Samstag, 7. Januar 2012

Allem Lebendigen zugetan

Margarethe mit dem Wurm

Sebald wußte, wie man ihn aufgrund seiner Literatur einschätzte in der relativ kurzen Zeit seines Lebens, in der er eine Person des öffentlichen Lebens mit Berühmtheitswert war. Das Publikum glaube auf seiner Hemdbrust eine geheime Aufschrift entziffern zu können: Suizident. Zu Gottfried Keller aber schreibt er: Seine Prosa, die bedingungslos allem Lebendigen zugetan ist, erreicht ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten heruntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes. – Nicht die letzten Überlegungen eines Suizidenten, möchte man meinen, nicht die Gedanken eines Untröstlichen, wie es leicht mokant bei Sebald gern heißt, sicher auch nicht die Auslassungen eines Spaßvogels.

Sebald hat sich ausdrücklich zur Weiterführung der Tradition der älteren alemannischen Erzähler und Dichter, vornehmlich Hebel, Keller, Robert Walser bekannt, hat sie ins Landhaus eingeladen, dort vor den Spiegel gestellt und dabei auch immer selbst herausgeschaut. Wenn er bei Gottfried Keller Lebenszugewandtheit feststellt, wird er nicht von etwas ihm selbst völlig Unbekannten sprechen. Was ist gemeint mit allem Lebendigen zugetan und wie kann es sich äußern in einem Sprachkunstwerk.

Psychologisch bedarf eine dem Lebendigen zugetane Stimmung wohl einer in der Kindheit gewonnenen Grunddisposition. Die begleitende Literatur greift aus Sebalds Kindheit vor allem das getrübte Verhältnis zu den Eltern und insbesondere zum Vater auf und spinnt von daher einen Faden zur Behandlung von Holocaust und Luftkrieg in seiner Literatur. In der Tat hat Sebald seine Kindheitserinnerungen nicht unter den Titel La gloire de mon père gebracht, das Elternpaar tritt in der Prosa nur einmal auf, in den Schwindel.Gefühlen und das gleichsam versteckt hinter der standesgemäßen Einrichtung des Wohnzimmers, die akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierenden klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach. Dies und anderes kann aber die Liebe nicht verdecken, mit der er eben in den Schwindel.Gefühlen oder auch in den Moments musicaux oder auch zu Beginn von Ambros Adelwarth von seiner Kindheit erzählt. Die Liebe gilt nicht zuletzt den einfachen Leuten, wie sie dann auch Austerlitz in seiner Prager sowohl wie in seiner Waliser begleiten. Die in Gesprächen immer wieder auftretende Bild-, Ton-, Kunst- und generelle Eindrucksarmut seiner Kindheit im abgelegenen Allgäuer Winkel ist nicht etwa Beschwerde, sondern durchaus beifällige Offenlegung des Ursprungsortes seines Lebens und seiner Kunst. Auch darin schließ er an Keller an: Durch den Tod des Vaters früh mit dem Mangel vertraut, wird die winzige, im Grunde bloß noch aus Sparsamkeit bestehende Hauswirtschaft der Mutter Keller in der Rückschau zum Sinnbild einer so gut wie restlos reduzierten Existenz: Am Abend nach meiner Abreise hatte meine Mutter sogleich die Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt, von nichts zu leben. Sie erfand ein eigentümliches Gericht, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den anderen um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches gleichermaßen von nichts brannte. Seine eigene Literatur hat Sebald im Gespräch ausdrücklich als eine Literatur der Armut eingeordnet. Für den Leser hält sie ungeahnten Reichtum bereit.
Armut, das Verfügen über Weniges bedeutet Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Ruhe im Umgang mit diesem wenigen, erfordert gediegenes Handwerk. So gut wie nie verfällt Sebalds Prosa in Hast. Der immer aufmerksame und sorgfältige Blick ist nicht nur dem Lebendigen zugetan, sondern erweckt auch die umgebende Welt zum Leben. Nie ist dieser Blick nur einfach protokollierend, immer aufnehmend, meistens annehmend, auch noch in den belanglosesten Dingen. Man setzt sich nicht einfach auf eine Bank an der See, sondern kann dort auf einer der von drei Seiten gegen Wind und Wetter geschützten kabinenartigen Rastbänke sitzen, mit dem Rücken zum Land und die Augen hinausgerichtet auf das Meer – das Möbelstück steht einladend, geradezu verlockend vor uns. In dieser gleichmäßig sorgsamen Behandlung von Bedeutendem und Geringem gewinnt die Selbstspiegelung in Keller Anschluß an die in Pisanello, bei dem allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird.

Allem Lebendigen zugetan bedeutet nicht, ausschließlich oder vorzüglich den Menschen zugetan. Bei nüchterner Betrachtung, so Sebald wiederum im Gespräch, hat der Mensch keinerlei Vorrang gegenüber seinen Mitgeschöpfen. Tiere führen in den Texten ein eigenes und bedeutsames Leben. Federtiere, Hühner, die hinauslaufen auf ein regennasses Feld, ein Entenpaar, im Schutze einer der herabhängenden Zweige einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers verschaffen metaphysische Augenblicke. Die Heringe haben ihr eigenes Auschwitz, ihr Schicksal ist Teil der Weltklage: Güterwagen der Eisenbahn nehmen den ruhelosen Wanderer des Meeres auf, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird. Die Falter verheißen mit ihren bloßen Namen eine dem Wahnsinn nahe Pracht: Porzellan- und Pergamentspinner, spanische Fahnen und schwarze Ordensbänder, Messing- und Ypsiloneulen, Wolfsmilch- und Fledermausschwärmer, Jungfernkinder und alte Damen, Totenköpfe und Geistermotten. Auch die Pflanzenwelt ist reichlich bedacht, wir hören Preislieder auf die Wälder und Klagelieder über ihre Vernichtung.

Wer sich in Fauna und Flora und insbesondere die Einzelheiten des biologischen Parasitismus vertieft, steht bald vor der Unmöglichkeit, allem Lebendigen zugetan zu sein. Über das parasitäre Brutverhalten des pfiffigen Kuckucks mag man schmunzeln, bei der Lebensgestaltung  parasitärer Wurmarten hat es seine Grenze, man muß sich entscheiden und kaum jemand wird sich auf die Seite der Würmer schlagen. Sowohl Margarethe mit dem Wurm als auch dem heiligen Georg liegt das geringelte Tier unter dem beifälligen Blick des Dichters tot zu Füßen. Die chinesische Kaiserin mag in den Seidenwürmern die besseren Untertanen, gleichsam die besseren Menschen sehen, aber auch die pessimistischste Geschichtssicht kann sich von der schlimmen Despotin nur in den schwärzesten Augenblicken verleiten lassen.

Die Feststellung, Kellers Prosa sei allem Lebendigen zugetan, ist nicht bündig abgeschlossen, sondern eingebettet in eine Satzfolge, in der weitaus mehr von Schatten, Erlöschen des Lichts und Tod die Rede ist. Dabei lebte Keller zu einer Zeit, als alles noch hätte anders kommen können, als es dann kam. Inzwischen haben sich alle Türen besserer Möglichkeit geschlossen, die Schatten sind noch weit länger geworden. Das Wort vom nicht abgeschlossenen Projekt Moderne würde Sebald nicht unterzeichnen, ihm gilt das Projekt als fehlgeleitet und gescheitert. Aus korrigierender Anklage ist umfassende und ziellose Klage geworden. Die Gegenwart erscheint als eine Kultur des Todes, gerade auch, weil sie den Tod mit billigen Tricks und naturgemäß ohne jeden Erfolg vergessen machen und eine reine Gegenwart ohne Beginn und Ende sein will und die Ränder der Ewigkeit dafür abschneidet. Schon im Prosaerstling Schwindel.Gefühle hatte Sebald, nicht ohne ein Lächeln, das Weltende auf das Jahr 2013 festgesetzt. Das hinderte ihn nicht, zurückzukehren ins Landhaus als einer des allem Lebendigen zugetanen alemannischen Freundeskreises.

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