Samstag, 23. April 2011

Charisma

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Eine furchtbare Bergwerksexplosion in Wigan fordert zweihundert Menschenleben; in Rumelien kommt es zu einem Aufstand der Mohammedaner; in Südafrika müssen die Kaffernunruhen niedergeschlagen werden; ein Dienstmädchen in Whitby verbrennt bei lebendigen Leib, weil ihr Kleid, über das sie versehentlich Paraffinöl ausgegossen hat, am offenen Kamin Feuer fängt: wenn jede beliebige Ausgabe des Tagblattes den trügerischen Schleier der Sicherheit zerreißen kann, so bedarf es in den Stürmen und Flauten der Seefahrt nicht einmal dessen, und es ist Aufgabe und Kunst des Kapitäns, aus den Fährnissen verschiedenster Art das Gespenst der Meuterei nicht aufsteigen zu lassen. Zwischen Juli und Anfang September 1883 macht Korzeniowski, als Zweiter Offizier noch, auf dem zwischen Lowestoft und Newcastle hin- und herfahrenden Frachter Skimmer of the Sea ein halbes Dutzend Touren. Im Februar 1890, also fünfzehn Jahre nach dem Abschied auf dem Krakauer Bahnhof, kehrt Korzeniowski, der inzwischen die britische Staatsbürgerschaft und das Kapitänspatent erworben hat und in den fernsten Teilen der Welt gewesen ist, erstmals in die polnische Heimat zurück, nach Kazimierowska in das Haus seines Onkels. Bereits vor seiner Reise nach Polen und in die Ukraine hatte sich Korzeniowski aber um eine Anstellung bei der Société Anonyme pour le Commerce du Haut-Congo bemüht und erhielt nach der Rückkehr ohne weiteres das Kommando eines am Oberlauf des Kongo verkehrenden Dampfbootes, wahrscheinlich weil dessen Kapitän gerade von den Eingeborenen umgebracht worden war. Alle die Korzeniowski kannten aus dieser Zeit, bestätigen ihm den höchsten Autoritätsgrad als Seemann und Kapitän. Warum dulden alle so völlig fraglos sein Regiment? Es ist zweifellos: nur seines Blickes wegen. Wenn man in die Kapitänskajüte kommt, sitzt er in Uniform an dem Schreibtisch, die Feder in der Hand. Förmlichkeiten oder gar Komödiespielen liebt er nicht, er schreibt also nicht etwa weiter und läßt den Besucher warten, sondern unterbricht die Arbeit sofort und lehnt sich zurück, die Feder allerdings behält er in der Hand. Nun sieht er zurückgelehnt, die Linke in der Hosentasche den Besucher an. Der Besucher oder Bittsteller hat den Eindruck, daß der Kapitän mehr sieht als nur ihn, den für ein Weilchen aus der Menge aufgetauchten Unbekannten, denn warum würde ihn denn der Kapitän so genau und lange und stumm ansehn. Es ist auch kein scharfer prüfender sich einbohrender Blick, wie man ihn vielleicht auf einen Einzelnen richten kann, sondern es ist ein nachlässiger, schweifender, allerdings aber unablässiger Blick, ein Blick, mit dem man etwa die Bewegungen einer Menschenmenge in der Ferne beobachten würde. Und dieser lange Blick ist ununterbrochen begleitet von einem unbestimmten Lächeln, das bald Ironie bald träumendes Erinnern zu sein scheint. 

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