Donnerstag, 30. Juni 2011

Drei Kreise

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Bald darauf ist er eines Tages plötzlich verschwunden gewesen. Ich weiß nicht, wo überall und wie lang nach ihm gesucht wurde, nur daß ich ihn nach zwei, drei Tagen endlich im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt habe. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren auf ihrem Weg zu fernen Häfen. Als ich ihn fragte, zu welchem Zweck er hier herauf gegangen sei, sagte er, er habe nach seinem Bruder schauen wollen. Einen solchen Bruder aber hat es nie gegeben. Minuten verstrichen, nichts deutete darauf hin, daß er sich meiner Anwesenheit noch bewußt war, dann begann er vor sich hin zu sprechen, leise, aber doch wie zu einem Zuhörer. In seinem Fall könne man sich drei Kreise denken, einen innersten Kreis, dann den mittleren, dann den äußeren. Der Kern erklärt dem mittleren Kreis, warum dieser Mensch sich quälen und sich mißtrauen muß, warum er verzichten muß, warum er nicht leben darf. (War nicht z. B. Diogenes in diesem Sinne schwer krank? Wer von uns wäre nicht glücklich unter dem strahlenden Blick Alexanders gewesen? Diogenes aber bat ihn verzweifelt die Sonne frei zu geben. Dieses Faß war von Gespenstern voll.) Dem äußeren Kreis, dem handelnden Menschen, wird nichts mehr erklärt, ihm befiehlt bloß schrecklich der mittlere; der äußere handelt unter schrecklichem Druck, aber mehr in Angst, als in Verständnis, er vertraut, er glaubt, daß der Kern dem mittleren Kreis alles erklärt und der mittlere Kreis alles richtig verstanden hat. All das trug er in einer ruhigen, überzeugten Weise vor, so daß man sich unwillkürlich fragte, ob es einen Sinn haben könne. Einen Sinn hatte es ohne jeden Zweifel.

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