Sonntag, 24. Juli 2011

Liest Borges

Schwalbe und Molluske

Es ist nicht klar, nach welchem Plan der Zutritt zu dem posthumen Band Unerzählt gewährt oder aber verwehrt wurde. Sicher handelt es sich bei den vierunddreißig Auserwählten nicht um eine Versammlung aller und ausschließlich der engsten Freunde Sebalds, Kafka fehlt, auch Robert Walser, Gottfried Keller, eigentlich alle, die seinerzeit, mit gutem Grund, ins Landhaus eingeladen wurden. Der Umstand, daß Onetti unter falschen Namen als Onnetti auftritt, läßt nicht auf allzu große Nähe schließen, obwohl man wirklich gern wüßte, wie Sebald zu diesem beunruhigenden Erzähler stand. Noch ein weiterer La Plata-Dichter hat Zutritt erhalten, Borges, der zuvor bereits einen einigermaßen ausführlichen Auftritt in den Ringen des Saturn hatte. Sein Auftritt ähnelt allerdings nicht denjenigen Conrads, Swinburnes oder Fitzgeralds und anderer im selben Band, geschweige denn den Auftritten Stendhals und Kafkas in den Schwindel.Gefühlen. Sie alle treten als menschliche Gestalten hervor aus dem Gewebe ihrer Literatur, das ihnen nur mehr an den Schultern hängt in leuchtenden Fetzen. Borges tritt nicht hervor aus seinem Werk, seiner eigenen Neigung entsprechend, kann man mit einigem Recht sagen. Er wird gar nicht einmal beim Namen genannt, es ist anonym von einer in Argentinien verfaßten Schrift die Rede. Borges Dichterkollege und Freund Bioy Casares und zugleich Figur in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, um die es geht, erscheint als ein gewisser Bioy Casares, so als sei es nicht weiter wichtig oder auch nur ratsam, ihn zu kennen.

Die 1940 in Argentinien verfaßte Geschichte also kommt Selysses in den Sinn, als er an einer Klippe dem Flug der Schwalben über das Meer hinaus betrachtet. Ein ganzes Amphitheater, so stehe da geschrieben, sei durch ein paar Vögel gerettet worden, eine unscharfe Erinnerung, lautet der, überdies in ein surrealistisches Umfeld gestellte fragliche Satz doch: A veces unos pájaros, un caballo, han salvado las ruinas de un anfiteatro. Wir sind an solche und weitergehende Fehlleistungen der Erinnerung gewöhnt, so memoriert Selysses nur wenig später wortwörtlich, wie er sagt, eine Passage aus Conrads Kongotagebuch, die dort auf keine Weise zu finden ist. Den Gang der Erzählung und insbesondere den als Nachschrift aus dem Jahre 1947 ausgewiesenen Teil der argentinischen Erzählung referiert Selysses dann recht getreu, wenn auch in eleganter Verkürzung. Ausgangspunkt für den zweiten Zugriff auf die Erzählung ist sein Erleben, als er über den Rand der Klippe schaut: Ich kauerte mich nieder und blickte, erfüllt von plötzlicher Panik, hinab über den Rand. Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten. Jetzt jedenfalls war er still, und still und reglos war auch die Frau. Ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib. - Zu Beginn von Borges’ Erzählung wird ausgeführt, so geht Selysses unter dem Eindruck seines Erlebnisses durch den Sinn, das Grauenerregende an den Spiegeln und im übrigen auch an dem Akt der Paarung bestünde darin, daß sie die Zahl der Menschen vervielfachen, wo doch, so wäre zu ergänzen, alles an der Verringerung ihrer Zahl gelegen wäre.
In Sebalds Werk leben die Menschen und Schreiben die Dichter vor einer Feuerwand, einer fortwährenden und allumfassenden Kombustion, die über kurz oder lang das Ende nur herbeiführen kann. Tlön ist eine ganz anders geartete Vernichtungsvision, eine Kunstwelt, eine Verdoppelung der Welt, ersonnen von einer sociedad secreta de astrónomos, de biólogos, de ingenieros, de metafísicos, de poetas, de chímicos, de algebristas, de moralistas, de pintores de geómetras, dirigidos por un oscuro hombre de genio. Tlön wird das Antlitz der Erde verwandeln, alle Sprachen, selbst Spanisch, Französisch und Englisch, werden vom Planeten verschwinden, die Welt wird Tlön sein. Borges aber kümmert das nicht, er feilt in der stillen Muße seines Landhauses weiter an einer tastenden, an Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne, die er nicht drucken zu lassen gedenkt. Am Zielpunkt Thomas Browne mündet der Nebenweg Borges wieder in den Hauptweg der Erzählung von den Saturnringen ein, sofern von einem Hauptweg die Rede sein kann. Borges gilt als Inspirationsquelle für Sebald, selbst hat er allerdings sicher nicht ohne Grund seinen Hund, der ebenfalls Einlaß in den Band Unerzählt erhalten hat, in den Vordergrund gerückt: My writing was always done in a random, haphazard fashion, in the same way in which a dog runs through a field. If you look at a dog following the advice of his nose, he traverses a patch of land in a completely anplottable manner. And he invariably finds what he is looking for. I think, as I have always had dogs, I’ve learned from them how to do this. Ersichtlich steht die Bewegung seiner Prosa dem ziellos zielsicheren Lauf des Hundes durch die Felder näher als Borges ausgeklügelt vorrückendem Erzählschritt. Der canine Charakter der Prosa in den Ringen des Saturn besonders ausgeprägt, und wohl aus diesem Grund ist es vielen Freunde des Dichters das liebste Buch, voller zufälliger und, ununterscheidbar davon, notwendiger Funde, die Lektüre ein immerwährendes tief verwirrendes und beglückendes Erleben ganz eigener Anblicke der Freiheit.

Sebald mußte wohl auf Borges treffen, zuviel verbindet sie, als daß sie sich hätten verfehlen können, so zufällig, wie sich die begegnung dann auch ergibt. Da ist die weit überdurchschnittliche Betonung der Entstehung von Literatur aus Literatur, Sebalds Pariser Nationalbibliothek ähnelt allerdings nur wenig der Biblioteca de Babilon bei Borges. Das Erzählwerk beider Autoren ist voller Menschen, die aus dem geschäftigen Leben ausgetreten sind, beider Werk ist gekennzeichnet von der Beschwörung und zugleich Mißachtung der Katastrophe. Die Liebe zum Landhaus hat Sebald nachweislich nicht bei Borges, sondern bei Robert Walser erlernt, dieser wiederum bei Kleist. Es bleibt damit eher der Eindruck zweier Männer, Borges und Sebald, die im Vorbeigehen höflich voreinander den Hut ziehen als der von Freundschaft und Einfluß.

* The works of Jorge Luis Borges, especially "The Garden of Forking Paths" and "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", were a major influence on Sebald. (Tlön appears in The Rings of Saturn.)

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