Mittwoch, 30. September 2009

Was fehlt

white from winter


Wer, vielleicht noch ohne allzu große Erfahrung im Leben und im Lesen, sich an Prousts Recherche du temps perdu wagt, mag erschrecken, wenn er die minutiöse und, wie es scheint, völlig lückenlose Schilderung des Einschlafens in Combray verfolgt: hat hier vielleicht ein Dichter die schier unglaubliche Aufgabe gelöst, ALLES zu schreiben, und so seine Kollegen auf immer brotlos gemacht und uns Leser, die wir auf Wandel aus sind, schlimm beraubt? Das Erschrecken kann nur kurz sein, die Welt ist Selektion, dem kann kein Mensch und kein Dichter entkommen, alles kann nur sein, weil anderes nicht ist, das ist überdeutlich gerade im Reich der Formen, und die Selektivität der viertausendseitigen Recherche ist, aufs Ganze gesehen, nur in vernachlässigbarer Weise geringer als die eines Haiku.


Eine größere Aufgabe als die, über das zu schreiben, worüber ein Dichter geschrieben hat, wäre es mithin, über das zu schreiben, worüber er nicht geschrieben hat – bei Licht besehen, angesichts der verschwindenden Geringfügigkeit des Etwas gegenüber dem Nichts, nur ein weiterer Versuch, ALLES zu schreiben. Aber es kann auch gar nicht um das große Nichts gehen, sondern nur um die kleinen Nihiles an den Rändern des Etwas, und die sind in der Tat von nicht geringer Aussagekraft. Was Sebald anbelangt, so wurde diese Aufgabe hier auch schon angefaßt. So wurde festgestellt, daß Selysses, obwohl ständig unterwegs, doch nur verhältnismäßig wenige Länder bereist hat; der Fülle der Tiere steht eine verschwindend geringe Zahl von Menschenkindern gegenüber; die vielen Wirtinnen dominieren die wenigen Ehefrauen erbarmungslos, und die Zahl der Heiligen ist überraschenderweise größer als die der Berufstätigen. Vertreter der Gerechtigkeit haben bemängelt, daß Sebald in seinen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen keine einzige Frau berücksichtigt.

Die Sprache, anders als die Musik, steht unter dem Gesetz fehlender Gleichzeitigkeit. Nur unter Verzicht auf fast alles Sagbare läßt sich überhaupt irgend etwas sagen und durch das Nadelöhr des Augenblicks fädeln, nur jeweils ein Laut im kurzen Augenblick und im längeren Augenblick nur das jeweils eine Wort unter Verzicht auf die Millionen anderen im Wartestand, und dann immer nur der jeweils eine Satz unter Verzicht auf viermal unendliche viele Sätze, deren Geburt noch aussteht. - Aber genau das weckt die Vorstellung, man könne vielleicht doch alles sagen, wenn nur hinreichend Zeit wäre.

Sebald ist ein Dichter von der Art Prousts, und sehen wir ihn durch den Rauch seiner Zigarette, so scheint es, als könne er jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und uns als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen. Hätte er aber noch fünf oder gar zehn weitere Bücher schreiben können, die Struktur seiner Texte hätte sich nur so langsam verändert und erweitert wie ein Korallenriff, die bekannten Nihiles wären nicht plötzlich verschwunden, und das große Meer des Nihil hätte von allem gar nichts wahrgenommen.


Und doch heißt es, Parallelen treffen sich im Unendlichen, und wenn der Dichter unsterblich wäre, würde seine Schreiblinie irgendwann mit der Seinslinie der Welt zusammenfallen, und er vermöchte ALLES zu schreiben. Unter den unwandelbaren Gesetzen von Demokratie und Gleichberechtigung, müßten wir dann allerdings auch für uns die Unsterblichkeit einfordern, und dann wären die Regeln des Spiels gründlich verändert. Das Aussterben der uns bekannten Berufstätigkeit könnte der Dichter in Ruhe abwarten, bevor er sie denn noch beschreiben müßte, Kinder wären pärßee - wie es in der ja wirklich wunderschönen Schweiz heißt - fehl an Platz im Reich der Unsterblichen, und auch die Institution der Ehe müßte sich von Grund auf ändern und schneller, als das schon jetzt der Fall ist. Auch unsterblich hätte Sebald vieles nicht geschrieben von dem, was er nicht geschrieben hat, da es aus der Welt gefallen wäre. Können wir folgern, daß er sich auch als Sterblicher von den ewigen Dingen angezogen fühlte? - Da er aber, wie nur zu gut bekannt, bereits 2001 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, sind diese Erwägungen und Spekulationen samt und sonders und von Grund auf überflüssig.

Die angehaltene Zeit

Zeiten und Orte

Ci vediamo a Gerusalemme

Sebald gilt als Dichter der Erinnerung und damit auch als Dichter der Zeit und der Suche nach ihr. Der sebaldnahe Erzähler im Text, Selysses, ist immer unterwegs und auf Wanderschaft zu verschiedenen Orten, also wohl ein Vertreter und Liebhaber des Raums.


In seinem Aufsatz Einbruch der Gegenwart in die Ordnung des Raums, Zum Topographischen in Benjamins Geschichtsdenken zitiert Stephan Braese aus Stephan Zweigs Die Welt von Gestern: Redlich meinten unsere Väter, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsam Humane und damit Frieden und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt werden.

In diesem Textstück erscheint eine auf einen säkularen, positiven Endpunkt hin ausgerichtete homogenisierte Zeit, Zeit in der die Form der gemeinen Utopie. Das ist offenbar nicht die Zeit der Erinnerung. Die Utopie verlangt den festen Blick nach vorn und angelangt an dem von ihr bezeichneten Punkt, wer möchte noch zurückschauen. Hinter ihm läge nur Schlimmes und vor ihm ein klares immergleiches Heute. Die Erinnerung lebt nicht in der Zeit, sondern in verschiedenen Zeiten.

Die Grenzen verschwinden ebenfalls in diesem Text, der Raum ist entkonkretisiert und homogenisiert, wohin sollte Selysses da noch reisen und wer wollte ihm folgen auf Wanderungen in dieser topographischen Wüste. Säkulare Heilsversprechen Utopien, die die Zeit gleichrichten und den Raum entleeren, tun der Poesie anscheinend nicht gut. Man könnte meinen, Selysses habe poetologische Gründe für den resoluten Stop der Weltzeit im Jahre 2013. Die Zeit kann nicht weiter entrinnen, die Orte sind bewahrt, die Welt des Dichter besteht.

Anläßlich eines Aufenthaltes des Selysses in Spanien, der nicht sattgefunden hat, wurden Bezüge zu Benjamins Säkularisierungsüberlegungen erahnt. Anders als Carl Schmitt, der das Erbe der heiligen Versprechen in die Politik verlagert, sieht Benjamin Überlebensräume des Sakralen in der säkularisierten, profanen Welt vor.

Ohne das im einzelnen weiter zu verfolgen, ist festzuhalten und auch auf andere Weise evident: die Religion wurde eingangs der Neuzeit und in ihrem weiteren Verlauf offenbar geschwächt. Teile ihres Erbes gingen an die Politik, andere an die Kunst. Wer die Politik als Haupterbin sieht, verlangt wohl auch nach politisch engagierter Kunst. Sebald ist in seinen Prosawerken kein politisch engagierter Autor, auch wenn es in den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen oft anders aussehen mag. Auf der anderen Seite hat er nicht wenig vom religiösen Erbe unmittelbar in seine Prosakunst eingebunden. Dem erinnernd Zurückblickenden steht das Heilige sozusagen unübersehbar auf dem Weg. Säkulare Heilsversprechen um den Preis des Vergessens werden zurückgewiesen. - Wie dem im einzelnen auch sei, anders als der Philosoph oder gar der Wissenschaftler muß sich der Dichter keine Klarheit verschaffen über die unklare Welt, als Epiker kann er sie unverändert in seine Erzählwelt übertragen. Der Leser muß diese Erzählwelt als die seine erkennen oder als ihm nicht gemäß zurückweisen, in ihr für mehr Klarheit zu sorgen als der Dichter selbst, ist nicht seine genuine Aufgabe.

Sebald eröffnet sein dichterisches Gesamtwerk mit einem Heiligentableau, Matthias Grünewalds Altar in der Pfarrkirche von Lindenhardt. Die klassischen Heiligen sind verwahrt in den Werken der Hochkunst. Viele der Reisen und Wallfahrten des Selysses gelten den Verwahrorten der Kunstwerke und der Heiligen darin, Isenheim, Verona, Padua, Den Haag, London, diese Stätten nicht zuletzt sind das Ziel seiner Reisen und Wallfahrten. Orte und Städte wie Verona oder gar London blühen in ihrer Gegenwart und Vergangenheit auch auf andere Weise auf in der Prosa, aber nirgends ist die Vergangenheit dichter und heller eingeschlossen, die Zeit zuverlässiger eingekapselt als in den Kunstwerken und zumal in den Heiligenbildern. San Giorgio con capello di paglia ist in der Londoner Nationalgalerie nicht an seinem Platz und zudem nicht an seinem gewohnten Platz, er war wegen Umbauarbeiten in einem schlecht beleuchteten Raum des Untergeschosses aufgehängt worden. Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild hatte man bedauerlicherweise in einen viel zu schweren Goldrahmen aus dem letzten Jahrhundert eingezwängt – anhaben können all diese Unbilden dem Heiligen Georg nichts.

Die in den Kunstwerken wohnenden Heiligen sind Leuchttürme im Meer des zu Erinnernden, ihr Licht fällt auf die seltsamen Heiligen, die ohne sie womöglich gar nicht als solche erkennbar wären. Sie aufzusuchen an den Orten, wo sie leben oder lebten, sei es im Staat New York, in der Ortschaft W. im Allgäu, in Norditalien und, in übergroßer Zahl, im englischen Südosten, ist der häufigste Reiseanlaß des Selysses. Die klassischen Heiligen strahlen hell aus der dunklen Vergangenheit und ihn ihrem Widerschein glimmt das immer unschuldiger werdende Leben der seltsamen Heiligen der Gegenwart, ihr Abglanz fällt auf den Text und uns. Dieses Scheinen ist Widerpart der ganz und gar und in allen ihren Details auf dem Prinzip der Verbrennung beruhenden, unaufhaltsam verglosenden zivilisatorischen Neuzeit. Stilistisch wird dieses Scheinen zum Lächeln der Sätze, die uns so freundlich empfangen und betreuen. Die Idee der Prosa aber fällt, wie Benjamin uns versichert, mit der messianischen Idee der Universalgeschichte zusammen, zeigt sich als Sprache, die von allen Menschen verstanden wird, wie die Sprache der Vögel von den Sonntagskindern.

Die Zeit fließt nicht dahin, angelagert an Orte kommt sie zum Stillstand. Die verschiedenen Zeiten schieben sich als Bilder über- und ineinander. In W. ist Selysses er selbst, sein eigener knabenhafter Vorgänger und auch der eigene Großvater: Wenn er es sich recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus seiner Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. - Während einserseits also ein Ort die Zeit in verschiedenen ihrer Zustände an sich binden und damit anhalten kann, vermag die Zeit ihrerseits die Orte überblenden und zwischen ihnen verschwinden: Meine Halluzinationen und Träume spielen häufig in einer Umgebung, deren Merkmale teilweise auf die Weltstadt Berlin, teilweise auf das ländliche Suffolk verweisen. Ich stehe beispielsweise an einem Fenster unseres Hauses, aber der Blick geht nicht auf die vertrauten Marschwiesen, sondern auf eine Schrebergartenkolonie, durch die eine schnurgerade Autoverkehrsstraße hindurchführt, auf der schwarze Droschken stadtauswärts sausen in Richtung Wannsee.

Wenn die Orte mit ihren Heiligen und Seltsamen Heiligen sich zu Seltsamen Attraktoren der Zeit entwickeln, so bildet das Jahr 2013 als eine Art Staumauer, die die Zeit sammelt und die leeren und falsch laufenden Utopien der Politik unterbricht. Offenbar aber ist diese Mauer nicht das Ende, dafür ist Sebalds Erzählwelt, die uns an diese Grenze führt, zu freundlich. Bei Sebald hat man das Gefühl, das Bild könne sich jederzeit drehen, alles könne neu anlaufen und uns in eine Welt versetzen, die nicht die der Vergangenheit aber auch keine Verlängerung der gegenwärtig laufenden ist. Es müßte sich vermutlich um kaum weniger als ein Reich Gottes, um das neue Jerusalem handeln.

Das wahre Jerusalem freilich ist nur eine große, niederschmetternde Enttäuschung. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.

Seltsamen Heilige, Alec Garrad im Leben und Frohmann, aus Drohobycz gebürtig, im Traum basteln an einem neuen Jerusalem im kleinen Format. Frohmann erläuterte, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Das wahre Kunstwerk restituiert alte und wahre Verheißungen als Miniatur, durch rückwärts gewandtes, verkleinerndes Sakralbasteln als Gegenlauf zur gigantomanischen Technik.

Das sind Stimmen, die aus dem Text zu uns sprechen wollen, sie murmeln in their different ways, wir können ihnen lauschen in our different ways, sie verkünden keine erlernbaren Wahrheiten und schon gar nicht erteilen sie uns Lebensratschläge oder Wegweisungen.

Dienstag, 29. September 2009

Worte & Bilder

Was wir lieben

Treu d'un calaix on guarda vells records unes fotografies i me les mostra

Der Gedanke an Sebald ist für seine Freunde gleichbedeutend mit dem an seine Prosa, sie denken kaum an die Bilder, die den Texten zahlreich beigegeben sind. Würden sie aber auf eine von den Bildern befreite Ausgabe der Prosawerke stoßen, träte ein nicht geringes Unwohlsein auf. Die Verzichtbarkeit und zugleich Unverzichtbarkeit der Bilder kann ein erster Hinweis auf ihren Status sein. Kehrt man von den Prosawerken zurück zum unbebilderten Elementargedicht Nach der Natur, fühlt man sich geradezu betrogen und unnötig sekkiert. Wer schon hat den Lindenhardter Altar so klar vor Augen, daß er sich ohne unterstützende Abbildung sicher zurechtfinden würde unter all den Heiligen und Nothelferinnen, die der Text aufruft?


Das freilich ist, wie kurzes Nachdenken zeigt, eine fehlgehende Erwartung. Auch in den Prosawerken bleiben Werke der Hochkunst, wie Pisanellos San Giorgio con cappella di paglia, die Gegenstand einer Bildmeditation Sebalds sind, überwiegend ohne Abbildungsunterstützung. Aus Giottos Gli angeli visitano la scena della dizgrazia sind nur die Engel herausgeschnitten und flattern jeder für sich eingesperrt in einem kleinen Käfig, die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde, die das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können, sind nicht zu sehen. Das Unrecht das eine Schwarzweißreproduktion den Gemälden antut – die Aufnahme farbiger Bilder in den Sebaldtext aber ist ausgeschlossen - ist sicher ein Grund für den Verzicht, wenn auch nicht der einzige. In den Ringen des Saturn ist Rembrandts Prosekturgemälde in zwei Anläufen dargestellt, aber hier geht es um die Dokumentierung verschiedener außerkünstlerischer Einzelheiten und insbesondere um die in einem realistischen Sinne absichtlich falsch gemalte Hand.

Mit nicht geringerer Intensität als in Werke der Hochkunst versenkt sich Sebald in triviale Bilddarstellungen, etwa, als Austerlitz, in das der Wüste Sinai in der ihm von Miss Parry geschenkten, eigens für den Kindergebrauch gedachten, großgedruckten Ausgabe der Geschichte Moses oder, unterwegs als Selysses, in die alte Postkarte mit der Darstellung des Cimitero di Staglieno in Genua. Hier ist die Bildunterstützung des Textes nahezu zwingend, denn so gut wie kein Leser kennt das Besprochene. Vielleicht, so mag man denken, hat Sebald an Stellen wie diesen, einer Notwendigkeit folgend, mit der Bebilderung begonnen, um dann aus der Not eine künstlerische Tugend zu machen, denn die Kunst, die um das Zusammenspiel von Freiheit und Gefangenschaft weiß, folgt nicht gern dem schieren Diktat des Zwangs. Besonders in den Schwindel.Gefühlen finden sich zahlreiche Beispiele reinen Bildübermuts, Abbildungen von Einlaßbillets, Pizzarechnungen, provisorischen Ausweispapieren, Nachweise von Wirklichkeit, gerade an den Stellen, wo daran kein Bedarf besteht, in Wahrheit also schalkhafte Unterspülung des Realitätsbegriffes in der Literatur und Steigerung der Heiterkeit, die den Text ohnehin belebt, man denke nur an die Szene des verlorenen Passes. Die Dokumentation des nicht Bezweifelten stärkt zunächst das Vertrauen auch in die Dokumentation des Fiktiven, etwa das Agendabuch des Ambros Adelwarth, und ist die Falschheit hier durchschaut, fällt der Schatten des Verdachts zurück bis auf das Biglietto d'ingresso. - Durch die Wiedergabe beschädigt werden können in ihrer bildnerischen Belanglosigkeit weder der notwendige Sinai noch die ganz und gar entbehrliche Pizzarechnung.

Die Gelüste sind erweckt, wenn wir schon, ohne es zu wollen, Billets, Pizzarechnungen und provisorischen Ausweispapieren betrachten, dann wollen wir auch Luciana Michelotti und die Engelwirtin sehen, die aber werden uns vorenthalten, und, wie wir nach kurzer Überlegung einräumen müssen, zu Recht. Die so freundliche scheue Erotisierung der Luciana-Episode und die kaum spürbare und leicht verworfene Erotisierung der Engelwirtin-Episode könnten einer offenen Abbildung nicht standhalten. Die Bilder können in unterschiedliche Beziehungen zu Text treten, sie können ihn unterstützen oder ergänzen, sie können mit ihm spielen, wo ihm nach Spiel zu Mute ist, sie dürfen ihn aber nicht stören oder gar beschädigen. Dort wo die Menschen verschwunden sind, und die Worte schweigen möchten, können die Bilder auch an die Stelle des Textes treten. Als Austerlitz Theresienstadt besucht, haben wir die Seite 275 mit einem leichten Übergewicht des Textes, dann die Seiten 276 und 277 mit insgesamt zwei Zeilen Text, die Seiten 278 und 279 ohne Text und auf den Seiten 280 bis 282 beruhigt sich die Situation wieder mit einem leichten Übergewicht des Textes.

Wir sind eingetreten in einen Katalog der Beziehungsformen zwischen Text und Bild und könnten ihn erweitern, verschieben das aber auf einen anderen Tag und fragen uns statt dessen nach dem, was wir lieben. Wir lieben die Monotonie des Textbildes in den Büchern, das Grau der langen Buchstabenreihen. Wir lieben das Schweigen und die Sinnlosigkeit der Phoneme, die wir in dieser Weise im gesprochenen Wort nicht genießen können. Stumm und spröde liegen sie da, und nur wir können lesend ihren Sinn entschlüsseln und aufrufen. Wir lieben die Steigerung dieser Situation, den Verzicht auf Absätze, auf die Zerstückelung des Textbildes durch direkte Rede und Dialog, wir lieben Proust, Weiss, Bernhard. Wir lieben die Ästhetik der Monotonie, tausendzweihundert Seiten Text in ununterbrochener Abfolge und spüren doch Widerstand und Angst. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann wurde das in mir aufgetauchte Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. – Die Bebilderung der Prosa ist wie das Eingangsbillet zum Museum, sie befreit uns von unserer allzu strengen Sehnsucht und erleichtert uns die Liebe zu dem, was wir lieben. Die Bilder erleichtern uns die Liebe zum Text und nehmen sie uns nicht, es bleibt beim Grau, farbige Bilder sind undenkbar, die grauen Bilder schwimmen mit im grauen Text, es bleibt beim unaufhaltsamen Sog der entzifferten Worte, aber Auge und Hirn atmen auf. 

Lieber Leser – wir lieben es nicht, wenn uns der Autor herausruft aus seinem Buch, um mit uns zu plaudern. Aber: CALL ME ISHMAEL – dermaßen fährt uns der unerwartete, unmittelbar an Dich, an mich gerichtete Anruf in die Glieder, daß wir uns erst beruhigen, wenn wir das Buch nach vierhundert Seiten schließen. Die Bilder in Sebalds Büchern sprechen mit dem Text und treten so an die Stelle der gestrichenen Dialoge in direkter Rede. Die Bilder sprechen auch mit uns und rufen uns für Augenblicke heraus aus dem Text. Nicht auszuschließen, daß sie auch untereinander tuscheln hinter vorgehaltener Hand und hinter dem Rücken des Textes die Köpfe zu einer Verschwörung zusammenstecken. Sie haben dem Autor die Mühe des Schreibens erleichtert, und sie erleichtern uns die Mühe des Lesens. Was wir nicht lieben und doch vermissen, Dialog und Ansprache, haben wir zurück in einer Weise, die wir lieben.

Wir lieben es, auf Bücher zu schauen, die verschlossen sind für uns, auf Bücher in armenischer oder georgischer Schrift, immense Bücher womöglich, Bücher, die die Welt umstülpen können und die sicher sind vor uns und unserem geringen Verständnis. Wir lieben piktographische Alphabete, bei denen der Sinn durchzuschimmern scheint und sich doch entzieht. Wir stellen uns eine Ausgabe der Bücher Sebalds vor, die auf den Text verzichtet und eine solche mit Text in einem uns nicht zugänglichen Schriftbild, die, zusammen mit den Bildern, dann wohl piktographische Bücher heißen könnten. Wir stellen Sebalds Bücher ins Regal – immense Bücher, die unsere Welt verändert haben - und können sicher sein, sie schlafen friedlich als wir und sind doch bereit, uns in unseren Träumen zu helfen, und nach dem Erwachen gesellen sie sich wieder zu uns. Die Bilder beleuchten die Pfade der Nacht und führen uns zurück in die Klarheit des Tages, wenn wir das Agendabuch sehen, brechen wir auf in den Orient, der Ausweis besagt, wir sind in stiller Weise glücklich mit Luciana, den Sinai studieren wir im Hause des Predigers, und der Papagei auf der Schulter besagt, wir sind dem Paradies in Andromeda Lodge nahe.


Montag, 28. September 2009

To Vlemma tou Selyssea

Ara són un reflex als nostres ulls,
que busquem un indici de qui som


Muchas veces me he figurado ser únicamente dos pupilas

Sebalds Widerschein, der als Icherzähler die Prosabände zusammenhält, wurde mit Hinblick auf das Motiv des Wanderns und der Unrast sowie einiger ergänzender Assoziationen kurzerhand Selysses getauft. Hat Selysses bestimmte Konturen, entwickelt es sich, ist er überhaupt? Um dieser und anderen Fragen nachzugehen, sollen die Blickwinkel des Selysses in den einzelnen Erzählungen genauer erforscht werden.


Das Bild, das eine schwache Spiegelung des photographierenden Sebalds im Fenster des ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt zeigt, wirkt wie eine bewußte Enthüllung der Aufenthaltsweise des Autors in seinen Büchern.


Schwindel.Gefühle
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Die Ausgewanderten
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Die Ringe des Saturn
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Austerlitz
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Samstag, 26. September 2009

Schwindelgefühle

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Nei lueget mer dert di Barke, es dunkt ein, si chömm gar nid i ds Wasser, 's isch grad, wie wenn si im Dusem drüber würdi schümme.


Für einen Autor, der anscheinend ständig in der ersten Person von sich selbst spricht, gibt Sebald in seinem Prosawerk auffällig wenig von sich preis, fast gar nichts. Die Erzähltechnik ähnelt der einer subjektiven Kamera im Film. Chandlers Lady in the Lake ist in dieser Weise verfilmt worden mit Robert Montgomery als Philip Marlowe, wir bekommen ihn aber so gut wie nie zu sehen. Die Kamera scheint ständig zu seinen Augen hinauszuhalten, nur ab und zu huscht Montgomery als Widerschein in einem Spiegel oder einer Schaufensterscheibe sichtbar vorüber. Das ist natürlich für einen Schauspieler unbefriedigend, und auch der Zuschauer, der auf Montgomery vielleicht noch verzichten mag, wäre in den Chandlerverfilmungen mit Bogart oder Mitchum als Marlowe von dieser Art der optischen Reduktion des Helden wohl wenig erbaut gewesen. In Robert Altmanns Verfilmung des Long Goodbye käme in der schönen Schlußszene inmitten der mexikanischen Baumallee von Elliot Gould vielleicht grad einmal die Mundharmonika ins Bild, zu wenig im optischen Medium. Da die Worte Sichtbarkeit im direkten Sinne ohnehin nicht erzeugen – bei jeder Literaturverfilmung wird deutlich, wie viel wir hingeben müssen für das optische Mehr, das wir erhalten, die Sichtbarmachung ist immer ein brutaler Eingriff in den Zauber der Prosa* – da Sichtbarkeit der Prosa also fehlt, fällt die Unsichtbarkeit des Icherzählers, die, wiederum anders als im Film, auch nicht streng durchgehalten werden muß, zunächst gar nicht auf und wird auch auf die Dauer nicht im geringsten quälend. Der subjektive Film gilt zu recht als gescheitert, die analoge Worttechnik aber hat unüberbietbare Vorteile für Schriftsteller vom Typ Sebalds, denen es nicht darum geht, der Allgemeinheit die Schlünde ihres Inneren zu eröffnen.


Die Schwindel.Gefühle sind das Prosawerk, in dem Sebald noch am offensten von sich spricht, die Wortkamera ist aber auch hier kaum je auf ihn gerichtet, so wie Sebald ja auch auf den Photos, mit denen er seine Texte aufklöppelt, nur in Ausnahmefällen selbst erscheint. Das Bild, das, nach Art des Robert Montgomery im Film, eine schwache Spiegelung des photographierenden Sebalds im Fenster des ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt zeigt, wirkt wie eine bewußte Enthüllung der Aufenthaltsweise des Autors in seinen Büchern.

Wer ohne besondere Vorbereitung die Schwindel.Gefühle ein erstes Mal liest, mag mit einer dem Titel gemäßen Empfindung dastehen: was liest er da eigentlich? Vier grundlos unter einen übergreifenden Titel gebrachte Stücke? Natürlich bleibt nicht lange verborgen, daß All’estero und Ritorno in patria in einem Antworts- und Fortsetzungsverhältnis zueinander stehen, hinweg und zurück. Was aber sollen einleitend und unterbrechend Stendhal und Kafka bestellen? Andererseits trifft Stendhal bereits den Jäger Gracchus und seine Barke, die Kafka später dann erst erfunden hat, und befindet sich im Herbst des Jahres 1813 in einer anhaltend elegischen Stimmung, wie sie auch dem Buch insgesamt nicht fremd ist und bis exakt 2003 dauert. Später dann, in Wertach, tauchen wieder diverse Jäger auf mit nicht ganz klarer Beziehung zum Jäger Gracchus. Bald schon mag es scheinen, als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten.

Stendhal und Kafka werden mit dem inneren und belesenen Auge als zwei Gesichte des Selysses aus der Vergangenheit hervorgeholt, und gleichzeitig versucht Selysses sich selbst ins Auge zu fassen – oder auch nicht. Die Schwindel.Gefühle haben damit die gleiche Struktur wie das zuvor veröffentlichte Prosagedicht Nach der Natur. Der Maler Grünewald und der Naturforscher Steller waren hier die Gesichte des Selysses. Der Blick des Selysses geht also mindestens ebenso oft nach Innen wie nach Außen, als ein Blick auf etwas schon Gesehenes, als ein zweiter oder weiterer Blick, als das also, was in der Systemtheorie eine Beobachtung zweiter oder höherer Ordnung ist. Das ist nichts Ungewöhnliches, ein literarisches Werk nur aus ersten Blicken ist nicht gut denkbar und jeder zweite Blick hat einen ersten zur Voraussetzung. Der Blick des Selysses ist aber weit überdurchschnittlich oft nach Innen gerichtet, auf Dinge, die er oder andere zuvor bereits gesehen haben.

StendhalLeicht hätte Sebald die Zusammenhänge der vier Erzählansätze des Buches deutlicher machen können, wenn er etwa begonnen hätte: Als ich im Jahre 1980 nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an den naturgemäß ganz dem Stendhalismus und damit der Liebe, l'amour, und auch der Liebe zum Licht Italiens hingegebenen Henri Beyle, der zu den Teilnehmern der Alpenüberquerung Napoleons zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gehörte. Beyle hat sozusagen auch mir über die Alpen geholfen, allerdings waren zwei Anläufe erforderlich, und der Erfolg war insgesamt nicht durchschlagend.

Beyle gerät umgehend in Verwirrung beim rückwärtsgewandten inneren Blick, der indirekt auch zu dem des Selysses wird, als er versucht, die Alpenüberquerung zu Papier zu bringen: Die Notizen demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. So habe er sich eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt Ivrea nichts anderes vorstellte als die Kopie einer Gravure, auf die er dann bei der Durchsicht alter Papiere gestoßen war.

Was nun die Liebe anbelangt, Stendhals Thema vor allen anderen, so scheint sie wie auf sonst nichts auf den Augenschein angewiesen: Beyle war unfähig, auch nur ein paar Tage zu ertragen, ohne Métilde zu SEHEN. Die verwegene Veranstaltung, die er inszeniert, um ihrer optisch habhaft zu werden, führt dann aber seitens der sich als kompromittiert ansehenden zu einem sehr trockenen Billet, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Stendhal beschließt, seine exemplarisch dem ersten Blick verpflichtete militärische Karriere zu beenden, um ein überragender Meister des zweiten Blicks und der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Durch Überblendung seiner realen Geliebten wie Adèle Rebuffel oder Angéline Bereyter erschafft er sich das schöne Trugbild der Mme Gherardi, mit der er unter anderem die Frage erwägt, ob vielleicht die Liebe insgesamt auch nichts anders ist als eine Schimäre, ein Trugbild. Auf einer erdachten Reise mit der erdachten schönen Mme Gherardi hat er das der Zeit um hundert Jahre vorgreifende Gesicht des Jägers Gracchus, der ein originäres Gesicht Kafkas ist: Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der anscheinend auch vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken gerade eine Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme Gherardi fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug von Riva abzureisen.

Kafka
Die Kafkaerzählung hätte beginnen können: Als ich im Sommer 1987 ein zweites Mal nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an Franz Kafka, der im Herbst des Jahres 1913 im Hotel Sandwirth in Venedig logierte. Kafka, der sein Leid bei allen Licht- und Wetterverhältnissen unverändert mit sich der trug, verhalf mir auch wieder zurück, auf österreichischem Boden unterstützt dabei von Thomas Bernard, der bis zur deutschen Grenze den Schritt und den Tonfall von Il ritorno in patria vorgibt.

Stendhal betritt Kafkas Badereise nach Riva als Fachmann für militärische Fragen in den Darlegungen des Generals von Koch, Kafka seinerseits schließt sich dem Feldzug über die Alpen an, indem er sich einen imaginären schwarzen napoleonischen Feldherrenhut über das Bewußtsein stülpt. Das gehört zur äußeren Verklammerung der beiden Erzählungen.

Kafka leidet an Bedrücktheit und Sehstörungen. Das touristische Besichtigungsprogramm hält er sehr kurz, daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg über dem Eingang der Kapelle angesehen hätte, dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt. Er ist fasziniert von der neuzeitlichen Bildmaschine, dem Kinematographen und dem Doppelgänger- und Spiegelbilddrama La lezione dell’abisso: Mußte das Dr. K. nicht erscheinen als die Beschreibung eines Kampfes, wie in jenem anderen auf dem Laurenziberg, in welchem die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält, derart, daß der von seinem Begleiter in die Enge Getriebene zuletzt das Bekenntnis ablegen muß: Ich bin verlobt, ich gestehe es. Parallel zu Stendhals De l’amour entwickelt eine eigene fragmentarische Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Darum hielten fast alle Liebenden, und es gäbe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe ist, weit aufgerissen vor Gier – eine Theorie, die , obwohl von Augen und Blick dominiert, reichlich undurchsichtig bleibt. - Wenn nicht alles täuscht, so ist die Erzählung vom Leidensmann Franz K. in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze.

Stendhal und Kafka sind keine Dichter, die man als besonders eng verwandt ansehen möchte. In den Schwindel.Gefühlen treten sie auf als zwei Italienreisende, ein essentieller und ein zufälliger, der dann auch als der seltsamste Gast in Riva seit langem beurteilt wird. Es sind aber auch, und das ist die wesentlichere Gemeinsamkeit, zwei über die Maßen von der Liebessehnsucht Geplagte. Die nicht zu bereinigende Unübersichtlichkeit seiner Liebestheorie und Liebesrealität gebiert in ihrer Hilf- und Aussichtslosigkeit Jahre nach Kafkas Aufenthalt in Riva den Jäger Gracchus, dem, obwohl erst von Kafka ersonnen, auch Stendhal schon begegnet war am gleichen Ort, und dessen unablässige Fahrten nach der Vermutung des Selysses ihren Sinn haben in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen - ein Gesicht Kafkas also, das schemenhaft auch bereits ein Gesicht Stendhals war, auch nicht verständlicher als die Theorie der Liebe, auf Verstehen aber nicht mehr angewiesen, sondern aufgehoben zur endlosen Betrachtung im dichterischen Bild.

Selysses all’estero, primo tentativo
Selysses reist im Jahre 1980 wie Kafka über Wien nach Venedig. In Wien erwies sich gleich nach meiner Ankunft, daß mir die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten nun nicht mehr ausgefüllten Tage ungemein lang wurden, und daß ich tatsächlich nicht mehr wußte wohin mich wenden. Der übliche Tagesablauf des Dichters ist aufgeteilt in die primär dem zweiten Blick verpflichtete Tätigkeit des Schreibens und Lesens und der dem ersten Blick verpflichteten Gartenarbeit. Die Schwindelgefühle sind nicht zuletzt auf eine Durcheinandergeraten der Blickformen zurückzuführen.

Die Fahrt nach Venedig verbringt Selysses mit einem Traumgesicht. Ein reichlich kurzer erster Blick auf die Stadt: Als ich auf den Vorplatz der Ferrovia Santa Lucia hinaustrat, hing die Feuchtigkeit des Herbstmorgens noch dicht hinter den Häusern und über dem Großen Kanal. Schwer beladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei – gleitet schon bald ab in Tragtraumgesichte: il re Lodovico, Dante und zweite Blicke auf Grillparzer oder Casanova. Es schien mir damals, als könne man sich tatsächlich ohne weiteres durch Nachdenken und Sinnieren allein ums Leben bringen. Der Blick auf das Stehbuffet in der Ferrovia geht ohne Verzug über in eine Himmel und Hölle, Männer und Weiber nach Art des Hieronymus Bosch umfassende Vision, allerdings humoristisch zersetzt: Aus Leibeskräften mußte man zunächst sein Begehren zu einer der thronenden Frauen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich aus der Menge hervor- und in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden. Mit solcher Heftigkeit wurden die Gläser und Untertassen auf der marmornen Oberfläche des Buffets abgesetzt, daß man meinte, es sei darauf angelegt, alles bis zum Rand des Zerspringens zu bringen. Mein Cappuccino wurde serviert, und einen Augenblick war mir zumut, als hätte ich mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Immer wieder findet Selysses zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Wie ein Wolkenschatten über ein Feld, so legte sich über mich die Befürchtung, daß mir die beiden jungen Männer, die zu mit hinüberschauten, seit meiner Ankunft in Venedig mehrfach schon über den Weg gelaufen waren. Selysses erholt sich bei der Betrachtung eines San Giorgio-Bildes Pisanellos und ist erstaunt, wie der Maler es verstanden hat, den jäh heraus, seitwärts auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügige Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Diese erste Italienreise wird abgeschlossen mit einem sebaldtypischen verwegen schönen Satz, der hier dem zweiten Blick, dem nach innen gekehrten Nachtblick den Vorrang gibt gegenüber dem hellen Tagblick: Weit länger währt die Nacht der Zeit als deren Tagesspanne, und es weiß keiner, wann das Äquinoktium gewesen ist.

Selysses all’estero, secondo tentativo
Bei der zweiten Italienreise, sieben Jahre später, ist Selysses bei weiten wacher, ausgeglichner und aufgeräumter, die ersten Blicke sind häufiger und anhaltender, bei einem Dichter kann die Veränderung naturgemäß nur relativ sein.

Die Begegnung des Selysses mit der Wirtin Luciana in Limone, eine Liebesepisode, ist motivisch mit den Liebesgeschichten Stendhals und Kafkas verflochten. Es ist mir gewesen, berichtet Selysses, als spürte ich ihre Hand auf der Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hatte dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Selysses ist offenbar weit entfernt, ein Vollzugsfanatiker zu sein wie Stendhal, der die Daten seiner Vollstreckungen auf dem Hosenträger vermerkt. Im Fall seines Scheiterns bei Métilde Dembowski Visconti ist es aber der bloße Gipsabdruck ihrer Hand, der Stendhal nun fast ebenso viel bedeutete, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte.

Tast- und Augensinn stehen in Konkurrenz in den Liebesdingen. Lucianas Berührung läßt Selysses sich erinnern, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu mir neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Wie damals in Manchester, so sah ich auch jetzt an diesem Nachmittag in Limone plötzlich alles verschwommen wie durch ein Paar nicht für meine Augen passende Gläser. Verschwommen wie Kafkas Liebestheorie von den geschlossenen Augen.

Auf der Fahrt nach Mailand teilt Selysses das Abteil mit einer Franziskanerin und einem jungen Mädchen. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen in der bunten Jacke, dann nochmals das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, ohne daß es mir gelungen wäre, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Vielleicht ist er auch unsichtbar, denn der Verlust des Passes in Lucianas Hotel - oder war es vielmehr doch die Liebesgeschichte mit ihr? - hat offenbar zu einem Persönlichkeits-, Identitäts- und Orientierungsverlust geführt.

Zur Wiedergewinnung seiner Identität durch Spiegelung betritt Selysses einen leise rumorenden Photoautomaten. Der Stadtplan Mailands, der ihm die Orientierung erleichtern soll, trägt auf der Vorderseite das Abbild eines Labyrinths, auf der Rückseite aber die für jeden, der weiß, daß er viel auf Irrwegen geht, vielversprechende, geradezu verheißungsvolle Versicherung: Una guida sicura. Selysses wird Opfer eines handgreiflichen Angriffs zweier junger Männer, naturgemäß mit zwei Augenpaaren. Er steigt auf die oberste Galerie des Doms hinauf und nimmt von dort aus unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen das vom Dunst über der nun vollends fremd gewordenen Stadt verdüsterte Panorama in Augenschein. Laufet eilends vor dem Wind, ging es mir durch den Kopf, und zugleich kam mir der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Mit neuem Paß verzichtet Selysses sogleich auf die wiedergefundener Identität, trägt sich in der Goldenen Taube in Verona als Jakob Philipp Fallmerayer ein und wird als Undercoverdetektiv tätig. Die ganze Zeit schon war er auf Spuren Kafkas gestoßen, der im September 1913, wie er selbst berichtet hat, auf dem Weg von Venedig zum Gardasee in Verona einen untröstlichen Nachmittag verbracht hat. Auf dem Bahnhofspissoir in Desenzano hatte er eine deutliche Spur hinterlassen, Il cacciatore stand da in einer ungelenken Schrift. Ich fügte noch die Worte nella silva nera hinzu. Im Bus nach Riva erscheint Kafka dann in einer beängstigenden Weise: Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren stieg ein, der auf die unheimlichste Weise den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm, soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Die Versuche des Undercoveragenten Selysses, den Blick der Kamera auf dieses Schauspiel zu richten, scheitern kläglich und führen nur zu dem Verdacht, daß es sich bei ihm um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden englischen Päderasten handeln konnte. Die Festspielaufführung der Aida in Verona leitet über zu dem Roman Verdi, den Franz Werfel seinem in Wien in der Klinik liegenden, zu diesem Zeitpunkt nurmehr 45 Kilo wiegenden Freund Franz Kafka zusammen mit einem Rosenstrauß überreichte. Selysses selbst hält ein antiquarisches Exemplar des Buches mit dem Exlibris eines Dr. Samson in Händen – nur noch ein Schritt bis zur Verwandlung in Kafkas Riesenkäfer Samsa.

Die Erzählung vom Leidensmann Franz K. sei in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so hatte es geheißen, als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze. Hat Selysses seinerseits Unterschlupf bei Kafka gesucht?

Selysses in patria
Der erste Blick, der unabdingbar Grundlage aller zweiten und weiteren Blicke bleibt, feiert Triumphe, etwa, wenn er sich auf die Landschaft richtet, zunächst aus dem Bus: Die Sonne trat hervor, die ganze Landschaft erglänzte. Die frisch gefirnißte Gegend – wir fuhren jetzt aus dem Inntal heraus in Richtung Fernpaß -, die dampfenden Wälder, das blaue Himmelsgewölbe, es war für mich, der ich aus dem Süden heraufkam und die Tiroler Dunkelheit ein paar Stunden lang bloß hatte aushalten müssen, wie eine Offenbarung. Und dann wandernd auf der inzwischen Sebaldweg genannten Strecke: Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. An einem der wenigen halbwegs offenen Plätze, wo man von einer Art Kanzel sowohl auf einen Wasserfall und Gumpen hinab- als auch hoch in den Himmel hinaufschauen konnte, ohne daß man hätte sagen können, welche Blickrichtung die unheimlichere war, sah ich durch die, wie es schien, endlos hinaufragenden Bäume, daß in der bleigrauen Höhe ein Schneegestöber ausgebrochen war, von dem jedoch nichts in den Tobel hineindrang. – Eine große Genugtuung, daß Selysses dann doch immer wieder ausrückt und schauend für uns reist, anstatt, seiner eigentlichen Neigung folgend, nur immer zuhaus bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu bleiben.

Mit jedem Schritt, der Selysses seinem Geburtsort näher bringt, verringert sich seine Präsenz im Buch bis zu der Randfigur, die er in den Ausgewanderten und in Austerlitz sein wird, nicht viel mehr als ein Rezeptorium für die Geschichten anderer. Zugleich aber betritt er das Buch erneut durch eine andere Tür als Selysses das Kind. Der aber ist ein anderer, wir nennen ihn der Einfachheit halber Selemach. Selemach ist, nach Stendhal, Kafka und Selysses, die vierte Person, die dem Jäger Gracchus begegnet und die Sehnsuchtsqual der Liebe erleidet. Stendhal hatte den Jäger Gracchus erahnt, Kafka hatte ihn erfunden, Selysses war auf seine Spur im Bahnhofspissoir von Desenzano gestoßen, Selemach begegnet dem Gracchus in der Gestalt des Jägers Hans Schlag: Ich für meinen Teil habe die Sache den ganzen Tag hindurch nicht aus dem Kopf gebracht. Ich brauchte nur ein wenig die Lider zu senken, und gleich sah ich den Jäger mit gebrochenem Auge auf dem Grund des Tobels liegen. Aus der Autopsie ergaben sich keine weiteren Aufschlüsse, es sei denn, man bezeichnete es als bemerkenswert, daß auf dem linken Oberarm des Toten, wie aus dem Obduktionsbericht hervorgeht, eine kleine Barke eintätowiert war.

Fast hätte der Jäger Schlag-Gracchus den Selemach mit in den Tod gerissen: Wenige Tage nach der Begegnung mit dem toten Jäger Schlag, also schon bald in der Vorweihnachtszeit, wurde ich von einer schweren Krankheit befallen. In einem Fiebertraum scheint er bereits das schwindelerregende Augenchaos des Selysses zu erahnen: Zu meinem Entsetzen spürte ich, daß es sich bei dem, was in diesem Topf eingelegt worden war, nicht um sauber in ihrer Schale aufgehobene Eier, sondern um etwas weiches, den Fingern Entgleitendes handelte, von dem ich sogleich wußte, daß es nichts anderes als Augäpfel waren.

Die süße Qual der Liebessehnsucht erleidet Selemach zunächst, kafkaesk möchte man sagen, mit dem Schankmädchen Romana: In den Jahren, in denen wir im oberen Stock des Engelwirts gewohnt haben, erfasste mich während der Abendstunden unfehlbar der Wunsch, in die Wirtschaft hinunterzugehen und dort der Romana beim Abwischen der Tische und Bänke, beim Kehren des Bodens oder beim Trocknen der Gläser zu helfen. Freilich waren es nicht diese Beschäftigungen, die mich anzogen, sondern es war die Romana selbst. Später dann, in zivilisierter Form und verwegen zugleich, die Lehrerin: Ich füllte mit Hingabe meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in welches ich das Fräulein Rauch für immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Obwohl Selysses in der Gestalt des Selemach den Bedingungen der subjektiven Kamera entkommen ist, nimmt er ihn alles in allem doch recht wenig ins Visier, noch weniger sein engstes Umfeld, die Eltern, die er gleichsam hinter ihrer Wohnzimmereinrichtung versteckt. Wir erleben die ländliche Einführung des Selemach in die Künste, vor allem aber verfolgen wir ihn mit dem Blick des Selysses auf seinen Gängen durch das Dorf und lernen seine Bewohner kennen: die Engelwirtin Rosina Zobel, die die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, und den alten Engelwirt mit einer großen Wunde, die nicht verheilen wollte, den einbeinigen Pächter Sallaba, die Seelos-Ambrosersippe samt dem Türken Ekrem, den Buchdrucker Specht und den Bader Kopf, die Tanten Babett und Bina mit dem Café Alpenrose und die Mathild, die aus dem Kloster und dem kommunistischen München völlig hinterfür nach W. zurückgekommen war, die Modistin Valerie Schwarz, die eine geringe Körpergröße mit einer Brust ungeheuerlichen Ausmaßes verband, den von Haus aus untröstlichen Dr. Rambousek und den Motorradarzt Dr. Piazolo samt dem Motorradpfarrer Wurmser.

Ritorno in patria inglese
Gut dreißig Jahre war Selysses nicht mehr in W. gewesen, und das Dorf lag, wie er bei seiner späten Ankunft dachte, für ihn weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Als er W. wieder verläßt, ist uns der Ort vertrauter als fast jeder andere auf dem Globus. Selysses selbst aber war fast ganz abhanden gekommen, hatte er sich doch nicht nur in Selemach verwandelt, sondern obendrein auch noch in den Großvater, Serkeisios, um im Spiel zu bleiben: Wenn er es sich jetzt recht überlege, so der Lukas, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus einer Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. Notdürftig am Leben erhalten wird Selysses, so scheint es fast, nur durch den Blickwechsel mit seinen vermeintlichen Kollegen: Da auch ich andauernd über meine Papiere gebeugt war, und gleich ihnen nur zwischenhin einen gedankenverlorenen Blick in die Ferne schweifen ließ, hielten sich mich wahrscheinlich zunächst ebenfalls für einen Handlungsreisenden, bis sie nach wiederholtem taxierenden Herübersehen wohl doch von meinem unstandesgemäßen Äußeren auf ein anderes und, wie ich annehme, zweifelhafteres Metier schlossen.

Mit der Abfahrt aus W. schwindet die Dominanz des ersten Blicks, Selysses verliert sich ganz in den Nebeln seiner Innenwelt. Es gibt auch keine Augenpaare mehr, in denen er sich spiegeln könnte, er ist gänzlich vereinsamt: Eigenartig berührte mich beim Hinausschauen auf einmal, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Tatsächlich schien es mir, als habe unsere Art bereits einer anderen Platz gemacht oder als lebten wir doch in einer Form der Gefangenschaft. Der einzige Mensch, dem er auf der Fahrt begegnet ist ein Phantom, Elisabeth von Böhmen, die im daseinslosen Buch Das böhmische Meer der daseinslosen Autorin Mila Štern liest. Aller inneren Bewegung zum Trotz bleibt Selysses nur dumm und stumm stehen neben ihr und schaut weiter hinaus auf die nahezu vergangene Dämmerwelt. In London angekommen vertieft er sich sogleich in Pisanellos Bild San Giorgio con capello di paglia in der Nationalgalerie. Auf der Weiterfahrt in den englischen Osten verfällt er in Schlaf über Samuel Pepys’ Tagebucheintragungen zum Großen Londoner Brand: Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Und anderen Tags ein stiller Aschenregen – westwärts bis über Windsorpark hinaus. – 2013 - Ende.

Als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten – der erste Verdacht bestätigt sich, wo immer man hingreift in diesem Buch. Man kann einzelne der Fäden ans Licht heben, oder man kann es auch sein lassen und sich dem Märchengefühl überlassen. Alle Fäden gleichzeitig werden sich ohnehin nicht beleuchten lassen. Der Dichter ist keineswegs Herr des Geheimnisses der die Zeit verwebenden Fäden: Welchen Zusammenhang gibt es, habe ich, wie ich mich erinnere, damals gefragt und frage mich jetzt wieder, zwischen diesen beiden schönen Leserinnen und der riesigen, alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfenden Konstruktion diese Bahnhofsgebäudes aus dem Jahre 1932, zwischen den sogenannten steinernen Zeugen der Vergangenheit und dem, was als eine undeutliche Sehnsucht über unsere Körper sich fortpflanzt, um sie zu bevölkern, die staubigen Landstriche und die überschwemmenden Felder der Zukunft.


* Etwas ganz anderes ist natürlich die Photoausstattung der Bücher Sebalds, eine eigentümliche zweite Stimme zu seiner Prosa.

Freitag, 25. September 2009

Die Ausgewanderten

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Die sogenannten vier langen Erzählungen - die beiden ersten Dr. Henry Selwyn und auch Paul Bereyter sind einigermaßen kurz -, die den Band Die Ausgewanderten bilden, umfassen im Leben des sebaldnahen Icherzählers, den wir Selysses nennen, die Jahre 1966 bis 1991, wobei Max Aurach, die letzte und längste Erzählung die beiden chronologischen Grenzpunkte setzt. Das Buch ist dann bereits 1992 erschienen.

Dr. Henry Selwyn trägt sich im Jahr 1970/71 zu mit einem Nachspiel im Jahre 1986. Paul Bereyter geht aus vom Selbstmord der titelgebenden Gestalt im Januar 1984, der bei Selysses zu immer häufiger gedanklicher Beschäftigung mit ihm in den nicht weiter bestimmten nachfolgenden Jahren führt. Auch die Gespräche mit Mme Landau sind, unüblich für Sebald, nicht näher datiert. Ambros Adelwarth zentriet sich um zwei Amerikareisen des Selysses in den Jahren 1981 und 1984.

Obwohl also insgesamt mehr als dreißig Jahre im Leben des Selysses vergehen, erfahren wir kaum etwas über ihn, nur selten richtet er den Blick auf sich selbst. Er ist Hohl- und Hallraum und Spiegelkabinett für die Geschichten anderer. Dabei geht der Blick immer auch weit hinter die gelebte Zeit des Selysses zurück. Die Gegenwart ist Hohl- und Hallraum und Spiegelkabinett der Vergangenheit.

Paul Bereyter ist der Volksschullehrer des Selysses, Ambros Adelwarth sein Großonkel, hier verlaufen die Erkundungen zu nicht geringem Teil über die eigene Erinnerung. Henry Selwyn und Max Aurach begegnet Selysses im Zuge seiner Übersiedlung als junger Wissenschaftler und noch verborgener Dichter nach England. So wie er Stendhal und Kafka in den Schwindel.Gefühlen als Dichter begegnet war, so begegnet er Den Ausgewanderten als Ausgewanderter. Wie als Dichter unter Dichtern kann er auch unter den Ausgewanderten als Gleicher unter Gleichen auftreten, letztlich wandern wir alle fort vom Ort unserer Geburt und niemand findet den Weg zurück.


Dr. Henry Selwyn
Το βλέμμα του Σελυσσέα
... kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe.

Paul Bereyter
Το βλέμμα του Σελυσσέα
... ging über mich hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug.


Ambros Adelwarth
Το βλέμμα του Σελυσσέα

... aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren.



Max Aurach
Το βλέμμα του Σελυσσέα

...Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.



Donnerstag, 24. September 2009

Dr. Henry Selwyn

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Ist der Dichter tot und sein Nachlaß vollständig herausgegeben, bleibt den Verlagen zur Anfachung und Befriedigung des Leseeifers noch die Möglichkeit eines Neuarrangements der Texte. Zu Thomas Bernhard sind im letzten Jahr eine Reihe kleiner Bändchen herausgegeben worden mit Titeln wie Naturgemäß, Ehehölle &c., und tatsächlich konnten die durchweg bekannten, über das Werk verstreuten Texte in der thematischen Zusammenfassung einen Schein des Neuen abwerfen. Von Sebald möchte man sich in dieser Art ein Brevier Erste Blicke des Selysses wünschen. Zwar wirkt das Prosawerk wie ein Spiegelkabinett zweiter und weiterer Blicke, aber es ist ein Kabinett mit einem großen Fenster nach draußen auf das unmittelbar mit dem Auge wahrnehmbare, Landschaften, Gärten, Städte. Gäbe es nur diese Fensterblicke, würden sie auch schon glücklich machen. Der als Spiegelkabinett eingerichteten Sebaldausstellung im Literaturarchiv Marbach fehlte also ein wichtiges Element, aber sie war thematisch auf die Unterwelt eingeengt und daher ganz sinnvoll im Untergeschoß des Archivs untergebracht.

Die einleitenden Seiten der Erzählung Dr. Henry Selwyn, die Landschaft, der Garten, der Küchengarten, müßten in jedem Fall Aufnahme finden in das Brevier. Allerdings ist der erste Blick des Selysses, wie eigentlich immer, durchwachsen. Schon auf der zweiten Seite kommt ein Landhaus in der Charente in den Sinn, in dem zwei verrückte Brüder in jahrzehntelanger Arbeit die Vorderfront des Schlosses von Versailles errichtet hatten, eine ganz und gar zwecklose, aus der Entfernung allerdings sehr eindrucksvolle Kulisse, deren Fenster geradeso glänzend und blind gewesen waren wie die des Hauses, vor welchem wir jetzt standen. Obendrein ist die Eingangspassage mit zwei Merkmalen versehen, die eigentlich nicht statthaft sind in Sebalds Erzählwelt: Selysses ist in profaner Zweckhaftigkeit und Zielgerichtetheit unterwegs, es geht um Wohnungssuche, so daß der gedankliche Ausflug in die Charente mit ihrer rettenden Verrücktheit wie Flucht und Entschuldigung wirkt; - und, noch schlimmer, Selysses ist nicht allein, sondern in Begleitung von Clara, offenbar seine Frau. Clara rutscht aber mit in den toten Winkel der subjektiven Sprachkamera hinein und bleibt so schemenhaft und weitgehend unsichtbar wie Selysses selbst.

Henry Selwyn tritt auf im Feld des ersten Blicks als Eremit, umgeben von Pferden und Eichkatzen. Ähnlich wie Stendhal Kafkas Jäger Gracchus ankündigt, kündigt Selwyn den Major George Wyndham Le Strange an, der, in den Ringen des Saturn, als Eremit in einer Wolke aus von Federvieh dem zweiten Blick, konkret: einem Zeitungsartikel, womöglich noch glanzvoller entsteigt. Könnte man urteilen, daß Sebald, ohne Zweifel ein Meister des ersten Blicks bei Landschaften, Gärten und Städten, sich bei der Menschendarstellung mit dem zweiten Blick leichter tut? Auch Menschen wie Paul Bereyter oder Fritz Binswanger, die dem Selysses aus der Kindheitserinnerung des Selemach, der ein anderer ist, übertragen werden, sind Gestalten des zweiten Blicks. Virtuos aber vereinnahmt der erste Blick in jedem Fall die äußere Erscheinung eines Menschen: Edward Ellis war von sehr schmächtiger Statur und stand, während Dr. Selwyn stets leicht vornübergebeugt war, immer hochaufgerichtet. Der Hemdkragen war ihm um seinen faltigen Hals, der wie der mancher Federtiere oder einer Schildkröte harmonikaartig aus- und einfahren konnte, zu weit geworden, der Kopf war klein, wirkte irgendwie prähistorisch oder zurückgebildet, die Augen darin aber glänzten von einer blanken, ja wunderbaren Lebendigkeit.

Das Haus der Selwyns, in dem Selysses und Clara dann tatsächlich Unterkunft finden, ist so gut wie unbewohnt. Mrs. Selwyn befand sich oft wochenlang auf Reisen. Dr. Selwyn hielt sich in einer aus Feuerstein gemauerten kleinen Einsiedelei auf, in der er sich mit dem Nötigsten eingerichtet hatte. In der Küche machte sich zu jeder Stunde des Tages eine weibliche Person unbestimmten Alters meist über dem Ausguß zu schaffen. Welchen Arbeiten sie in der Küche tagaus, tagein oblag, blieb sowohl mir als auch Clara unverständlich. Das Haus ist der Besichtigung der und dem Nachdenken über die Vergangenheit freigegeben. Ich versuchte mir oft auszudenken, wie das Innere der Köpfe der Leute beschaffen gewesen sein mußte, die mit der Vorstellung leben konnten, daß hinter den Wänden der Zimmer irgendwo immer die Schatten der Dienerschaft am Huschen waren.

Im Mittelpunkt des weiteren Verlaufs der Erzählung stehen zwei Bild- und Blickveranstaltungen. Zunächst ist es eine Diavorführung als Höhepunkt einer Abendeinladung für Selysses und Carla. Es ist reines Schauen ohne Worte: Das leise Surren des Projektors setzte ein, und der sonst unsichtbare Zimmerstaub erglänzte zitternd im Kegel des Lichts als Vorspiel vor dem Erscheinen der Bilder. Während die Bilder auf der Leinwand zitterten, herrschte eine nahezu völlige Stille im Raum. Zuvor aber hatte Selwyn von seinem Leben in der Schweiz erzählt: Die meiste Zeit sei er im Berner Oberland gewesen und dort mehr und mehr der Bergsteigerei verfallen. Das Motiv des Bergsteigens ist offenbar dem der Fliegerei verwandt, eine Abwendung von der Welt, ein Auswandern nach oben. Die Diavorführung zeigt dann allerdings keine Schweizer Landschaften, sondern die Hochebene von Λασίθι auf Kreta. Ein paarmal sah man Dr. Selwyn in knielangen Shorts, mit Umhängetasche und Schmetterlingsnetz. Eine der Aufnahmen glich bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Photo von Nabokov, das ich ein paar Tage zuvor aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Der Blick des Selysses gleitet ab und bleibt auch auf Kreta in der Schweiz. Nabokow, der auch in den Erzählungen Ambros Adelwarth, in Amerika, und Max Aurach wieder seinen Auftritt hat und als gleichsam führender Ausgewanderter und Schmetterlingsjäger an die Stelle des Jägers Gracchus in den Schwindel.Gefühlen tritt.

Die zweite Blickfolge sind erinnernder Blicke Selwyns zurück in seine Kindheit in einem Dorf nahe der weißrussischen Stadt Grodno. Ich sehe, sagte Selwyn, und mit seinen Augen sieht auch Selysses, wie mir der Kinderlehrer im Cheder die Hand auf den Scheitel legt. Ich sehe die ausgeräumten Zimmer. Ich sehe mich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen, sehe die Kruppe des Pferdes. Ich sehe die auf- und niedersteigenden Telegrafendrähte vor den Fenstern des Zuges, sehe die Häuserfronten von Riga, das Schiff im Hafen, die hohe See, die Fahne des Rauchs, die graue Ferne. - Letztlich wandern wir alle fort vom Ort unserer Geburt und niemand findet den Weg zurück.

Inzwischen, so Selwyn später, habe er längst seine letzten Kontakte mit der sogenannten wirklichen Welt gelöst. Es ist die Lehre der Heiligen, daß wir die Welt schon vor unserem Tod verlassen sollten. Die Heiligen sind Ausgewanderte aus der Welt, sind die Ausgewanderten Heilige? Cioran spricht von Aufwachen und, in schöner Verdrehung, von Emanzipation: Ce serait exiger de l'homme qu'il s'éveille  
-->à l'absolu, qu'il devienne uniquement animal métaphysique. Un tel effort d'émancipation, un tel bond hors de nos vérités de dormeurs, peu en sont susceptibles. - Handelt es sich bei diesen wenigen, die es denn doch gibt, um Stendhals Happy Few in der Auslegung Sebalds?
Und sie wandern noch einen Schritt weiter aus, in den Tod, den alle vier Helden der langen Erzählungen auf die eine oder andere Art selbst herbeirufen. Das Schreiben, wir wissen es von Bernhard oder Cioran, und auch bei Sebald klingt es immer wieder an, ist eine andere Form des Suizids oder, wenn man so will, seine Zurückstellung, eine andere Weise des Aufnahmebegehrens in das Kollegium der Happy Few, die ja keineswegs glücklich sind, man schaue sich Julien Sorel oder Fabrizio del Dongo nur an.

Das Bergsteigen hatte Selwyn in Begleitung des Bergführers Johannes Naegeli betrieben, dem er von Anfang an sehr zugetan gewesen sei. Naegeli ist dann bald auf dem Weg von der Oberaarhütte nach Oberaar verunglückt und seither verschollen. Gerald Fitzpatrick, prominenter Vertreter des verwandten Fliegerthemas, startet mit seiner Cessna von Genf in der Schweiz aus und stürzt in den Savoyer Alpen zu Tode. Selysses hat noch einen zweiten Blick auf Naegeli. In einer Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1986 wird von dem seit dem Sommer 1914 als vermißt geltenden Bergführer berichtet, dessen Überreste jetzt geborgen wurden. So kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe. Die Schuhe, Werkzeug unserer Wanderungen, die Knochen, ihr einziges Ergebnis, auch und gerade bei den Heiligen.


Mittwoch, 23. September 2009

Paul Bereyter

Το βλέμμα του Σελυσσέα

W styczniu 1984 roku doszła mnie z S. wiadomość, że Paul Bereyter ...

Die Erzählung nimmt ihren Ausgang von einem im Anzeigenblatt der Kleinstadt S. veröffentlichten Nekrolog den Tod des Kinderlehrers Paul Bereyter betreffend, und wo, in der Tat, wäre in einer Zeitung je ein Nachruf erschienen, der den Verstorbenen nicht ganz ohne sein eigenes Zutun in eine falsche Welt versetzt hätte, aus der ihn zu befreien ein Dichter sich nicht aufgerufen fühlen könnte. Ausgehen von einem Nekrolog, das heißt aber zugleich, daß ein erster, wahrnehmender Blick in der Gegenwartswelt auf den Protagonisten der Erzählung nicht mehr möglich ist.Paul Bereyters Freitod auf den Bahngleisen eine kleine Strecke außerhalb von S.. wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidenholz herausführt und das offene Feld gewinnt, erfolgte, so die Erzählung, im Jahre 1984, die nähere Befassung des Selysses mit seinem ehemaligen Volksschullehrer ist in unbestimmter Weise auf die nachfolgenden Jahre verlegt. Im Frühsommer des Jahres 1984 hält sich Selysses, wie wir später erfahren, im Zuge von Recherchen zum Schicksal seines Großonkels Ambros Adelwarth, im Osten der Vereinigten Staaten auf, im April desselben Jahres aber sitzt er im Lesesaal des British Museum, wo er, offenbar in Vorbereitung des Werkes Nach der Natur, der Geschichte der Beringschen Alaskaexpedition nachgeht. Am Nachbartisch sitzt, wie es der Zufall will, der Schulkamerad Fritz, inzwischen ein Koch von Weltrang, und von ihm erfahren wir ein präzises Blickresultat: nicht ein einziges Mal habe er, Fritz, den Paul etwas essen sehen. – Damit ist Paul Bereyter der in Sebalds Werk wichtigen Gruppe der wittgensteinesken Asketen zugewiesen.

Die ersten Versuche des Selysses, die spätere Lebensgeschichte des Paul Bereyter zu verstehen, verlaufen ganz über den inneren Blick, er versucht, sich ihm anzunähern, indem er sich ausmalt, wie er gelebt hat in der großen Wohnung im oberen Stock des alten Lerchenmüllerhauses, solche Versuche brachten ihn jedoch, wie er sich eingestehen mußte, dem Paul nicht näher oder höchstens augenblicksweise, in gewissen Ausuferungen des Gefühls. Es gilt, Erkundigungen einzuholen, authentische Blicke auf Paul Bereyter zu sammeln. – Da wir aber aus dem Bereich fiktionaler Prosa nicht heraustreten, wird unklar bleiben, in welchem Umfang die Erkundigungen ihrerseits Ausmalungen bleiben, die realen Nachforschungen erdichtet sind.

Der naheliegende Gewährsmann des Selysses ist er selbst als ein anderer, als das Kind, das er seinerzeit war. Wir erfahren in der erinnerten Blicken von dem begeisterten und begnadeten Lehrer Paul Bereyter, von seiner Freude und seinen Leiden im Umgang mit den Schülern, von den Kämpfen mit den Kollegen und den katholischen Vertretern der Heilslehre, aber wir erfahren nicht, wer Paul Bereyter war, denn der Blick der Schüler auf den Lehrer ist nicht eigentlich ein Blick auf einen Menschen und in ihm hinein: Es konnte jederzeit geschehen, mitten im Unterricht oder während einer Pause, daß er abwesend und abseits irgendwo saß oder stehenblieb, als wäre er, der immer gut gelaunt und frohsinnig zu sein schien, in Wahrheit die Untröstlichkeit selbst.

Das meiste über Paul Bereyter ergibt sich aus den Besuchen des Selysses bei Mme Landau in der Schweiz im zweiten Jahr nach dem Tod des Pauls, also 1986. Mit dem genialen einen Strich nur zeichnet Sebald die Berufenheit Mme Landaus für die Erkundung der Seelenlagen Paul Bereyters: die Diskretion ihres Kinderfreund Ernest, das jüngste Kind einer vielköpfigen Arbeiterfamilie, sei für ihr Empfinden immer vorbildlich geblieben, später habe sie in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern – des näheren, wie sie mit spöttischem Gesichtsausdruck hervorhob – kennengelernt und ihre Namen, gottlob, größtenteils vergessen, einen umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon als den von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen Paul (eine ungemein intensivierende Paraphrase für Untröstlichkeit) habe man sich dagegen einfach nicht wünschen können: Mme Landau ist empfindungsstark, erfahrungssatt und urteilsstark. Paul Bereyter lernt sie auf einer Parkbank in der Promenade des Cordeliers kennen, während ihre Augen auf der Autobiographie Nabokows ruhen.

Es geht in der Folge weniger um freihändige Auskünfte Mme Landaus zum späteren Lebensverlauf des Protagonisten, sondern um Rückspiegelungen aus einem Album, über das Selysses und Mme Landau sich gemeinsam beugen, ein großformatiges Album, in dem, von einigen Leerstellen abgesehen, fast das gesamte Leben Paul Bereyters photographisch dokumentiert und von eigener Hand annotiert war. Stück für Stück trat das Leben Paul Bereyters aus seinem Hintergrund heraus. Im weiteren wird die Suche nach Paul Bereyters immer mehr zu einer Suche Paul Bereyters nach sich selbst, von der Mme Landau erzählt. Es ist ganz wesentlich eine Suche mit geschlossenen Augen. Dieses wunderbare Emporium, erzählte Mme Landau, habe der Paul ihr einmal ausführlich beschrieben, als er nach einer Operation am grauen Star mit verbundenen in einem Berner Spital lag und, wie er sagte, mit reinster Traumklarheit Dinge sah, von denen er nicht geglaubt hatte, daß sie noch da waren in ihm.

In der Folge tritt Paul Bereyters Suche nach Klarheit immer mehr in Konkurrenz zum Verlust des Augenlichts. Es ist aber keineswegs ein Wettlauf zwischen Hell und Dunkel um die verbleibende Lebenszeit, der sich einstellt, sondern ein besonderer, offenbar Leben und Tod übergreifender Frieden: Tatsächlich redete Paul in jenen Tagen mit der größten Ausgeglichenheit über den, wie er sich ausdrückte, mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, und er stellte die Hypothese auf, die neue Welt, in die er nun im Begriff sei einzutreten, wäre zwar enger als die bisherige, doch verspreche er sich davon ein gewisses Gefühl des Komforts.

Die Erzählung endet mit einem Bild aus den CERN-Larboratorien: Die aus meinem momentanen Fehlverständnis ausgelöste Beunruhigung, erzählte Mme Landau – heute ist es mir manchmal, als hätte ich damals wirklich ein Todesbild gesehen – war aber nur von der kürzesten Dauer und ging über mich hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug.

Die momentane Erleuchtung erweist sich als Schatten. Die Suche nach Paul Bereyters Leben und Sterben endet im Dunklen, aber das Licht, das die Erzählung darauf geworfen hat, ist nicht verloren. Am Ende der Erzählung können wir nicht sagen, daß wir Paul Bereyter, den wir mit unseren Augen nie gesehen haben, kennen würden, daß wir sein Leben und Sterben verstanden hätten, aber wir kennen ihn besser als manchen, der leibhaftig vor uns gestanden ist, und wir kennen ihn immer dann, wenn wieder einsteigen in die Erzählung, deren Sätze tiefer führen als das Auge reicht.


- nie trwał długo i przemknął po mnie tylko jak cień ptaka w locie.

Dienstag, 22. September 2009

Ambros Adelwarth

Το βλέμμα του Σελυσσέα



Ja sam właściwie mego wujecznego dziadka Adelwartha nie pamiętam.

Erzählt wird von Ambros Adelwarth, einem Großonkel des Selysses, mithin eine Geschichte, so möchte man mutmaßen, wenn schon nicht erster Blicke, so doch erinnerter erster Blicke aus der Kindheit. Doch diese Erwartung wird umgehend aufgehoben. Gesehen habe ich ihn, soweit sich das jetzt noch mit Sicherheit sagen läßt, nur ein einziges Mal, bei einem an die sechzig Personen umfassenden Familienfest. Selbstverständlich ist er mir in dem allgemeinen Trubel kaum aufgefallen. Die folgende Selyssee ist also die Suche nach einem Unbekannten und kaum Gesehenen. Ein Motiv für die lange Suche wird nicht genannt.

Der Familienverband, der sich trifft auf dem Fest, besteht nicht aus denselben Personen, aber doch aus den gleichen Leuten vom gleichen Allgäuer Stamm, wie die Paul Bereyter in der tiefsten Seele zuwideren Einwohner, die er, offenbar im Einverständnis mit dem Dichter, am liebsten zerstört und zermahlen gesehen hätte. Hier ist dieser Menschenschlag so liebevoll dargestellt, wie es liebevoller nicht geht, man nehme nur die Tante Theres, die drei Wochen nach ihrer jeweiligen Ankunft in der Heimat noch aus Wiedersehenfreude weinte, und bereits drei Wochen vor der Abreise wieder vor Trennungsschmerz. Nur wenn sie länger als sechs Wochen bleiben konnte, gab es für sie in der Mitte ihres Aufenthalts eine gewisse, meist mit Handarbeiten ausgefüllte Beruhigung. Bereits in den Schwindel.Gefühlen hatte Sebald die Mitglieder der Seelosfamilie in der Ortschaft W. mit einer ähnlichen, an die niederländische Malerei erinnernden Liebe gezeichnet. Wie der Alltagsmensch Sebald mit diesem Widerspruch umgegangen ist, wissen wir nicht, dem Dichter bereitet er offensichtlich keine Schwierigkeiten.

Der Blick auf Ambros Adelwarth wird über eine lange Strecke der Erzählung ein Blick durch die Augen der Verwandten sein, durch die Augen der Tante Fini und des Onkels Kasimir, die Selysses, die Selysses 1981 in der retirement community in Lakehurst nahe New York aufsucht. Da Ambros Adelwarth um diese Zeit längst tot ist, sind es durchweg erinnernde Blicke und kaum solche, die auf reale Blicke in einer vergangenen Gegenwart zurückgehen, viel aus zweiter Hand, Hörensagen, Annahmen. Der aktuelle Blick muß sich begnügen mit mehreren Photoalben, über die sich Tante Fini und Selysses gemeinsam beugen, an Postkarten und an einem Ölgemälde, das wiederum nur noch als Photospur auf einem Lichtbild vorhanden ist. Ihre Augen benötigt die Tante Fini denn auch kaum: Die Tante schaltete die kleine Leselampe an, behielt aber die Augen weiter geschlossen. Ein erheblicher Teil ihres Berichtes gilt dem Cosmos Solomon, der seinen Lebensunterhalt mit geschlossenen Augen verdient: In einer Art Selbstversenkung versuchte, die inmitten einer sonst undurchdringlichen Nebelhaftigkeit jeweils nur für den Bruchteil eines Augenblicks auftauchende richtige Ziffer zu erkennen. Mit halbgeschlossenen Augen setzte er Mal für Mal auf das richtige Feld. Und es sind nicht nur die Roulettzahlen, die der Cosmo mit geschlossenen oder halbgeschlossenen Augen erblickt: Er habe sich mit der Hand immer wieder vor den Kopf geschlagen und behauptet, in seinem Kopf wahrzunehmen, was in Europa vor sich ging, das Brennen, das Sterben und das Verwesen unter der Sonne auf dem offenen Feld. Schließlich versinkt Cosmo, der Flieger, dem Ambros Adelwarth halb als Diener und halb als Gefährte und Freund über lange Jahre durch die Welt gefolgt war, im Irrsinn seiner inneren Gesichte.

Wenn die Tante aber ihre Augen einsetzen will, dann versagen sie den Dienst: Meiner schwachen Augen wegen habe ich bis auf einzelne Wörter nichts Rechtes herausbringen können. So kommt immer eine zum anderen, lautet Tante Finis Zwischenresümee, eine epische Grundformel, der sich der Erzähler sicher nicht verschlossen hat, denn schließlich kann nur auf dieser Grundlage zur Erfüllung seiner dichterischen Berufung ein Wort das andere geben. Was die Tante nicht gesehen aber vom Ambros Adelwarth gehört hat und wiedergibt, wird von ihr selbst unter den Wahrheitsvorbehalt gestellt: Manche seiner Erlebnisberichte dünkten mich dermaßen unwahrscheinlich, daß ich glaubte, er leide an dem Korsakowschen Syndrom, bei dem der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen wird.

Der Onkel Kasimir resümiert: Je älter der Adelwarth-Onkel geworden ist, desto hohler ist er mit vorgekommen, es war, als werde er bloß noch von seinen Kleidern zusammengehalten; er bestand nurmehr aus Korrektheit, wie die Tante an späterer Stelle ergänzt – bei Paul Bereyter hatte es in Beschreibung eines ähnlichen Sachverhaltes geheißen, er sei von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen. Was die Erzählung sucht und was wir lesend suchen, ist in gewissem Sinne gar nicht mehr vorhanden. Zweifellos nähern wir uns lesend den Protagonisten an, gleichzeitig aber entfernen sie sich von uns, und besonders in der Adelwartherzählung kann sich der Eindruck einstellen, daß der Titelheld der schnellere ist in seiner Fluchtbewegung. Ist das nicht auch ein Bild unseres Lebens als Odyssee der Suche nach uns selbst, wir glauben uns immer näher zu kommen und werden uns doch immer fremder, bis wir uns dann ganz aus den Augen verlieren, so wie sich die Spur des Adelwarth, wie zuvor schon die des Cosmo, in der Nervenheil- und Geisteszerstöranstalt Ithaca verliert.

1984, also drei Jahre nach dem Ersten Besuch, bricht Selysses erneut auf in die USA , diesmal, um in Ithaca nach den letzten Spuren des Ambros zu suchen. So als sei die dreijährige Unterbrechung und Abwendung vom Ambros Adelwarth noch nicht genug, eröffnet der Erzählstrang über Seiten mit einem ersten Blick, aber natürlich nicht auf Ambros Adelwarth, sondern auf New York State, zeitlupenartige Überholvorgänge auf den Highways, Begegnungen, nach der Art des Selysses mit Empfangsdamen und Hausdienern. In der inzwischen verfallenen Geisteszerstöranstalt Ithaca trifft Selysses auf den unmittelbar von Ambros Adelwarth zur Auswanderung aus dem Leben angeregten Dr. Abramsky, ein Eremit und seltsamer Heiliger vom Schlage des Dr. Selwyn und des Major Wyndham Le Strange, aber soweit noch recht guten Mutes. Vom ihm erfährt Selysses nicht wenig über die Lebens- und Sterbeumstände des Adelwarth, nichts aber, das in dessen Inneres führen würde, aber ein Inneres war nach Einschätzung der Fini und des Kasimir auch schon längst nicht mehr vorhanden.

Die nächste Inkubationsphase, während der sich Selysses nicht erkennbar mit dem Onkel Adelwarth beschäftigt, kein Auge auf ihn wirft, beträgt sieben Jahre. 1991 besucht Selysses Deauville, das ehemalige mondäne Seebad, in dem Cosmo Solomon in der Begleitung von Ambros Adelwarth einen nicht geringen Anteil seiner verzweifelten Spieler- und Lebemannexistenz verbracht hat. Der erste Blick stößt aber nicht auf den Glanz, sondern nurmehr auf den schalen Abglanz der Belle Epoque, in die, in grotesker Übersteigerung und Verdrehung, Selysses sich in einem Traum zurückversetzt. Die Groteske dauert auch noch nach dem Erwachen an, denn ein realer Blick fällt auf die auf das geschmackloseste zusammengerichtete und auf das entsetzlichste geschminkte Person mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine und einem giftgrün livrierten Clubman, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Vor mir auf dem Schreibtisch liegt das Agendabüchlein des Ambros – Selysses ist endlich für einen Augenblick in der zeitlich nicht näher bestimmten Gegenwart angekommen, um sie aber umgehend wieder zu verlassen zugunsten der kommentarlosen Wiedergabe der in dem Büchlein geschilderten Ereignisse aus dem Jahre 1913.

Die erzählte Erzählzeit reicht von 1981 bis in die neunziger Jahre, die insgesamt erzählte Zeit reicht bis in das neunzehnte Jahrhundert zurück. Der größere Teil der Erzählzeit bleibt unerzählt. Man darf sich sicher auch nicht vorstellen, Selysses sei die gut zehn Jahre vorwiegend mit Adelwarth beschäftigt gewesen. Nicht nur, daß so gut wie kein direkter Blick auf den Protagonisten fällt, auch jede Fixierung auf ihn als Thema wird vermieden. Wer sehen will, sollte die Augen schließen, das meiste in reine Inkubation. Unerzählt, und das Fazit über Ambros Adelwarth bleibt alles in allem die Leere, und doch lebt er in den Sätzen und Absätzen.

Welche Erzählung Sebalds auch immer man gerade liest, es scheint die schönste zu sein. Tritt man aber zurück und entscheidet sich dann für Ambros Adelwarth, sollte niemand widersprechen. Wenn Sebalds Erste Welt die der wittgensteinesken Asketen ist, so ist die proustianische Gegenwelt, das Leben der Ricchissimi, nirgends so üppig vertreten wir hier; hinzu kommen die Gerüche und Farben des Orients. Dabei geht es naturgemäß nicht um ruhigen Nießbrauch der Güter. Beim Major Wyndham Le Strange ist es, wie zuvor schon bei verschiedenen Figuren Thomas Bernhards, das Ausschlagen und die Mißachtung des Reichtums, das Leben des Cosmo Solomon scheint zu erheblichem Anteil der Kapitalvernichtung gewidmet, und am Ende gelingt es ihm, dem seltsamen Messias, zwar nicht die Güter loszuwerden, aber doch als Ärmster der Armen im seinem Inneren elend zu krepieren und dem Ambros Adelwarth, der gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun aus dem Kreis der schlichten Allgäuer, der Finis, Kasimirs, Theos, Flossies und Theresen, in diese Welt geraten war, in einer Art Witwenverbrennung ein ähnliches Schicksal aufzuerlegen.

.. z wielkiej wysokości, z jednej z owych wież, które giną w niebiosach.