Freitag, 25. November 2011

Schwedische Witwe

Heute haben wir, in größerer Anzahl, die schwedische Witwe, ein lederriemenartiges Geschöpf, zum Bahnhof gebracht. Ich kenne sie kaum, habe mich auch um das Geplauder wenig gekümmert, lieber um mich geschaut und bin meinen Gedanken nachgehangen. Das einst weit über Prag hinaus berühmte Jugendstilbauwerk des Bahnhofs ist 1919 zum Andenken an den freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden. Von einer Art Mezzanin kann man emporblicken in den mächtigen Kuppeldom. Entlang dem Halbrund des Kuppelsaums verläuft eine Galerie, auf der Kaffeehaustischchen aufgestellt sind. Dort sind wir, nachdem die Witwe ihre Fahrkarte gekauft hatte, bis zur Abfahrt des Zuges noch eine halbe Stunde gesessen. Ich habe mir beinahe den Hals ausgerenkt, weil ich die Augen nicht abwenden wollte von der über uns ungeheuer weit sich hinaufwölbenden Kuppel. Später, auf dem Bahnsteig, war ich kaum weniger gefesselt vom Anblick des aus Dreiecken, Kreisbögen, waag- und senkrechten Linien und Diagonalen sich zusammenfügenden Musters der im Halblicht nur unscharf erkennbaren Glas- und Stahlüberdachung. Die Witwe trug über ihrer gewöhnlichen Kleidung nur ein graues Jäckchen und zudem ein graues Hütchen mit kleinem Schleier. In dieser Umrahmung wird ihr braunes Gesicht sehr zart, über den Eindruck regelmäßiger Gesichter entscheidet nur Entfernung und Einhüllung. Ihr Gepäck ist ein kleiner Rucksack, viel mehr als ein Nachthemd ist nicht darin. Sie reist unaufhörlich, kam aus Ägypten. Jetzt trat sie eine Reise an, die sie für eine kurze Weile an ihren Heimatort, die Hafenstadt Umea, weit im Norden, fast schon am Polarkreis, tragen sollte. Weiter vorn am Zug winkten zurückbleibende Eltern mit weißen Taschentüchern, gleich einer auffliegenden Taubenschar, ihren Kindern nach, die, begleitet von ihren Lehrern, zu einer Klassenfahrt aufbrachen. Ich hatte den seltsamen Eindruck, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei. Man sie dann aber noch das ein und andere Mal, wie er durch einen Korridor zwischen mehrstöckigen Wohnhäusern hindurchfuhr, dann in den schwarzen die Neustadt unterquerenden Tunnel hinein um schließlich über die Moldau hinweg tatsächlich zu verschwinden.

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