Freitag, 27. Februar 2009

Abschreiben

Stille Freuden

Die nicht geringste Freude beim Verfassen der Sebaldstücke bestand darin, lange Passagen beim Dichter abzuschreiben. Wer nicht über die Fähigkeit zum Blindschreiben verfügt und obendrein über einen nur noch beschränkt beweglichen Hals, neigt dazu, die Texte beim Schreiben aus dem Kurzzeitgedächtnis in die Tastatur hinein zu verlängern. Vor Gott und den Menschen ist zu bezeugen, daß bei den dabei unvermeidlichen Fehlern das Recht, das richtigere Wort, der feinere Satzbogen ausnahmslos auf der Seite des Dichters lag, nie kam der Gedanke auf, so wie es da steht, könne es eigentlich auch bleiben. Ähnlich muß sich ein mediokrer Schachspieler fühlen, der gegen einen Großmeister antritt. Er hat keine Chance, aber die eigenen Niederlagen lassen in den Glanz der meisterlichen Züge tiefer erleben, als wenn er sie nur nachspielen würde. Eine stille Freude auch, den Übergang von den eigenen Sätzen zu denen des Dichters nicht deutlich zu markieren, eine besondere stille Freude dann, von Freunden auf eine sehr gelungene Stelle angesprochen, zu erläutern, wem sie zuzurechnen sei.


Wie hat Sebald sich selber gelesen? Hat er zu denen gehört, die keins der ursprünglichen Worte an ihren Platz lassen, um das zweite gegen das dritte und das dritte gegen das vierte auszuwechseln, oder konnte er die schöne Arroganz Onettis teilen, der kundgibt, er würde eigentlich nie etwas korrigieren, da sei auch nichts zu korrigieren, er sei so geboren, es sei ihm nicht gegeben, anders als perfekt zu schreiben. Die Unterschrift unter Onettis Augen in Unerzählt: Das Haus in der Nacht durch die Fenster der Schein der Flammen – gibt keinen Aufschluß.

Das Faksimile eines Maschinenskripts im Stuttgarter Katalog Zerstreute Reminiszenzen und ergänzend dazu die aus dem Marbacher Katalog Wandernde Schatten sich ergebende Möglichkeit, die Umarbeitung von Textpassagen des Korsikaprojektes in Teile des Austerlitzbuches zu verfolgen erlauben vielleicht eine Vermutung: Das einzelne Wort konnte an seinem Platz bleiben, das Fügen größerer Textblöcke hat Sebald aber sehr wohl Gelegenheit gegeben, sich mehrfach wieder zu lesen.

In einem Aufsatz über Gerhard Roth schreibt Sebald: Konfession (des Autors) und Mitwisserschaft (des Lesers) gehören unabänderlich zu den dynamischen Grundstrukturen der erzählenden Literatur. Andererseits gelangen unsere Geschichten nur in dem Maß über die Verabredungen des zweifelhaften Genres hinaus, in dem es ihnen gelingt, sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einzurichten. – Wenn also, um nur ein einfaches Fazit zu ziehen, Lesen immer zu einer Art von Symbiose zwischen Autor und Leser im Text führt, so war es das geheime und nicht ereichbare Ideal der Sebaldstücke, die Symbiose möglichtst eng zu gestalten, am besten nur abzuschreiben mit kleinen Abweichungen hier und da, eine bescheidene Oberstimme, die den Glanz der Melodie nur betont, gelegentliche Spiegelungen die zeigen, wer hinter welchen Bergen tausendmal schöner ist.


Dienstag, 24. Februar 2009

Unsere Zukunft

Kinder und Familie

This is Sebold, my partner.

Mit Raymond Chandler hat Sebald sich nicht in einem Aufsatz auseinandergesetzt, ob er ihn gelesen hat ist fraglich und ebenso, ob er ihn geschätzt hat, wenn er ihn denn kannte. Dabei hat der Selysses der Kriminalgeschichte Schwindel.Gefühle durchaus Bezüge zu Philip Marlowe, ein Merkmal aber vor allem verbindet die Werke der beiden Autoren: die Kinderlosigkeit. Kinder tauchen kaum auf und wenn doch, sind es zumeist kleine Monster. Chandler hat seine Abneigung wiederholt zu Protokoll gegeben.

Man wird, was Sebald anbelangt, widersprechen wollen und auf den kleinen Jacques Austerlitz in Prag und auf den kleinen Selysses in W. verweisen. Aber das sind keine Kinder der Erzählung, sondern Erwachsene, die sich in der Erzählung als die Kinder erinnern, die sie waren. Die einzigen aktuellen Kleinen, die uns sofort einfallen, sind die beiden Kafkaknaben in den Schwindel.Gefühlen, und die sind grauenhaft, mißlungene Abziehbilder Kafkas, und der Versuch, auf photographischem Wege Abziehbilder wiederum von ihnen zu gewinnen, mißlingt seinerseits auf groteske Weise. Mauro Michelotti, in der gleichen Erzählung All’estero, könnte Anwärter auf eine positive Verkörperung des Nachwuchses sein, aber seine Kindhaftigkeit ist umstritten. Selbst seine Mutter Luciana plädiert nur auf fast noch ein Kind und der Vater bestreitet auch das energisch: Ein Kind, rief der Padrone und drehte die Augen zum Himmel, als brauche er dessen Beistand in dieser Stunde der Prüfung, ein Kind, rief er von neuem, ein Kind ist er nicht, wohl aber ein gedankenloser Mensch. – Die Kinder sind längst herangewachsen.

Die Berufswelt erwies sich in der Betrachtung als so flach und so wenig einnehmend für die Menschen, daß sich der übliche Gegensatz von Beruf und Freizeit nicht aufbauen ließ, und noch weniger kommt es zum populären Gegensatz von Beruf und Familie. Man steigt nicht aus aus dem Beruf, um sich einer Familie zu widmen, sondern um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen, um sich mit dem Aufhängen oder Abnehmen raschelnden Samenbehälter zu beschäftigen und darin wie eine in den Himmel auffahrende Heilige zu verschwinden, um eine Höhle auszuheben und dann tage- und nächtelang darin zu sitzen gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, um ein Eremiten und ein Narr nicht in Christo zu werden, ein Detektiv, ein Mönch ohne Gott. - Die Menschenwelt ist in Auflösung und auf ihre Zerstörung und Auslöschung durch einen großen Brand im Jahre 2013 nicht angewiesen. Die Menschheit verzichtet auf Prokreation und läuft still aus. Es ist aufgefallen, daß Sebald sein Lexikon der deutschen Sprache für Neuerscheinungen seit 1933 gesperrt hat, folgenschwerer vielleicht noch ist die Sperrung für weitere Exemplare der Gattung Homo Sapiens. Das Projekt Moderne kann augenscheinlich auf die begonnene Weise nicht fortgeführt und abgeschlossen werden.

Warum aber fühlen wir uns so wohl in Sebalds Endzeitwelt? Wir haben nicht das Gefühl eines Endes, einer Absage an die Welt, sondern das Gefühl eines An- und Innehaltens, einer Atempause, einer Besinnung, eines Inderschwebehalten, der Möglichkeit einer Neuorientierung. Mit der Bereitstellung dieser Möglichkeit hat der Dichter seine Schuldigkeit getan. Nähere Ausarbeitungen zur Frage, worin die Neuorientierung bestehen könnte, gehören nicht zu seinem Aufgabenbereich.

Philip Marlowe wurde achtunddreißigjährig in Chandlers unveränderbare amerikanische Welt geboren und wird sie auch irgendwann achtunddreißigjährig auf einer Bahre wieder verlassen haben. Bei Sebald hat man das Gefühl, das Bild könne sich jederzeit drehen, alles könne neu anlaufen und den kleinen Prager Austerlitz oder den kleinen Selysses aus W. in eine Welt versetzen, die nicht die der Vergangenheit aber auch keine Verlängerung der gegenwärtig laufenden ist. Es müßte sich vermutlich um kaum weniger als ein Reich Gottes der einen oder anderen Art handeln. Warum aber sollen wir die Hoffnung aufgeben?

Montag, 23. Februar 2009

Frieda und die drei Schwestern

Ehepaare fallen demgegenüber ab

Der im internationalen Maßstab der Gegenwart ausgesprochen geringe Grad der Sexualisierung des Sebaldschen Prosawerkes ist bereits aufgefallen und wurde angesprochen. Eine Folge ist die hohe Wirkung erotischer Elemente bereits in homöopathischer Dosis, wie am Motiv der Empfangsdamen hinlänglich klar wird.

Selysses trifft Kafkas Schankmädchen Frieda in W. als Engelwirtin: Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Und er trifft Frieda wieder im Viktoriahotel Lowestoft: Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte. Aber erst hinter und unter der Theke in der Schänke des Dorfes unterhalb vom Schloß kommt es zur sogenannten Erfüllung: Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber vergeblich zu retten suchte, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem Unrat auf dem Boden.

Luciana Michelotti ist Wirtin und Ehefrau und steht damit zwischen zwei Frauenwelten. Der Ehemann schaut allerdings nur beiläufig herein und so kann Selysses sich Hoffnung machen, sie zu entführen und zur Seinen zu machen: Als ich, diese Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es mir, als seien wir von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo wir wollten. Die mich mit einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllende Vorstellung hielt allerdings nicht lange an.

Ehepaare sind selten in Sebalds Erzählwelt und durchweg wenig glückhaft. Selwyns Ehedomina lernen wir nicht näher kennen, stellen sie uns aber vor als eine Art Double von Mrs. FitzGerald, die in überlieferten Porträtdarstellungen gezeigt ist als eine Dame von mächtigem Format, mit starken, abfallenden Schultern und einer geradezu furchteinflößenden Büste und damit für viele Zeitgenossen eine verblüffende Ähnlichkeit aufwies mit dem Herzog von Wellington. Der Bund fürs Leben des Predigerpaares Elias, Austerlitz' Pflegeeltern in Wales, ist eher einer zum Tod, Mrs. Ashbury ist verwitwet, eine Voraussetzung für ihre Berufung zur Heiligen. Es bleibt Austerlitz’ paradiesisches Elternpaar in einem paradiesischen Prag vor dem tiefen deutschen Sündenfall.

Zum einen: Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter. Und zum anderen: Liebesgeschichten sind mir, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. - Die drei großen beinahe metaphysischen Ausnahmen im Werk sind die Geschichten mit Adela Fitzpatrick, Marie de Verneuil und Lucy Landau. Vermutlich muß man auch Sig.ra Gherardi hinzurechnen, der Umstand, daß Stendhal sie sich, wie Selysses mutmaßt, nur ausgedacht hat, als er der Anstrengungen der realen, nie zur vollen Zufriedenheit verlaufenen Liebesabenteuer aus den verschiedensten Gründen überdrüssig war, hat wenig zu bedeuten und keinen mindernden Einfluß auf ihre literarische Realität. Wie ist es schließlich mit Florence Barnes, die vom Major Le Strange als Haushälterin engagiert wird unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme?

Schaut man sich um nach einer schlichteren Kennzeichnung der beinahe metaphysische Ausnahmen, so mag man auf das Geschwisterverhältnis verfallen. Thomas Bernhard hat dem Geschwisterverhältnis, den Schwestern eindringliche Bücher wie Beton oder Korrektur gewidmet. Im Kalkwerk heiß es ziemlich zu Anfang beiläufig und wohl auch oft überlesen, Konrads Frau sei in Wahrheit seine Halbschwester. Wenig später, bei der Schilderung der klaustrophobische Reaktion Konrads auf kleine Zimmer und der agoraphobische Reaktion der Frau auf große Zimmer wird diese, gerade noch seine Frau, wiederum plötzlich und übergangslos als seine Schwester bezeichnet. Das Kalkwerk ist eine beinahe schon metaphysische Torturgeschichte und damit der Gegenpol zu einer beinahe schon metaphysischen Liebesgeschichte. Bei Bernhard sind es leibliche Schwestern, bei Sebald für Austerlitz und Bereyter, auch für Stendhal und vielleicht für Le Strange Wahlschwestern. Ein Wahlschwesternlebensmenschverhältnis ist Bernhard im wirklichen Leben eingegangen, auch wenn sich die Bezeichnung auf der Verwandtschaftsskala angesichts von Hedwig Stavianiceks erheblich überlegenem Alter verschoben hat. Üblicherweise wurde sie die Tante genannt.

Sonntag, 22. Februar 2009

Der Ruhestand der Eremiten

Berufe & Beschäftigungen

Wenn das Tun - wie Hegel sagt - die Negativität ist, so möchte man wissen, ob die Negativität desjenigen, der nichts mehr zu tun hat, schwindet.


Karrieremenschen oder solche, die sich, wie es heißt, im Beruf verwirklichen wollen, treten im Sebalds Welt nicht auf oder allenfalls ganz am Rande. Der Idee eines Karrierebeamten am nächsten kommt womöglich Frederick Farrar, der es zum Richter gebracht hatte, eine hohes Amt zumal in England. Sein Rückblick auf das Berufsleben läßt aber einen nur niedrigen Grad der inneren Verbundenheit erkennen. Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen.

Auf verschiedene Berufsgruppen in Sebalds Werk haben wir schon monographische Blicke gerufen und müssen nur noch rekapitulieren. Der Lehrerstand ist durch zwei Enthusiasten, Paul Bereyter und André Hilary, vertreten, denen ihr Beruf Berufung ist, sie sind ihm sozusagen nach oben entflogen. Das gilt naturgemäß umso mehr für die Flieger. Berufspiloten sind gar nicht zugelassen. Der nicht kleine Schar der Flieger in Sebalds Werk ist das Fliegen reine Leidenschaft und Lebensnotwendigkeit. Auch die Gärtner sind nicht Berufstätige im landläufigen Sinne. Die Gartenarbeit ist eine Art tätiger Untätigkeit, teils Therapie, teils Lebensform, teils, wie bei Frederick Farrar, letzendliches Lebensziel.

Bei den Ärzten könnte der Dr. Piazolo zunächst als ein radikal dem Beruf Verschriebener erscheinen. Robust, solide, immer auf Achse, hatte er offenbar den Vorsatz gefaßt, im Sattel seines Motorrads zu sterben. Aber nicht nur, daß ihm das Motorrad möglicherweise näher steht als die Heilkunst, bei Licht besehenen handelt es sich bei ihm um eine mythologische Gestalt, der gelingt, was zuvor niemandem gelungen war, nämlich dem Jäger Gracchus den Totenschein auszustellen - und auch daß Hans Schlag alias Gracchus der nüchternen Exemplifizierung des Berufsstandes der Waidwerker dient, wird niemand behaupten wollen. Ein im Sinne Sebalds wahrer Vertreter des Ärztestandes ist einmal der Dr. Rambousek, aus Mähren zugewandert und wie Kafka, einer der von Haus aus Untröstlichen, und zum anderen der Dr. Abramsky, als Selysses ihn in Ithaca besucht, bereits ein demissionierter Eremit.

Unter den Handwerker ist der Schneider Moravec ein für immer auf kurzen Moment nur geschrumpftes Bild in der Erinnerung Austerlitz’. Am wichtigsten aber sei es gewesen, den Augenblick nicht zu versäumen, da Moravec die Nadel und den Faden, die große Schere und sein sonstiges Handwerkszeug weglegte, den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumte, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte und das abwechslungsweise und je nach der Saison aus etwas Weichkäse mit Schnittlauch, ein paar Tomaten mit Zwiebeln, einem geräucherten Hering oder aus gesottenen Kartoffeln bestand. Weiteres aus dem lebendigen Schicksal des Schneiders erfahren wir nicht. Ausführlich nehmen wir dagegen Kenntnis vom traurigen Lebensverkauf des Wagners Peter Seelos, der sich, ähnlich dem Dr. Abramsky, allmählich aus einem Beruf verabschiedet. Er vernachlässigte die Wagnerei mehr und mehr, nahm Aufträge zwar noch an, führte sie aber nur zur Hälfte oder gar nicht aus und verlegte sich darauf, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen. Er ist dann ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, hat sich aber im Spital nicht halten lassen, sondern ist in ersten nacht auf und davon. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm. Das Leben des Spenglers Kasimir ist nicht ohne Schicksalsschläge aber doch in geordneteren Bahnen verlaufen vom Bau des neuen Kupferdaches der Augsburger Synagoge bis zu den Kupferspitzhauben des General Electric Building, inzwischen lebt er als Ruheständler in einer retirement community in Lakehurst. - Soweit die Handwerker. Der Landwirt Alec Garrad hat sich ebenfalls weitgehend vom Beruf zurückgezogen und baut seit gut zwei Jahrzehnten vermehrt nur noch an einem Modell des Tempels von Jerusalem.

Die zahllosen Empfangsdamen, denen wir begegnen, verrichten ihre Arbeit mit seltsamer Langsamkeit und ähneln weitaus mehr nachgeordnete Schicksalsgöttinnen als Berufstätigen im üblichen Sinn. Auch Krankenschwestern und Flughafenansagerinnen haben Merkmale zweifelhafter Engelhaftigkeit. Unter all diesen nur schwach an den Beruf gebundenen fallen die Erwerbslosen gar nicht sonderlich auf. Die Schwestern Babett und Bina betreiben das Café Alpenrose, das bis zu ihrem Tod fortbestanden hat, obschon niemand jemals in es hineingegangen ist. Die Mitglieder der Familie Ashbury beschäftigen sich ausschließlich mit ziel- und nutzlose Tätigkeiten, für ihr Auskommen sorgen offenbar himmlische Kräfte.


Auch bei den Reichen, auf der anderen Seite der Skala, ist eine Verbindung zur Arbeit nicht zu erkennen. Cosmo Solomon, Sebalds dunkler Prinz des Reichtums und vielleicht der eigentliche Protagonist der Erzählung Ambros Adelwarth, arbeitet nicht an der Vermehrung seiner Vermögens, sondern versucht es und auch sich selbst durch verschiedene Formen intensiven Müßiggang zu zerstören.

Immer wieder taucht eine Sehnsucht nach vollständiger Untätigkeit auf, die sich naturgemäß nicht erfüllen kann: Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Und weiter: Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann wurde das in mir aufgetauchte Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. Oder aber: Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden.

Nicht so sehr Tätigkeit erscheint als Fluch im Sinne des biblischen Mythos, sondern der unaufhebbare Gegensatz von Ruhebedürfnis und Unrast, umgesetzt in die Klapper von Arbeit und Freizeit, nach der zu tanzen wir gelernt haben. Gartenarbeit und Schreiben erscheinen als denkbare Tätigkeiten zur Aufhebung des Gegensatzes. Die Hochschullehrer sind weniger zu den Lehrern zu zählen als zu den Schreibenden und werden ferner auffällig durch betonte Nichtteilnahme am die moderne Arbeitswelt begründenden Basar: Michael Parkinson zeichnete sich aus durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit. Janine Darkyns ihrerseits ist Romanistin und vor allem Flaubertforscherin: In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge. – Ob man aber durch das Schreiben klüger oder verrückter wird, vermag niemand zu sagen.

Damit nähern wir uns bereits mit großen Schritten der Berufsgruppe, die bei Sebald allen anderen Berufen übergeordnet ist und zu der alle anderen hinstreben, die Berufsgruppe der Heiligen und der Seltsamen Heiligen, der Eremiten und der Narren nicht in Christo. In der männlichen Abteilung werden die derart Berufstätigen angeführt vom Major Wyndham Le Strange, der nachmals wie ein Heiliger Franz ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln, die teils am Boden um ihn herliefen, teils in der Luft ihn umflogen, um sich überdies in seinem Garten eine Höhle auszuheben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen habe gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. An der Spitze der weiblichen Abteilung steht Mrs. Ashbury und ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben. In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. Der untere Teil der Heiligen bleibt sichtbar für uns, der Plafond ist verdeckt und abseitig der Gedanke, daß durch ihn hindurch wie in einer barocken Kirchenkuppel die Auffahrt möglich sei. Sebalds Welt ist eine mönchische Welt Ungläubiger, eine Welt mönchischer Existenzen ohne rechtfertigenden Gott, eine Welt bevölkert von Menschen, die sich um ihre sterbliche Seele kümmern so, als sei sie unsterblich. Bis an ihr Lebensende möchten sie mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit: Ist das eine Hinwendung vom Leben zum Tod oder nicht vielmehr ein Entkommen aus der falschen Welt, in die wir gewissermaßen ohne unser eigenes Zutun geraten waren?

Wo immer man Sebalds Textgewebe anhebt, um einzelne Fäden genauer zu betrachten, ergibt sich das Bild einer erstaunlich dicht verwobenen Textur. Niemand wird glauben, der Dichter habe sich planvoll und womöglich in der sogenannten kritischen Absicht an die Darstellung der zeitgenössischen Berufswelt begeben. Das Immunsystem seiner Erzählwelt läßt Aussteiger und Ausgewanderte beliebiger Art und Zahl passieren und weist quirlige Berufsversessene ab. Die arbeitsteilig organisierte und über Karrieren integrierte Welt, die wir als die reale ansehen, bleibt weitgehend unbeachtet. Der als real geltenden Welt Verschriebene und Utilitaristen jeglicher Spielart werden einwenden, Sebalds Welt könne keinen Bestand haben. Am Bestand der Menschenwelt aber ist dem Dichter ganz offenbar nur eingeschränkt gelegen, und die Frage, ob unsere reale Welt bestehen kann, steht ohnehin schon in den nahegelegenen Sternen des Jahres 2013.

Samstag, 21. Februar 2009

CERN

Mechanisch-chemische und nukleare Materialveränderungen

Wenn du weißt, daß hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu
Nach einem Gedankenaustausch mit Christian Wirth


Entgegen dem, was Rimbaud gedichtet hat - A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles, Je dirai quelque jour vos naissances latentes -, sind die Laute der menschlichen Sprache frei von Bedeutung, die Vokale ebenso wie die Konsonanten. Das Spiel von Komplexitätssteigerung durch Komplexitätsreduktion, von enormen Kontaktgewinnen durch Kontaktunterbrechung hat in der Struktur der Sprache wohl seinen wichtigsten und für die Menschheit folgenreichsten Triumph erzielt, der unermeßlich weit hinausführt über das, was dem Hund zur Verfügung steht, wenn er, durchaus bedeutungsvoll, bellt oder knurrt. Aus dem zur Verfügung stehenden, den Artikulationsorganen zugänglichem Lautspektrum sind nur wenige Laute herausgeschnitten, fast immer weniger als fünfzig - die Apachen, so hört man, benötigen mehr - und mit phonologischer Potenz versehen. Jeder Kontakt zur Welt über Bedeutung ist den Phonemen untersagt und Voraussetzung dafür, daß sie, bedeutungsunterscheidend (K // B // S: kaum // Baum // Saum), im Wort die Erzeugung von Bedeutung tragen, das Wort wiederum die Bedeutungserzeugung im Satz, der Satz im Absatz, der Absatz im Kapitel, das Kapitel im Buch oder auf der Netzseite.


Dichtung setzt hier ein und fährt einerseits in diesen Bahnen fort, versucht andererseits aber, alles Vorausliegende nur als Material zu benutzen, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Sie ist aber nicht in der gleichen Position, denn das vorgefundene Material kann seine Bedeutungen nicht abstreifen. Die konkrete Poesie, sofern sie das im Sinn hat, wandert bestenfalls hinüber in den Herrschaftsbereich der bildenden Kunst, die sich ihrerseits mit der Freisetzung von Farbe und Form von bedeutungstragenden Bildelementen vielleicht nicht den größten Gefallen getan hat. Bei Sebald findet man spezielle Verfahren zur Zerstörung und Umformung sowie zum Wiederaufbau des Vorgefundenen, und dem soll hier nachgegangen werden. - War die Dichtung erfolgreich in ihrem Bestreben, sich auf einer eigenen Ebene oberhalb üblicher Sprachverläufe einzurichten, dann kann man dort auch mit Rimbaud nicht länger streiten.


Sebalds Dichtung zeichnet sich dadurch aus, daß sie bloßes Fortfahren in normalen Sprachbahnen mimt, sich als einfache Reiseerzählung oder dokumentarischer Lebensbericht tarnt – nicht wenige sind in peinlicher Weise auf diese Tarnung hereingefallen –gleichzeitig aber auf besonders radikale Weise alles Vorgefundene zu bloßem Material für etwas ganz anderes umformt und so die weitere, immer nur geahnte Komplexität der Kunst erreicht, die naturgemäß mit den ihr gegenüber unterkomplexen Mitteln normaler Sprachverläufe nicht wieder eingefangen werden kann. Hier soll denn auch nur versucht werden, ein wenig in ihrem Nachhall hineinzuhören.


In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als er noch kein rechter Dichter war, hat Sebald sich bereits als Reise- und Wanderfeuilletonist bewährt: Wer die graue Nordsee überquert hat, dem öffnet sich, wenn er am Morgen in Harwich wieder Land gewinnt, die weite ostenglische Provinz, von der aus man einst leichter nach Amsterdam als nach London gelangte und die auch, nachdem sie von der Bahn erschlossen war, in ihrem exzentrischen Dasein verharrte. Von Butley sind es kaum vier Kilometer nach Orford &c. – Es könnte sich um den Ausgangspunkt der Ringe des Saturn handeln, auch ein Bericht von einer Wanderung in Ostengland. Die englische Wanderung ist hier aber völlig überwuchert von mentalen Ausflügen, die geographisch bis in die Ukraine, an den Kongo und gar bis China tragen und auch in seltsame Landstriche wie das Land Tlön.

Schon bei der Lektüre der Schwindel.Gefühle war manchem beginnenden Leser vielleicht nicht sogleich deutlich geworden, warum die Erzählung vom Aufbruch in dem Süden und der Rückkehr zunächst ins Allgäu und dann nach England zerschlagen war von auf den ersten Blick disparaten Berichten über bestimmte Lebensabschnitte Stendhals und Kafkas. Vielleicht erst, nachdem man das Buch geschlossen hatte, begannen die Teile sich auf seltsame Weise zu verweben, die Zahl Dreizehn begleitet uns von Anfang bis zum Ende, schon Stendhal begegnet dem Jäger Gracchus &c. Man könnte sagen, daß die zugrundeliegenden Reiseerzählungen mit grobmechanischen Mittel zerschlagen, um dann mit feinmechanischen und chemischen Mitteln wieder vernäht oder resynthetisiert zu werden.


Dabei haben einige der chemischen Mittel allerdings eher alchemistisch-zahlenmystischen Charakter, das Spiel mit der Zahl Dreizehn wurde schon angesprochen. Christian Wirth glaubt einer großen zahlenmystischen Textverschwörung auf der Spur zu sein, die er in Ansätzen auch schon offengelegt hat.Von ähnlicher Art und von ähnlicher Wirkung sind die Wiedergänger. Selysses trifft in den Fußgängerzonen moderner Städte und auf Bahnreisen Dante, König Ludwig und Königinnen vergangener Tage. Dabei wird immer betont, sie seien es gewiß und ohne Zweifel. Aber wenn das gewiß ist, muß jede Gewißheit ungewiß werden.

Und dann die Vorliebe für Koinzidenzen, und seien sie auch nur ungefährer Art und wenig paßgenau, um nicht zu sagen: an den Haaren herbeigezogen. In einem Interview hat Sebald geäußert, das Leben sei ohne Sinn und jeder wisse das, umso mehr aber komme es darauf an, nichts außer Acht zu lassen, was, wie eine Koinzidenz, wenigstens für den Augenblick als Sinn gelten oder nach Sinn aussehen könne. Die Annahme, das Leben sei ohne Sinn, schließt in keiner Weise aus, daß der Mensch unaufhebbar von Sinnhorizonten umgeben ist, auch dann, wenn Sinnlosigkeit das Thema ist, Horizonte, die er nicht erreichen oder überschreiten kann (Luhmann); daß es keinen Ausweg aus den Sprachspielen gibt (Wittgenstein). Sebald selbst hat mehrfach eindrücklich die Qualen der schreibend in die Sinnproduktionsstätten Eingeschlossenen dargestellt, aber leicht mag es uns immer wieder scheinen, als sei der Blick vom Vorübergehn des Sinns so müd geworden, daß er nichts mehr hält, als ob es tausend Sinne gäbe und hinter tausendfachem Sinn keine Welt. Das mag den Wunsch erwecken, alles aufgeben zu können außer dem Schauen - und verharrte der Blick auch nur an den Gitterstäben des Käfigs.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß sich aus diesem kabbalistischen Terrain ständig die Hauptmelodie begleitende und umspielende oder ihr zuwider laufende kleine Sinnmelodien lösen mit teils konstruktivem und teils destruktivem Effekt.


Führend unter den ernsthafteren chemische Verfahren ist die durchgehende Unterfütterung der Texte mit Zitaten. Wir überspringen die korrekt gekennzeichneten und mit einem Namen versehenen wie der Hinweis auf Borges im Zusammenhang mit dem Land Tlön. Oft sind auch die nicht gekennzeichneten Zitate eindeutig für den, der das Glück hat, die Referenz zu finden. Man liest etwa vom Aufbruch im Prager Bahnhof, vom Flattern der weißen Taschentücher und von den seltsamen Eindruck, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei, ganz und gar sebaldtypisch denkt man, um dann im Tagebuch Kafkas zu finden: Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. ließ das Taschentuch flattern. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann. Andere Zitate sind verdeckt und dem stilistischen Gespür des Lesers überlassen, so wenn er zu Beginn der Erzählung Ritorno in Patria unsicher wird, ob er nun mit Sebald oder doch eher mit Bernhard unterwegs ist, wieder andere verdanken sich möglicherweise schon einem zur Paranoia gesteigerten Generalverdacht, so wenn man gleich am Anfang von Abschied von den Eltern liest, wie Peter Weiss nach Belgien zu seinem toten Vater fährt und sich fragt, ob Selysses nicht gleich zu Anfang nach Belgien fährt, um Laertes-Austerlitz zu treffen. Sebald allein könnte die Germanistik mit der Aufgabe der Aufdeckung, Verifizierung und Falsifizierung seiner Zitathintergründe auf Dauer im Brot halten. - Der offenbar angestrebte destruktive Effekt ist erreicht, der Leser permanent verunsichert, die Erde schwankt , und doch bleibt man die ganze Zeit in der sicheren Obhut des Dichters.

Ein weiteres chemisches Verfahren zur Materialauflösung sind Sebalds Lügen. Kann man überhaupt lügen in einem fiktionalen Werk? Aber dann täuscht er ja immer wieder vor, es sei keins; - um der knifflichen Situation zu entkommen, nimmt man gern Zuflucht zum Begriff der Halluzination. Die berühmteste ist wohl das Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer dem Selysses unbekannten Autorin namens Mila Stern. Und Selysses gibt zu: Seither habe ich immer wieder und bislang vergebens versucht, wenigstens das Buch Das böhmische Meer ausfindig zu machen; es ist aber, obschon zweifellos für mich von der größten Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, es ist nirgends verzeichnet - eine Erfahrung, die in seiner Folge ein ganzes Heer von Lesern dieser Zeilen machen mußte. Liest man, gewitzt durch diese bittere Erfahrung dann z.B. in den Moments musicaux, der Erzähler habe, wenn er sich nicht täusche, in einer der Studien Sigmunds Freuds gelesen, das innerste Geheimnis der Musik sei eine Geste zur Abwehr der Paranoia, so mag man, in Unkenntnis der Referenzstelle, argwöhnen, der Einschub wenn er sich nicht täusche könnte ein Hinweis sein, das Zitat sei der Einfachheit halber erdacht und erlogen, um am Ende, wenn es sich dann doch auffindet, vielleicht doppelt getäuscht zu sein. Das Mißtrauen wird umso größer, wenn man bemerkt oder erfährt , daß auch die Bilder im Text, zunächst gutgläubig als Beleg des Realen akzeptiert, nicht selten irreführen und lügen. – Ganz offenbar ist es gelogen, daß eine Lüge immer eine Lüge ist. Eine Lüge ist keine Lüge ist keine Lüge, was immer auch Kant sich dazu erdacht hat in seiner Zeit.



Damit verlassen wir die Chemie und kommen zur Teilchenphysik im heißen Kern der Sebaldtexte, die immer wieder auf Satzgruppen von gleißender Schönheit und rätselhaftem Sinn zusteuern. Drei Beispiele:

Eisfeuer
Sand Sebolt entfacht im Herd eines um Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen
(RS 107).

Schiff vor Porto
Als meine Augen sich an das sanfte Zwielicht gewöhnten, konnte ich das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon
(CS 49f).

Hühner im Feld
Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt.
(SG 192)

Offen dar- und hingestellte Schönheit gilt im Rahmen modernerer Kunst als eher nicht opportun, schon fast als Tabu, um das sich Sebald ganz offenkundig nicht kümmert, ein erholsamer Tabubruch einmal von der anderen Seite her und zu dieser Seite hin. Darum aber geht es nicht, sondern um die Verbindung des jeweiligen Schönheitsblitzes mit überbordender, nicht durchsichtiger Bedeutung. Es ist, als habe man in einem literarischen CERN Schönheits- und Bedeutungspartikel gegeneinander gehetzt, so daß sie zerbersten um sich, mit neugewonnenen Eigenschaften, neu zu ordnen. - Die Einordnung als nukleares Geschehen mißt den Schönheitsblitzen eine hohe Bedeutung im Werk bei. Der große Frieden, der über Sebalds Prosa liegt hat hier eine seiner wichtigsten Quellen.

Sebald bekennt sich, als Selysses, zu zwei Lehrergestalten , Bereyter und Austerlitz, die beide, bei Austerlitz offen ausgesprochen, Ähnlichkeiten mit Wittgenstein haben. Wen will es wundern, wenn Sebald Wittgenstein nicht nur als Asketen und Genußverächter – ihm sei eigentlich gleichgültig, was er esse, Hauptsache, es sei immer das Gleiche – sondern auch als Philosophen des unsicheren Bodens und der Schwindelgefühle geliebt hat, der, wenn er Über Gewißheit nachdenkt, auch in sechshundertsechsundsiebzig Anläufen keinen letztendlichen Beweis, das heißt keinen Beweis außerhalb eines Sprachspiels, dafür zu finden vermag, daß S.G.E. Moore, wenn er seine eigene Hand sieht und sagt, er sehe seine Hand, auch gewiß seine Hand sieht. Alle unsere Gewißheiten und Ungewißheiten sind in der Sprache, der Hund, der, durchaus bedeutungsschwer, knurrt und bellt, kennt beides nicht. Von der Gewißheiten suggerierenden Sprachspielen der Alltagssprache begeben wir uns in die Schwindelgefühle und Ungewißheiten suggerierenden Sprache der Literatur, um zu neuen und anderen ungewissen Gewißheiten zu gelangen. Denn, und das schließlich ist das kaum zu erklärende Wunder, in Sebalds Erzählwelt fühlen wir uns immer so sicher aufgehoben wie Dante an der Hand von Vergil wenn nicht gar wie in Abrahams sprichwörtlichem Schoß.

Freitag, 20. Februar 2009

Nithart

- Matthias Grünewald auch Mathis Gothart oder Nithart, ca. 1460 – 1528, ein deutscher Maler. Das schöpferische Erscheinungsbild Grünewalds ist äußerst widersprüchlich. In seinen politischen Ansichten war er offenbar ein Parteigänger der Bauernbewegung, der politische Kampf und die sozialen Widersprüche der Epoche der Bauerkriege aber spiegeln sich in seinem Werk in überspannten, phantastischen und nicht selten krankhaften Bildern. Grünewalds Werk ist in hohem Maße von Pessimismus und mystischer Exaltation gekennzeichnet und stellt bevorzugt Szenen des Todes und des Leidens &c. dar. Dabei mischt sich Grünewalds Phantastik mit realistischen Zügen, lebendigen Detailbeobachtungen und grellen volkstümlichen Abbildungen der Heiligen, des Christus und seiner Mutter Maria. Die satirische Zeichnung Dreifaltigkeit belegt Grünewalds antikatholischen Überzeugungen.

- geriet Grünewald ins Gespräch mit Sebald


Eine der vielen mit der Endlichkeit des Menschen verbundene Unannehmlichkeit ist, daß wir von unseren Dichtern nicht genug bekommen von dem, was wir brauchen. Ich habe Menschen getroffen, die, nachdem sie Antwerpen schon Hunderte von Malen mit dem Auto umfahren hatten, nach der Lektüre der ersten Seiten von Austerlitz sogleich in den Zug gestiegen sind, um den Bahnhof mit eigenen Augen zu sehen. Naturgemäß hegen sie den Wunsch, Sebald hätte Wortbilder aller Bahnhöfe der Welt in seiner Prosa hinterlassen. Eine bei weitem größere Sehnsucht noch erwecken die Bildbeschreibungen, die Zahl der Maler aber, denen Sebald nachgehen konnte, ist klein. Vorn an steht Mattias Grünewald, dessen Leben und Werk er mit Wie der Schnee auf den Alpen gleich die erste veröffentlichte dichterische Arbeit gewidmet hat. Er konnte sich dabei aufbauen auf die treffsicheren Erkundungen der Balschaja Sawjetskaja Enziklapedija, dreizehnter Band ГРОЗА bis ДЕМOС aus dem Jahre neunzehnhundertundzweiundfünfzig. Nur geringe Ergänzungen und Ausschmückungen hatte der Dichter noch zu erbringen.

Auf der linken Tafel tritt uns der hl. Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten. Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weibliche Zügen. – Die lyrische Erzählung vom Meister Grünewald Wie der Schnee auf den Alpen eröffnet mit dem Blick auf eine Lichtgestalt, es wird der einzige Einfall des Lichts bleiben. Der androgyne Georgius Miles ist offenbar auf dem Sprung, die Welt des Mittelalters zu verlassen, dessen Vertreter ihn umringen in Gestalt der heiligen Nothelfer. Die vierzehn Nothelfer schauen ein jeder in eine andere Richtung, ohne daß wir verstünden, warum. Die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe hingegen stecken am Rand der linken Tafel hinter dem Rücken des Georg ihre gleichförmigen orientalische Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammen. Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter. Von Grünewald wird es heißen, er habe ein melancholisches Leben geführt und sei übel verheurathet gewesen. Wie seine Bilder erweisen, hatte er ein besseres Auge für die Männer, deren Gesichter und ganze Körperlichkeit er mit unendlicher Hingabe ausfüllte, während die Frauen fast alle verhüllt sind und ihn somit der Angst entheben, genauer sie ansehen zu müssen.

Der ruhig auf seinem Podest stehende Heilige Antonius der ersten Schauseite des Altars des Antoniterklosters in Isenheim bleibt unberücksichtigt, nicht zu reden vom Engelskonzert der zweiten Schauseite, und auf der dritten Seite zieht nicht so der vor einer zerrissenen Landschaft gesetzte, aber doch in davon unberührter, maßvoller Unterhaltung mit dem Eremiten Paulus abgebildete Antonius auf der linken Tafel die Aufmerksamkeit des Dichters auf sich, als vielmehr der schlimmen Peinigungen ausgesetzte Heilige auf der rechten Tafel. Ein grausiges Monstrum schleift ihn am Schopf dahin, darüber erhebt sich eine doppelköpfige, mehrarmige Kreatur, im Begriff, dem Heiligen mit einem Kieferknochen den Garaus zu machen, Nasen, aus denen Rotz rinnt, Haar und Hörner, Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse, dieses ist dem Maler die Schöpfung, Bild unserer irren Anwesenheit auf der Oberfläche der Erde: die Sprache verfehlt nicht die Raserei des Bildes, sondern übertrifft sie womöglich noch. 

Wie der Schnee auf den Alpen ist eine Einladung zum Aufenthalt im Mittelalter, wer wollte da nicht dem Heiligen Georg folgen und mit ihm über die Schwelle des Rahmens treten. hinaus in einen vermuteten besseren Zustand der Welt. Auch der Maler des Georg weiß, der alte Rock reißt, fürchtet sich aber vor der Neige der Zeit.

Bei Grünewald begegnen sich die Heiligen Georg und Antonius nicht, Pisanello aber hat das Zusammentreffen der beiden festgehalten: Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der hl. Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia — sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken.

Zur Linken die alte Welt in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld. Das Böse hat sein Leben ausgehaucht. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind verbleibt im Schwebezustand darüber. Ein Augenblick der Ausgewogenheit, wie ihn die Prosa Sebalds thematisch immer wieder anstrebt und sprachlich dauerhaft aufrecht erhält, der aber den thematisierten historischen Augenblick nicht überleben kann. Auf Rembrandts Prosekturbild Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp müssen wir erkennen, wie das Neue das Alte unerkannt mit sich fortschleppt: Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus.

Der Maler Aurach, der, anders als Selysses, die Fortführung und Steigerung des archaischen Grauens am eigenen Leibe erfahren hat, erkennt die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben sich wie eine Krankheit ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes Grünewald als ihm selbst von Grund auf gemäß. Vom Heiligen Georg und seiner Weltbalance ist dabei nicht mehr die Rede, sondern nur von der Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückfluten in die menschlichen Todesfiguren.


Es heißt, Sebald habe seine Vornamen gehaßt und daher als Dichter mit W.G. firmiert und im Privaten auf Max zurückgegriffen. Um den Namen Winfried mag es bestellt sein, wie es will, Georg aber, auf den nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt, ist der ihm zugefallene Identifikationspunkt und wandert als Emblem der Hoffnung durch das Werk.

Unverraten

Anläßlich Christian Wirths Zusammenstellung von Sebalds Bildbeschreibungen samt der zugehörigen Bildreferenzen, in die sich jeder zu seinem Seelenheil nicht weniger als einmal täglich vertiefen sollte

… I'm praising beauty
and people call me traitor to my face




In seinem Aufsatz Art History as Ekphrasis schreibt Jaś Elsner, Association of Art Historians 2010, an zentraler Stelle: The enormity of the descriptive act cannot be exaggerated or overstated. It constitutes a movement from art to text, from visual to verbal, that is inevitably a betrayal. Verrat, denn während wir über das Bildwerk sprechen, können wir nicht bei dem bleiben, was es ist. Man schreckt auf im ersten Augenblick, wer läßt sich gern des Verrats beschuldigen, und fragt sich nur einen Augenblick später, ob das radikal genug gesagt ist. Gibt es denn überhaupt eine Form, ein Kunstwerk nicht zu verraten? Um es vorwegzunehmen: Bei Sebalds Bildbesprechungen haben wir ein starkes Empfinden nicht verratener Kunst so wie wir in seinen großen Büchern das starke Empfinden einer nicht verratenen Welt haben. Dabei war Sebald sich der verletzenden Dimension der Worte sehr bewußt und spricht, eine seiner Bildbeschreibung einleitend, darauf an: Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen.

Es gibt es zwei grundsätzliche Weisen des Umgangs mit einem Kunstwerk, man kann es beachten oder man kann oder muß es unbeachtet lassen. Das Gefühl des Versagens und des Verrats gegenüber all den unübersehbar vielen Kunstwerken, präkolumbianische und subhimalayische, die wir in unserem begrenzten Leben nicht beachten können, ist so spontan wie evident und daher weiter nicht zu erörtern. Beachten wir andererseits ein Kunstwerk und betrachten es richtig, so müssen wir es auch bedenken, die Gedanken ziehen Worte an sich, und der Verrat im Übergang from visual to verbal hat stattgefunden, ob wir das Gedachte nun aufschreiben oder nicht. Ein Dilemma offenbar, nahe der Frage, ob unser Dasein nicht in jedem Fall eine Verletzung der Welt und damit ein Verrat an ihr ist. Draw a distinction, Spencer Browns Aufforderung, die logische Welt, die Welt des Logos, zu betreten wird von Luhmann gedeutet als Aufforderung, der Welt eine erste Wunde zuzufügen, sie zu verletzen. Offenbar haben wir den Gedanken der Erbsünde voreilig aufgegeben und sollten uns lieber fragen auch nach der sündhaften Schuld der Ungeborenen und der Toten, die die Welt durch mangelnde Aufmerksamkeit verraten.

Ein Bild, das wir in einem anderen Zusammenhang schon ausführlich mit den Augen Sebalds betrachtet haben. Rembrandts Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp hat eine tiefgehende Verletzung als Bildgegenstand: Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus - und eine tiefgehende psychische Aufruhr des Betrachters als Folge: Ich bin daher in einer ziemlich schlechten Verfassung gewesen, als ich am nächsten Vormittag im Mauritshuis vor dem beinahe vier Quadratmeter großen Gruppenporträt Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp stand. Obzwar ich eigens wegen dieses Bildes, das mich in den nächsten Jahren noch viel beschäftigte, nach Den Haag gekommen war, gelang es mir in meinem übernächtigten Zustand auf keine Weise, angesichts des unter den Blicken der Chirurgengilde ausgestreckt daliegenden Prosektursubjekts irgendeinen Gedanken zu fassen. Vielmehr fühlte ich mich, ohne daß ich genau gewußt hätte warum, von der Darstellung derart angegriffen, daß ich später bald eine Stunde brauchte, bis ich mich vor Jacob van Ruisdaels Ansicht von Haarlem mit Bleichfeldern einigermaßen wieder beruhigte.

Wenn Sebald hinter dem Forschungsdrang der neuen Wissenschaft das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen und die Peinigung des Fleisches aufspürt, so verharrt er auf der Seite der alten Welt. Im Kriminalroman erlebt die Figur des sezierenden Gerichtsmediziners gegenwärtig eine ungeahnte Hausse, es fehlt nicht viel, und sie hat den herkömmlichen Kommissar in eine Nebenrolle verwiesen. Genau dort, wo Sebald noch die alte Schuld aufspürt, will das säkularisierte Milieu völlige Unschuld der modernen Welt in ihren umfassenden Therapieansätzen und ihrem das Verbrechen heilenden Wissenschaftsbetrieb sehen und sei es auch in der leidenschaftslosen Prosektur allem Menschlichen schon ferner Leichenreste.


Sebalds Meditation über Pisanellos San Giorgio con capello di paglia rückt eine Gegenüberstellung der beiden Welten ins Licht der frühen Morgenröte der Moderne: Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der hl. Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappello di paglia — sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken.

Zur Linken die alte Welt in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld. Das Böse hat sein Leben ausgehaucht. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind verbleibt im Schwebezustand darüber. Das alles wird nicht ausgedeutet, nicht gesagt, die künstlerische Sprache versucht die Mimikry des reinen Schauens. Sie verletzt nicht, tupft nur an, verharrt für einen Augenblick staunend am Detail der cappella di paglia und verflüchtigt sich. Damit ist auf engem Raum und leichthin die aufwendigere Fluchtbewegung aus dem ersten Beispiel nachvollzogen, fort vom aufwühlenden Rembrandt hin zum beruhigenden Ruisdal.

Sebalds künstlerische Meditation zu einem Bild von Valckenborch läßt sich als Fortsetzung der Pisanellomeditation lesen: Aus dem düsteren Himmel über dem Turm der Kathedrale Zu Unserer Lieben Frau geht gerade ein Schneeschauer nieder, und dort draußen auf dem Strom, auf den wir jetzt dreihundert Jahre später hinausblicken vergnügen sich die Antwerpener auf dem Eis, gemeines Volk in erdfarbenen Kitteln und vornehmere Personen mit schwarzen Umhängen und weißen Spitzenkrausen um den Hals. Im Vordergrund, gegen den rechten Bildrand zu, ist eine Dame zu Fall gekommen. Sie trägt ein kanariengelbes Kleid; der Kavalier, der sich besorgt über sie beugt, eine rote, in dem fahlen Licht sehr auffällige Hose. Wenn ich nun dort hinausschaue und an dieses Gemälde und seine winzigen Figuren denke, dann kommt es mir vor, als sei der von Lucas van Valckenborch dargestellte Augenblick niemals vergangen, als sei die kanariengelbe Dame gerade jetzt erst gestürzt oder in Ohnmacht gesunken, die schwarze Samthaube eben erst seitwärts von ihrem Kopf weggerollt, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen.


Pisanellos Bild erfaßte, im schauenden Auge Sebalds, einen geschichtliche Augenblick ausgewogener Balance, a short reign of decency in history, ein Augenblick, dessen Kürze im am Detail des Strohhutes ein wenig ratlos abgleitenden Blick zu spüren ist. Über Valckenborchs Panoramabild schwebt die Jungfrau mit dem Erlöserkind schon längst nicht mehr, der Blick wird zielstrebig zu einem winzigen Detail geführt, einem Unfall, einer kleinen Wunde im Bild, die sich, während der Rest des Bildes verschwindet, verewigt und ins Riesenhafte wächst, so als sei sie durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen, die große Wunde, zu der unsere verratene Welt geworden ist, und über die in der Manier Giottos zu klagen uns nicht mehr erlaubt ist, auch wenn die Rede ist von der unverminderten Kraft der Farben der Fresken des Malers Giotto und von der immer noch neuartigen Bestimmtheit, die über jedem Schritt, jedem Gesichtszug der in ihnen gebannten Figuren waltet. Wie ich dann, hereingetreten aus der Hitze, die an diesem Tag in den frühen Morgenstunden schon über der Stadt lastete, tatsächlich im Inneren der Kapelle vor den vom Gesims bis zum Bodensaum in vier Reihen sich hinziehenden Wandbildern stand, erstaunte mich am meisten die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können?Zurecht gilt die Vorstellung von einer heilen Welt, angesichts ihrer offenbaren Verstümmelung als der schlimmste Verrat, als Ausschlußkriterium der Kunst und doch ist die Kunst der Versuch, sich der Welt zu nähern, ohne sie zu verletzen, und die zutiefst verletzte Welt zu beklagen und nach Möglichkeit zu heilen. Sebalds Bücher sind Elegien, small wonder, wenn ihm Giottos Engel als das weitaus Wunderbarste von allem gelten, was wir uns jemals haben ausdenken können. Vielleicht noch um einiges vorsichtiger und auf Vermeidung von Verletzungen bedacht muß die Kunst sein, wenn sie sich mit der Kunst beschäftigt, zumal in unserer Zeit, wo weder die Jungfrau mit dem Erlöserkind noch die mit weißen Flügeln, darin wenige hellgrüne Spuren der Veroneser Erde, ausgestatteten Engel noch sichtbar über uns schweben und die in den Kunstwerken verwahrte Erinnerung an sie reichen muß.


Donnerstag, 19. Februar 2009

Il Giocondo

Das Lächeln der Sätze


Ein Rezensent glaubt in einem der Gedichte des posthumen Bandes Über das Land und das Wasser Spuren von Humor bei diesem, wie er meint, ansonsten humorfreien Autor festgestellt zu haben, das ist grotesk. Wir haben die Photoserie von Christian Scholz aus dem Jahre 1997, die einen Sebald in verschiedenen Abstufungen des Lächelns zeigt, und wenn er nicht lacht, so zeigen doch die feinen Augenfalten unmißverständlich die Befähigung an. Falls auch nur irgendein Zusammenhang zwischen einem Dichtwerk und seinem Autor besteht, und in radikaler Form ist das bislang nicht bestritten worden, so kann Sebalds Werk gar nicht humorlos sein, und hier soll die unmittelbare Gegenthese vertreten werden, daß bei ihm kaum ein Satz aufzutreiben ist, der nachweislich kein Lächeln enthält. Allerdings ist das Lächeln oft so fein dosiert, daß sich auch der Gegenbeweis nicht eindeutig führen läßt. Die Zahl der ungeschminkt witzigen Stellen aber ist groß. Sebald ist ein, oft unmerklich, lächelnder, bisweilen lachender Autor. Zumal der Prosaerstling Schwindel.Gefühle ist so sehr Komödie, wie es ein ernst zu nehmender Blick auf die Welt nur zuläßt.

Beispiele aggressiven Humor sind eher selten. Zu nennen wäre der Brotzeitmachende auf der Fahrt nach Kissingen in der Erzählung Max Aurach: Schwer vor sich hin schnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum. Die Beine gespreizt saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen. Oder, wohl nicht zufällig wieder die süddeutsche Heimatregion betreffend: So bin ich vor ein paar Jahren nach einer im Hotel Kaiserin Elisabeth in Starnberg verbrachten unguten Nacht aus dem endlich gefundenen Morgenschlaf gerissen worden von einem Radiowecker, in dessem scheppernden Inneren zwei solche Rottachtaler Volksmusiksänger, die ich mir nach den Klängen, die sie hervorbrachten, nur als verwachsen und bresthaft vorstellen konnte, eines ihrer lustigen Stanzllieder sangen, in dem Marder vorkamen und Füchse und allerlei anderes Getier, und von dem jede der zahlreichen Strophen endete mit einem Holadrüjühü, Holladrijo.

Dominierend ist der liebevolle Humor. Greifen wir Ciorans Verehrungstheorie noch einmal auf: Wenn wir jemanden hoch verehren, kommt er uns näher, wenn er etwas seiner Unwürdiges tut. Er gibt uns damit Urlaub von der Last der Verehrung. Und von diesem Augenblick an empfinden wir ihm gegenüber eine echte Anhänglichkeit, und formen sie vereinfachend um: Wenn wir jemand lieben, so zwingen seine Schwächenunserer Anhänglichkeit ein Lächeln ab.

Falls das zutrifft, ist Kafka vielleicht der Mensch, den Sebald am meisten geliebt hat. Die ganze Erzählung Dr. K.s Badereise nach Riva spielt sich ab im Medium eines feinen liebevollen Spotts. Dr. K. entwickelt eine fragmentarische Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Darum hielten fast alle Liebenden, und es gäbe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe ist, weit aufgerissen vor Gier. Auf dem See seien sie ja tatsächlich fast körperlos und hätten eine naturgemäße Einsicht in die Geringfügigkeit ihrer eigenen Bedeutung. Entsprechend diesen aus dem Wunschdenken des Dr. K. sich ergebenden Ausführungen vereinbarten sie beide, daß keiner den Namen des anderen weitergeben dürfe, daß kein Bild, kein Fetzchen Papier, kein geschriebenes Wort ausgetauscht werden solle. Manchmal nimmt die Fröhlichkeit bedenkliche Ausmaße an, so wenn zu einem Bild von Desenzano bemerkt wird, die dort zusehenden Menschen hätten sich zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterversicherung auf dem Marktplatz versammelt. Nicht bekannt ist, wie lange sie an diesem Nachmittag nach dem Prager Vicesekretär noch Ausschau gehalten haben und wann sie enttäuscht wieder auseinander gegangen sind.

Und ähnlich Stendhal in der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe: Er kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus der Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. Er beglückwünschte sich selbst zu dem patenten Arrangement, Métilde hingegen, die sich, wie man sich leicht denken kann, durch diese Veranstaltung Beyles als kompromittiert empfand, bedachte ihn mit einem sehr trockenen Billet, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Nicht nur die Dichterkollegen, längst nicht alle, aber auch nicht wenige, erfahren das liebevolle, von Spott nicht ganz freie Lächeln, sondern auch die Lehrer, bei weitem nicht alle, aber doch einige wenige. Tatsächlich ist der Paul Bereyter oft über unsere Begriffsstutzigkeit in Verzweiflung geraten. Er griff sich dann mit der linken Hand ins Haar, so daß dieses gleich einem dramatischen Akzent nach oben stand. Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit in es hinein. Dann putzte er hingebungsvoll seine Brille, als sei er froh, uns eine Weile nicht sehen zu müssen. – Ein neben der Tür angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde vom Paul, wie ich mehrfach gesehen habe, rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Gießkanne bis zum Rand gefüllt. Nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche, die er stets in einer schwarzglänzenden, schweinsledernen Aktentasche bei sich führte, zum Einsatz zu bringen.

In Austerlitz ist es der Lehrer Hilary, der des öfteren, wahrscheinlich wegen eines Bandscheibenleidens, an dem er laborierte, auf dem Rücken am Fußboden liegend seinen Stoff uns vortrug, was wir in keiner Weise als komisch empfanden – eine Negierung des komischen Elements, die es nur zusätzlich unterstreicht.

Im Ritorno in Patria hofft der kleine Selysses das Fräulein Rauch mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in seine Schulhefte für immer einzuspinnen und zu verstricken. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können. Das Lächeln betrifft hier allerdings mehr den kleinen Selysses als die Lehrerin, und die Stelle wurde vor allem erwähnt um überzuleiten zu der Beobachtung einer Verbindung des Humors mit dem Element der unerfüllten Erotik des flüchtigen Augenblicks, wie man es von Proust gut kennt, dort allerdings ohne viel Gelächter.

Die Beispiele sind gesammelt bei den Empfangsdamen. Das ausführlichste und schönste Beispiel ist die Begegnung mit der Wirtin Luciana Michelotti im Hotel Sole in Limone (SG). Bei der Schilderung des verlorenen Passes nimmt die Komik durchaus offene Züge an. Im Zuge der Beschaffung eines provisorischen Notdokumentes wiederholt sich dann gleichsam die Trauung mit dem Fräulein Rosa: Als ich, diese Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es mir, als seien wir von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo wir wollten. Die mich mit einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllende Vorstellung hielt allerdings nicht lange an.

Das erotische Element, ob man es nun glaubt oder nicht – grad wie der Humor wird es bei Sebald gern bis an die Wahrnehmungsschwelle zurückgetrieben -, ist auch im Spiel bei der Begegnung mit der verschreckten jungen Frau im so gut wie verlassenen Hotel in Lowestoft, wird aber alsbald überlagert von einem geradezu wuchtigen Stück Spaßes: Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die später in dem großen Speisesaal, in dem ich an jenem Abend als einziger Gast saß, meine Bestellung entgegennahm und die mir bald darauf einen gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstandes vorzudringen, daß mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips (RS).


Die Szene beim Engelwirt in Wertach, wohin Selysses gleichsam als der Jäger Gracchus zurückkehrt, grenzt für Sebalds Verhältnisse fast schon an Pornographie, so als wäre mit knapper Not nur eine Vergewaltigung vermieden worden: Die Rezeptionsdame blätterte vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber.

Nicht den Regeln des flüchtigen Augenblicks unterworfen ist die langjährige Kollegin Janine Rosalind Dakyns an der University of East Anglia und mithin die Schilderung in den Ringen des Saturn der wahrhaften Papierlandschaft ihres Arbeitszimmers mit Bergen und Tälern sowie Gletschern und Endmuränen ein über mehrere Seiten bis hin zur Dürerschen Melancholie sich stetig steigernder liebevoller humoristischer Ritt ganz ohne erotische Abirrung RS).

Humor kann sich, auch dann wenn er Frauen betrifft, ebenso gut mit dem Gegenteil von Erotik verbinden, was immer das dann im einzelnen sein mag, verliert in diesem Fall aber alle Freundlichkeit: Mary Frances FitzGerald, die Mutter Edward FitzGeralds, war zweifellos eine der finanzkräftigsten Frauen des Königreichs und hatte eingedenk des Familienwahlspruchs stesso sangue, stessa sorte ihren Vetter John Purcell geehelicht. Überlieferte Porträtdarstellungen zeigen sie als eine Dame von mächtigem Format, mit starken, abfallenden Schultern und einer geradezu furchteinflößenden Büste, die für viele Zeitgenossen eine verblüffende Ähnlichkeit aufwies mit dem Herzog von Wellington (RS).

Nicht zuletzt trifft das Lächeln Sebald selbst in der Gestalt des Selysses, wir hatten schon das Beispiel des Fräulein Rosa. Ein weiteres Beispiel zum kleinen Selysses: Das Zitherspiel ist für mich eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank, an der man sich vergebens verrenkte und die einem die Finger krumm werden ließ (CS).

Und der Heranwachsende: Es folgte eine kurze Phase der inneren Amerikanisierung meiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, und die ihren Höhepunkt erreichte zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Der erwachsene Selysses schließlich: Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht (SG).

Und wie ist es mit Sebald selbst? Könnte es ein, daß die Freude, la joie, die bei Cioran nicht oft, dann aber umso überraschender Einzug in sein finsteres und wüstes Dunkel hält, beim ebenfalls für dunkel geltenden Sebald als ein feines Leuchten über den Sätzen liegt? Freude über das Gelingen, Freude am endlosen Spiel der Anspielungen, eine gewisse Form der Selbstverliebtheit womöglich und mithin eine Eigenschaft, die, wie auch die Arroganz, gern zu leicht und unzweideutig der Schadensseite zugewiesen wird, ohne daß zuvor groß nach ihrem Recht gefragt worden wäre. Wenn wir schon den schreibenden Sebald unterscheiden vom erzählten Selysses und beide vom unbekannten Sebald in ihrem Rücken, warum dann vom schreibenden nicht noch einmal den sich selbst lesenden und hörenden unterscheiden, und warum sollte dem ersten Leser seiner Bücher das Recht des Lächelns verwehrt sein, das wir so gern in Anspruch nehmen. Die Sätze würden ein Lächeln des Autors hervorrufen, und sein Lächeln würde zum festen Teil der Sätze werden. Sollte denn nicht über dem ersten Satz von Austerlitz, um nur dieses Beispiel zu nehmen, ausgehend von dem Einschub „teilweise aus anderen, mir selbst nicht recht erfindlichen Gründen“ ein feines Lächeln sich legen? Das alte Rätsel des Lächelns des Giocondo wäre damit gelöst und endgültig zurückgewiesen wären Untersuchungen, die auf eine Fazialislähmung als mögliche Ursache hinweisen, oder auch, als Ergebnis einer anderen Forschungsanstrengung, auf den Verlust der Schneidezähne. Die kleinen Sebaldstücke wiederum sind so konzipiert, daß allein vom spöttischen Teil des Lächelns ein schwacher Abglanz sie treffen kann.


Mittwoch, 18. Februar 2009

Oneiroi


Es una merla: cada any n’és una de diferent;

Sóc jo el qui invento, busco un teatre, mites i somnis.

Das Leben ein Traum, die Literatur hat schon immer eine besondere Nähe zur Traumwelt verspürt, und tatsächlich sind wir nachts, ob wir es nun wollen oder nicht, allesamt Fiktionalisten. Elena Esposito hält es, wenn sie von der Fiktion der wahrscheinlichen Realität spricht, nicht für einen Zufall, daß in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit den Arbeiten Pascals und Fermats die Wahrscheinlichkeitstheorie und mit Madame de Lafayettes La Princesse de Clèves der moderne Roman gleichzeitig einsetzen, zwei Verfahren der Realitätsverdoppelung und -vermehrung mit dem Ziel einer Reduktion der Zukunftsunsicherheit. Hier war der Traum natürlich schon lange zuvor und überaus erfolgreich vorausgegangen, hatte doch die zielsichere Bestimmung der Zukunft aus dem Pharaonentraum Joseph eine der auffälligsten Beamtenkarrieren des Altertums ermöglicht, ein wahrhaft würdiger Anlaß für Thomas Mann wiederum, dem in einem modernen Roman noch einmal sorgfältig nachzugehen.

Es sei falsch, führt Elena Esposito weiter aus, von einer realen und mehreren sie ergänzenden weniger realen Realitäten auszugehen, vielmehr würden die virtuellen Begleitrealitäten ständig auf die reale Realität einwirken und mit ihr zu einer realen Gesamtrealität verschmelzen. Sie ist damit weniger radikal als Baudrillard, der nicht die Begleitrealitäten in der realen, sondern die reale in den Begleitrealitäten verschwinden sieht und mit seiner Einlassung, der Irakkrieg habe gar nicht stattgefunden, dann doch für Irritationen gesorgt hat.

Was nun Sebald anbelangt, um den allein es hier geht, so beginnen seine Bücher oft mit einer Einnebelung und damit Reduzierung der Realität und Bedeutung der realen Realität. Selysses ist in einen psychischen Ausnahmezustand versetzt. Hätte man die Wege, die ich damals gegangen bin, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgegebenen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- oder Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden, heißt es zu Beginn der Erzählung All’Estero, der Titel des Gehamtwerkes, Schwindel.Gefühle, ist programmatisch. Und die Ringe des Saturn: In der krankhaften Haltung eines Wesens, das sich zum erstenmal von der ebenen Erde erhoben hat, stand ich dann gegen die Glasscheibe gelehnt und mußte unwillkürlich an die Szene denken, in der der arme Gregor, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt. In Austerlitz wird sofort die unwirkliche Stimmung des Antwerpener Nachtzoos über die Erzählung gelegt. Die glasklaren, keine Einzelheit auslassenden Sätze durchforschen eine im Dunst kaum erkennbare Wirklichkeit, das macht manchen Leser ratlos. Der gut orientierte Leser fragt sich, was Traumschilderungen in diesem traumnahen Universum noch bewirken können, sind sie überflüssig oder eine naturgemäße Ergänzung. Jedenfalls treffen wir auf sie und können uns fragen, warum.

Der psychisch bereits angegriffene Selysses hat auf der Zugfahrt von Wien nach Venedig einen Traum: Es ist im Schlaf gewesen, während draußen alles längst in Dunkelheit eingetaucht war, daß ich ein seither unvergeßliches Landschaftsbild gesehen habe. Über den Dächern erhoben sich dunkel bewaldete Kogel, die schwarzgezackte Höhenlinie wie ausgeschnitten aus dem Gegenschein des Abendlichts. Zuoberst aber glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Es bestand für mich im Traum keinerlei Zweifel, daß es sich bei dem Vulkan um den Schneeberg handelte. Austerlitz sieht den Traum später gleichsam aus der Ferne ein weiteres Mal: Aus der Vogelperspektive sah ich eine lichtlose Landschaft, durch die ein sehr kleiner Eisenbahnzug dahineilte, zwölf erdfarbene Miniaturwaggons und eine kohlschwarze Lokomotive unter einer nach rückwärts gewandten Rauchfahne, deren Spitze, wie eine große Straußenfeder, fortwährend hin und her gerissen wurde bei der geschwinden Fahrt. Dann wieder Wolkengebirge am Horizont weit über den Dächern und Windmühlen, deren breite Segel, Schlag für Schlag, das Morgengrauen durchteilten.

Das Erwachen führt nicht unmittelbar in die reale Realität zurück, der Traum spiegelt sich vielmehr in einer anderen, im Kunstwerk, einem Gemälde Tiepolos verwahrten Begleitrealität: Es zeigte die von der Pest heimgesuchte Stadt Este. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Zur Linken, kniend, die heilige Thekla, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht.

Der qualmende Gipfel kehrt zurück an einer späteren Stelle der Schwindel.Gefühle in Form einer Postkarte, die den kleinen Selysses in W. zu Tagträumen veranlaßt: Sie zeigte den rauchenden Kegel des Vesuv und ist, ich weiß nicht auf welche Weise, in das Photoalbum der Eltern geraten und so in meinen Besitz gekommen. Das Traumbild ist damit fest in der Kindheit verankert.

Ganz am Ende des Buches fällt Selysses über der Lektüre des Tagebuchs von Samuel Pepys in den Schlaf. Es träumte mir, daß ich durch eine bergige Gegend gegangen bin, und die mit feinem weißen Schotter bedeckte Straße führte durch einen tiefen Einschnitt auf die andere Seite des Gebirges hinüber, das, wie ich im Traum wußte, die Alpen gewesen sind. Es herrschte die äußerste Stille, denn auch die letzten Spuren des Pflanzenlebens, das letzte raschelnde Blatt oder Rindenfetzchen waren längst verweht. Als ein fast vergangenes Echo kehrten sodann in diese atemlose Leere die Worte zurück, Fragmente aus dem Bericht über das große Feuer von London. Zu Hunderten die toten Tauben auf dem Pflaster, das Federkleid versengt. Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Und anderen Tags ein stiller Aschenregen – westwärts, bis über Windsor Park hinaus. - 2013 -

Von der schwarzgezackten Höhenlinie bis zur ausgezackten Feuerwand, eine der vielen verborgenen Motivfäden, die das auf den ersten Blick wenig verbundene Buch träumerisch zusammenschnüren, und dieser führt immerhin zum ultimativen Finale, dem geträumten wenn nicht erträumten Weltuntergang im Jahre 2013.

Alle Prosaarbeiten Sebalds fiktionalisieren die reale Realität des sebaldnahen Erzählers, Selysses, aber dessen reale Realität besteht überwiegend aus Zusatzrealitäten. Selysses versenkt sich in die Erinnerung seiner Kindheit, ihm wird erzählt von seinen Verwandten in Amerika, von Selwyn, von Austerlitz. Ihm werden Tagebücher anvertraut, das des Ambros Adelwarth oder das der Mutter Max Aurachs, er refiktionalisiert Gelesenes, Stendhals Leben, Joseph Conrad in Afrika und in der Ukraine, die Kaiserin von China. Er träumt, ihm werden Träume erzählt. Er schreibt alles auf. Selysses verläßt seine reale Welt vollständig, um sich rückhaltlos in Bilder der Hochkunst zu vertiefen, oder, mit nicht geringerer Intensität und Leidenschaft, in Atlanten oder läppische Postkarten. Das gesamte Caseman-Conrad-Kapitel in den Ringen des Saturn ist sozusagen Wiedergutmachung für einen fehlplazierten Traum: Obschon die Bilder mich sogleich in den Bann zogen, bin ich in dem grünen Samtfauteuil, den ich vor den Fernseher gerückt hatte, bald schon in einen tiefen Schlaf gesunken. Und als ich Stunden später aus einem schweren Traum erwachte, habe ich versucht, die (unverantwortlicherweise, wie ich meine – glücklicherweise, wie wir, die Leser entgegenhalten möchten) verschlafene Geschichte aus den Quellen einigermaßen zu rekonstruieren. – Es ist die im Sinne Elena Espositos an Zusatzwelten überreiche Welt des als Selysses autofiktionalisierten Sebald, die die verständigen unter seinen Leser in Bann hält.

Casanova begegnet uns zweimal in Sebalds Werk, beide Mal nicht mit den Obliegenheiten, für die sein Name sprichwörtlich geworden ist. In den Schwindel.Gefühlen treffen wir ihn refiktionalisiert aus seinen Werken als Gefangenen unter den Bleidächern des Dogenpalastes, in Austerlitz erscheint er uns in einem Traum des Titelhelden: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt, und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort. – Die Realität des Schriftstellers hat sich fast gänzlich in die Welt der Buchstaben aufgelöst, eine Schreckensvision, der Sebald in Logis in einem Landhaus bereits am Beispiel Rousseaus eingegangen war, auf ihre Art anstoßend an die Virtualitätsüberlegungen Baudrillards oder Virilios. Die einleitende Vision der Vernichtung der Realität durch ihre literarischen Simulakren geht nahtlos über in die Vision einer vollständigen Vernichtung, ganz in der Art, wie wir sie schon kennen aus den Schwindel.Gefühlen: Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich mir in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub.

Zwei Stränge vereinen sich und führen auf die Katastrophenvision zu, der sich leerschreibende und auf diese Weise des Lebens entledigende Schriftsteller, der suchende Denker, der Mensch überhaupt in der Hilflosigkeit seiner Gedanken, denn nicht nur Casanova ist gemeint, sondern auch Austerlitz selbst, und die Welt mit ihrem schier endlosen Bestand an Greueln. Die Verlagerung in einen Traum mildert naturgemäß den Vernichtungswunsch, und wenn auch der Elan der Prosa auf das Ende der Welt zielt, wird ohnehin im letzten Augenblick abgebremst, in London beschränkt sich das Verderben auf eine Strecke bis über Windsor Park hinaus und in der Tschechei auf alles ringsum.

Der Maler Aurach in den Ausgewanderten träumt einen in seinem Verlauf gänzlich anderen Traum der aber gleichwohl verborgene Ähnlichkeiten aufweist: Durch eine, wie die Königin Victoria mir gegenüber bemerkte, mit erstaunlicher Kunstfertigkeit gemalte trompe-l’œil- Türe gelangten wir in ein tief verstaubtes, seit Jahren offenbar nicht mehr betretenes Kabinett, das ich nach einigem Zögern erkannte als das Wohnzimmer meiner Eltern. Ein wenig seitwärts auf dem Kanapee saß ein mir fremder Herr und hielt ein Model des Tempels Salomonis auf dem Schoß. Frohmann aus Drohobycz gebürtig sagte er und erläuterte sodann, wie er dem Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht.

Wenn Casanova seine lebendige Realität entleert und den Buchstaben geopfert hatte, so ist hier die Kunst von allem entleert zugunsten des Auftrages einer getreuen Wiederherstellung des Untergegangenen. Das Traumhafte ihres Charakters verbleibt allein im Miniaturhaften der Gestalt, so wie andererseits das Miniaturhafte, wir hatten an dem Eisenbahnzügelchen gesehen, Merkmal des Traums sein kann. Cosmos und Adelwarth hatten in der Max Aurach vorausgehenden Erzählung Ambros Adelwarth vermittels einer Reise in der realen Realität nicht auffinden können: Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In den Ringen des Saturn verpflanzt Alec Garrad den Modellbau des Jerusalemer Tempels aus dem Traum in die reale Realität. Spiel der Realitäten mit der Realität und in der Realität. – Die Kunst als Miniaturimitat des Verschwundenen, das ist eine gewichtige Stelle, eine Traumstelle, aber keineswegs das letzte Wort. Sebalds Sätze rücken der Realität immer wieder so nahe, als wollten sie sie imitieren, auch wenn das der Sprache völlig unmöglich ist, und gleiten im gleichen Augenblick in ganz andere Richtungen und Bereiche.

Meine Träume und Halluzinationen, faßt Michael Hamburger in den Ringen des Saturn ausdrücklich zusammen und sieht in beiden weithin versagende Werkzeuge der Erinnerung. Die Dichtung, der Dichter versucht alles zu umspannen und auszuhelfen und gerät dadurch in eine labyrinthische, hilflose Situation: Als ich von diesem Aussichtsposten herabblickte, sah ich auch das Labyrinth selber, ein im Vergleich mit den Irrwegen, die ich zurückgelegt hatte, einfaches Muster, von dem ich im Traum mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn. – Labyrinthisch und doch zu einfach für die Welt, unser Gehirn, auch dieser Traum des Selysses endet in einer Katastrophe: Gleich unterhalb der Klippen aber lagen die Trümmer eines zerborstenen Hauses. Zwischen Mauerbruchstücken, Stiegengeländern, umgekippten Badewannen und verbogenen Heizungsrohren waren eingeklemmt die seltsam verrenkten Leiber der Bewohner.

Auch für Austerlitz sind die Träume eher untaugliche Wege der Erinnerung: Mitten in diesen Träumen habe er hinter seinen Augen gespürt, wie die Bilder, die von einer überwältigenden Unmittelbarkeit gewesen sind förmlich aus ihm sich vorschoben, davon aber nach dem Erwachen kaum eines auch nur in Umrissen festhalten können. Oder: Teils bin ich schlaflos gelegen, teils geplagt worden von unguten Träumen, in denen ich treppauf und treppab gehen und vergeblich an Hunderten von Türen läuten mußte: der Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren schon ausgestorben, höchstens, daß hie und da noch ein alter Papagei überlebe, welcher noch etliche Worte ihrer Sprache versteht. Für Michael Hamburger ergibt sich in den Träumen ein ständiges Schwanken zwischen der verlorenen Berliner Kindheit und dem englischen Exil: Meine Halluzinationen und Träume spielen häufig in einer Umgebung, deren Merkmale teilweise auf die Weltstadt Berlin, teilweise auf das ländliche Suffolk verweisen. Es braucht in der Traumzeit wohl eine Stunde und mehr, bis ich begreife, daß ich mich nicht in dem Haus in Middleton, sondern in der weitläufigen Wohnung der Eltern in der Bleibtreustraße befinde.

Besonderer Erwähnung bedarf noch der Traum des Selysses in Deauville in der Basse-Normandie unweit Prousts Balbec-Cabourg. Während der großbürgerliche Proust im ungeschmälerten Wachzustand Einzug hält im Grand Hotel, um sich im Schatten junger Mädchenblüte zu erfrischen, gelingt Sebald, aus einfachen Verhältnissen aus Wertach im Allgäu stammend, Entsprechendes nur im Traum und er vermag in dem Hotel überdies wegen Überfüllung auch gegen ein horrendes Bestechungsgeld nur in einem Abstellraum eine Pritsche zu ergattern, die wie ein Gepäcknetz hoch an der Wand angebracht war. Gleichwohl läßt er es auf einen Wettstreit der Dekadenz mit dem großen Sucher nach der verlorenen Zeit ankommen und obsiegt im Augenblick des Erwachens mithilfe eines weißen Kaninchens von der Art, wie sie sich aus dem Hut zaubern läßt, und eines Blumenkohls, Requisiten, die zu besorgen Proust versäumt hatte: Eine österreichische Gräfin, femme au passé obscur, von unvergleichlicher Unergründlichkeit, hielt Hof in einer der etwas abgelegenen Ecken. Eine ungeheuer feingliedrige, beinahe transparente Person in grau- und braunseidenen Moirékleidern. Niemand kannte ihren wirklichen Namen, niemand vermochte ihr Alter zu schätzen oder wußte, ob sie ledig, verheiratet oder verwitwet war. Zum letzten Mal erblickte ich sie, als ich, aus dem Deauviller Traum wieder erwacht, ans Fenster meines Hotelzimmers getreten war. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt kam sie daher, mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine. Außerdem hatte sie einen giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt. – Eine Katastrophe anderer Art als Vulkan und Feuer. Ein Gran von Verstellung im Tragischen, eine Spur von Spiel im Unheilbaren – bei Sebald ist es wohl eher ein wenig mehr vom alten Apotheker- und Heilgewicht. Die Freude, dieser einzig echte Sieg über die Welt, Schatten junger Mädchenblüte, kein freudevollerer Buchtitel läßt sich denken und Freude läßt sich auch aus den Sebalds Sätzen heraussieben.