Sonntag, 17. Juli 2011

Eine alte Mesnerin

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Der Domplatz war ganz leer, er erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem Kind, auf Reisen mitgenommen von den Eltern, aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes fast alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom, den er durch einen Seiteneingang betreten hatte, schien es leer zu sein. Auch war es so dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheiden konnte. In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von Kerzenlichtern, vielleicht waren sie erst jetzt angezündet worden. Als er sich zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe, starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, ganz zu schweigen von den großen Fresken, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Er stieg ein paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt, versuchte er das Altarbild zu betrachten. Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste, was er sah und zum Teil erriet, war ein großer, gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich - nur einige Grashalme kamen hie und da hervor - gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht näherte. Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehen. Er hatte schon lange keine Bilder gesehen und betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit den Augen zwinkern mußte. In einem Bogen war, wie er jetzt sah, eine mit brauner Farbe schlecht gestrichene und mit einer Türe versehene Bretterwand eingebaut, hinter der sich der Aufenthaltsort, wo nicht gar die Wohnung der Mesnerin befand. Jedenfalls ist die kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene aufgesperrt hatte und einem Schatten gleich durch daß Kirchenschiff herabgewankt war, wortlos in diesem Verschlag verschwunden, wie sich zeigte mit der Absicht, zu allererst einen Lichtschalter zu betätigen. In dem nun gleichmäßig ausgeleuchteten Kirchenraum konnte er endlich die vom Gesims bis zum Bodensaum in vier Reihen sich hinziehenden Wandbildern betrachten. Am meisten erstaunte ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können?

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