Montag, 14. November 2011

Eisenbahnhotel

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es dauerte eine beträchtliche Zeit, bis aus dem Inneren des offenbar schon schlafenden Hauses ein greiser Portier herbeikam, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Aufgrund seiner Behinderung hatte er, bereits vor er sich anschickte, die Halle zu durchqueren, den draußen vor der halbverglasten Türe wartenden späten Gast von unten herauf mit einem kurzen, aber um so durchdringenderen Blick ins Auge gefaßt. Wortlos begleitete er mich über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er mir ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies. Ich stellte meine Tasche ab, öffnete eines der hohen Fenster und schaute mitten hinein in die stockfinstre, mondlose Nacht. Erst am nächsten Morgen sah ich, daß es ein Eisenbahnhotel war. Ungeachtet der Mahagonistiege wies das Zimmer wegen der Hanglage des Gebäudes auf ebener Erde zur Straße hin, mit einem Gärtchen davor. Wer wollte konnte mich im Zimmer alle meine Geschäfte nackt besorgen sehn. Nach dem Frühstück machte ich mich auf den Weg in die Stadt, eine ganz und gar alte Stadt. Der Fachwerkbau scheint die für die größte Dauer berechnete Bauart zu sein. Die Balken verbiegen sich überall, die Füllung sinkt ein und baucht sich aus, das Ganze bleibt und fällt höchstens mit der Zeit ein wenig zusammen und wird dadurch noch fester. So schön habe ich die Menschen in den Fenstern noch nie lehnen sehn. Meist sind auch die Mitteleisten der Fenster zugemacht. Man lehnt die Schulter an sie, Kinder drehn sich um sie. In einem tiefen Flur sitzen auf den ersten Stufen starke Mädchen, in ihren Sonntagskleidern ausgebreitet.

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