Mittwoch, 27. Juli 2011

Logis in einem Landgasthaus

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es war spät abends, als er ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand er auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor. Dann ging er, ein Nachtlager suchen; im Gasthof war man noch wach. Hinter der Theke, die auch als Rezeption diente, war, nachdem sich auf sein Läuten lang nichts gerührt hatte, ein jungen Mädchen aufgetaucht, Frieda mit Namen, wie er noch erfahren sollte. Er hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen, ein unscheinbares, kleines, blondes Mädchen mit traurigen Augen und mageren Wangen, das aber durch ihren Blick überraschte, einen Blick von besonderer Überlegenheit. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie ihn, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Er verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, seinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem er als Berufsbezeichnung Landvermesser angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Als ihr Blick wieder auf ihn fiel, schien es ihm, daß dieser Blick schon ihn betreffende Dinge erledigt hatte, von deren Vorhandensein er selbst noch gar nicht wußte, von deren Vorhandensein aber der Blick ihn überzeugte. Er hörte nicht auf, Frieda von der Seite anzusehen. Zugleich aber war ihm, als höre er von oben die Stimme eines Mannes, vermutlich die des Wirtes, dessen Verhältnis zu Frieda ihm nicht bekannt sein konnte, vielleicht einfach das des Arbeitgebers und seiner Angestellten, vielleicht war er ihr Bruder oder ihr Vater oder aber ihr Ehemann. Ob da noch jemand gekommen sei, rief er von oben. Ja, ein Übernachtungsgast, aber jetzt ist er schon auf seinem Zimmer. Woher denn die Geräusche kämen, wollte der Wirt wissen, vielleicht hat er sich unten versteckt. Diese Kühnheit wird er doch wohl nicht haben, sagte Frieda und setzte unversehens ihren Fuß auf den des Gastes. Etwas Fröhliches, Freies war in ihrem Wesen, was er früher gar nicht bemerkt hatte, und es nahm ganz unwahrscheinlich überhand, als sie plötzlich lachend mit den Worten: Ja, vielleicht ist er auch nur versteckt, sich zu ihm hinbeugte, ihn flüchtig küßte, sich wieder aufrichtete und betrübt sagte: Nein, er ist nicht hier. Gute Nacht! Angenehme Ruhe! Die Schritte des Wirtes oben waren noch nicht entgültig verklungen, schon hatte Frieda das elektrische Licht ausgedreht und war bei ihm. Mein Liebling! Mein süßer Liebling! flüsterte sie, aber rührte ihn gar nicht an, wie ohnmächtig vor Liebe sank sie nieder und breitete die Arme aus, die Zeit war wohl unendlich vor ihrer glücklichen Liebe, sie seufzte mehr als sang irgendein kleines Lied. Dann schrak sie auf, da er still in Gedanken blieb, und fing an, wie ein Kind ihn zu zerren: Komm, hier unten erstickt man ja! Sie umfaßten einander, der schmale Körper brannte in seinen Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der er sich fortwährend, aber vergeblich, zu retten suchte, ein paar Schritte weit, schlugen dumpf an die Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen er immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, einer Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.

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