Samstag, 11. Juni 2011

Schlange und Schwein

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Hinter einem niedrigen Feld lagerte da eine an die hundert Stück zählende Schweineherde auf der von ein paar mageren Kamillenbüschen bewachsenen braunen Erde. Ich stieg über den Zaun und näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Langsam öffnete es, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr im mit der Hand über den staubbedeckten, unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr, bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch. Ich erinnerte mich an die Geschichte, die der heilige Evangelist Markus erzählt aus der Gegend der Gadarener. Der Tobsüchtige, von dem gesagt wird, er sei dem Nazarener entgegengelaufen aus den Gräbern, in denen er seine Behausung hatte, war, so heißt es, erfüllt von einer derart unbändigen Kraft, daß niemand ihn zu bändigen vermochte. Der Herr aber befiehlt den bösen Geistern hineinzufahren in die Sauherde, die daselbst auf der Weide ist. Und die Säue, von denen der Evangelist sagt, daß es an die zweitausend gewesen sind, stürzen sich von dem Abhang herab und ersaufen in der Flut. Handelt es bei dieser grauenvollen Geschichte um den Bericht eines glaubwürdigen Zeugen? Und wenn ja, bedeutet das nicht, daß unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen ist? Oder haben wir hier eine von dem Evangelisten bloß erfundene Parabel vor uns, die, wenn man es recht bedenkt, darauf hinausläuft, daß wir unseren kranken Menschenverstand immer wieder auslassen müssen an einer anderen, von uns für niedriger gehaltenen und für nichts als zerstörenswert erachteten Art. Ganz ähnliche Zweifel haben mich immer befallen beim Bericht der Genesis, der alle Schuld an dem rätselhaften Sündenfall und am seither andauernden Unheil der Menschheit der Schlange zuschiebt. Ich selbst habe keine ursprüngliche Abneigung oder gar Furcht vor Schlangen. Erst jetzt nachträglich stellt sich die Furcht ein. Das ist aber bei meiner Lage vielleicht selbstverständlich. Zunächst gibt es doch in der ganzen Stadt außer in Sammlungen oder einzelnen Geschäften gar keine Schlangen, mein Zimmer ist aber voll von ihnen. Es fing damit an, daß ich abends bei meinem Tisch saß und einen Brief schrieb. Ich habe kein Tintenfaß und benütze eine große Tintenflasche. Gerade wollte ich wieder eintauchen, da sehe ich, wie aus dem Flaschenhals der kleine zarte platte Kopf einer Schlange ragt. Ihr Körper hängt in die Flasche hinab und verschwindet unten in der stark bewegten Tinte. Das war doch sehr merkwürdig, aber ich hörte gleich auf es anzustarren, als mir einfiel, daß es vielleicht eine Giftschlange sein könnte, was sehr wahrscheinlich war, denn sie züngelte verdächtig und ein drohender dreifarbiger Stern auf dem Rücken verhieß nichts Gutes.

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