Dienstag, 7. Juni 2011

Asketen

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Mehr als alles andere zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Jahraus, jahrein trug er, seit ich ihn kannte, abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Ja, sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben. Als ich gelegentlich zu ihm sagte, daß er sich wohl die Anweisungen des Tertullian für ein asketisches Leben zu Herzen genommen habe und in der Strenge der Enthaltsamkeit dem heiligen Antonius kaum nachstünde, da antwortete er mir lachend, ein Asket oder Hungerkünstler sei er keineswegs. Die Unersättlichsten von allen seien nämlich manche Asketen, sie machten Hungerstrike auf allen Gebieten des Lebens und wollten dadurch gleichzeitig Folgendes erreichen: Einmal solle eine Stimme sagen: Genug, Du hast genug gefastet, jetzt darfst Du essen wie die andern und es wird nicht als Essen angerechnet werde. Weiter aber solle die gleiche Stimme gleichzeitig sagen: Jetzt hast Du solange unter Zwang gefastet, von jetzt an wirst Du mit Freude fasten, es wird süßer als Speise sein (gleichzeitig aber wirst Du auch wirklich essen) und schließlich solle die gleiche Stimme gleichzeitig sagen: Du hast die Welt besiegt, ich enthebe Dich ihrer, des Essens und des Fastens (gleichzeitig aber wirst Du sowohl fasten als essen). Zudem komme noch eine seit jeher zu ihnen redende unablässige Stimme: Du fastest zwar nicht vollständig, aber Du hast den guten Willen, und der genügt. Ihm aber sei im Gegensatz zu diesen gleichsam philosophischen Asketen die Bedürfnislosigkeit nichts anderes als ein einfaches Bedürfnis.

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