erhebliche Vorbehalte gegen das Austerlitzbuch vor, denen man nur beipflichten kann. Kehren wir aber zurück zu unserem Gedankenspiel, drehen es im letzten Schritt radikal um und stellen uns vor, vom unbekannten Dichter Traven B. Sebald sei nur Austerlitz erhalten: die Pforte zur Ewigkeit müßte sich öffnen, und so auch, bei gleichem Verfahren, für jedes andere der Prosabücher. U. Schütte hat denn auch, möchte man meinen, kein bestimmtes Buch im Auge gehabt, sondern aus Gründen der Vorsicht eine Art negativen Joker eingeführt, den jeder Leser nach Belieben einsetzen kann, den er aber, wenn er nur bei Sinnen ist, nicht ins Spiel bringt.
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