Aus dem Schattenreich
Walser, Vogl, Sebald, Kinbote
Laut einer Notiz im SPIEGEL hat Martin Walser, als junger Mensch noch, sich aus der vollkommenen Innerlichkeit der kurzen Texte in die vergleichsweise greifbarere Welt der Romane Kafkas gerettet. Wollte man unter Innerlichkeit nach üblicher Weise das Verlassen einer unfreundlichen Außenwelt zugunsten der gepolsterte Geborgenheit eigenen Innenlebens verstehen, würde naturgemäß kaum eine Vokabel weniger zu Kafka passen als diese. Vermutlich kommt Joseph Vogl dem was Walser sagen will mit dem Bild des schmalen Randes gleich im ersten Satz seines Kafkabuchs näher: Kafkas Literatur hat die Lektüre auf deren unruhiges und ungeduldiges Element verpflichtet und den Raum des Lesens eingeengt und totalisiert zugleich. Die innere Weite des Erzählens, die Spannung zwischen Erfahrung und Sinn, in der die Zeit aufgehoben scheint, als Zeit der Erinnerung, des Eingedenkens und der Kontemplation wiederkehren mag und das Lesen selbst noch als gelassenen Aufschub des Wirklichen begünstigt – diese innere Weite des Erzählens ist bei Kafka auf einen schmalen Rand zusammengedrängt, auf dem die Wörter nie vom Bedeuten erlöst sind und nicht in einem gemeinsamen Horizont des Sinns zusammenfließen.
Halten wir uns aber Walsers Unterscheidung zwischen Kafkas Romanen und Kurztexten. Ein unbestreitbares Unterscheidungsmerkmal, neben der Länge, ist, daß die kürzeren Texte zum Teil abgeschlossen wurden, die Romane, es sind nur drei, dagegen nicht. Es kann kaum verwundern, wenn Kafka, balancierend auf seinem schmalen Rand, Schwierigkeiten mit der großen Form hat, keine dagegen mit der noch so winzigen Miniatur. Liest man den Landarzt, ein Text von atemberaubender Makellosigkeit und ungefähr zehn Seiten Umfang, als die Erzählung von einer verfehlten Ausfahrt, so kann das Nächste Dorf, ein nicht weniger perfekter Text von weniger als zehn Zeilen als ein Remake gelten, das von einem Ausrücken oder Ausritt jeglicher Art abrät. Aber auch die kleinformatige Prosa Kafkas ist in der Überzahl unabgeschlossen. Unüberschaubar ist die Zahl der Prosafragmente in den Tagebüchern und auf anderen Papieren, die die Welt schmerzhaft anreißen, eine große Weite ahnen lassen, sie aber nicht betreten.
Auch Sebald kommt in einem gewissen Sinne auf Kafkas Innerlichkeit zu sprechen, wenn er dessen geringes Interesse an der Außenwelt während der Italien- und Badereise nach Riva moniert. Die Schwindel.Gefühle wurden bereits gedeutet als Versuch, Kafka aufzuheitern, man mag man sie auch als eine Einladung an Kafka verstehen, den schmalen Rand zu verlassen, um sich in der üppigen Weite von Sebalds Satzlandschaft zu ergehen. Von den Schwindelgefühlen, die Kafka auf seinem schmalen Sims befallen haben mögen, kann ihn das allerdings nicht erretten, vielmehr verstärkt er sie für uns alle erheblich. Auch müssen wir fragen, wie Kafka, der so wenig Augen für die Außenwelt zu haben scheint, uns immer wieder mühe- und aufwandlos mit betörende Bilder der Außenwelt sprachlos machen kann, so beim Anblick der Barke des Jägers Gracchus, die auch Sebald in ihren Bann geschlagen hat: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. - In Riva wird er, auch bei aufmerksamen Blick, ein solches Schiff wohl nicht gesehen haben.
Auch in China, das er nie besucht hat, dessen Weite er aber liebte, kennt Kafka sich bestens aus und kann uns bei der Hand nehmen, wie der Vater einen Sohn: Der Vater hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes. Als wir endlich zum Ufer am Flußdelta kamen, hielt die Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen.
Die Dingwelt hat unbestreitbar einen tief eindrücklichen Platz in Kafkas Prosa. Wenn Walser schreibt, die Texte würden sich auf die Wirklichkeit des Jahrhunderts nicht mehr einlassen als die Evangelien, so hat er natürlich die soziale Welt im Auge. Abgesehen von der Frage der Richtigkeit dieser Einschätzung – die Wirklichkeit der Kaufmannswelt etwa dringt auch in viele der kürzesten Texte ein – kann dieser Vergleich nur als Ehrung verstanden werden. Wittgenstein schreibt den Evangelien eine Stillosigkeit nicht diesseits, sondern jenseits allen Stils zu und erklärt damit ihre ewige Jugend. Auf eine untergründige Weise scheint das so verstandene Merkmal der Stillosigkeit dem des schmalen Randes verwandt, und in der Tat deuten die ersten hundert Jahre Kafka auf einen extrem hohen Halbzeitwert dieser Prosa hin.
Es mag unüblich sein, aus einem Leseerlebnis ein mangels Alternative dann als Roman bezeichnetes Buch wie die Schwindel.Gefühle abzuleiten, und doch liegt ein höchst gewöhnliches Verhältnis zugrunde liegt. Bei vergrößertem Blickwinkel zeigt sich, daß jeder Autor, bei noch so großer innerer Weite des Erzählens, angesichts der überwältigenden Komplexität der realen Welt letztlich auf einem schmalen Rand nur existiert, so daß die Leser zu seiner Befreiung aufgerufen sind. Lesen ist ein Vorgang mit zwei Seiten, wir versuchen, in der Welt des Dichters heimisch zu werden und kommen nicht umhin, ihn auch in die unsrige einzuladen. Naturgemäß hat nicht jeder ein so komfortables Heim wie Sebald. Allerdings, wenn man es recht bedenkt, lädt er ein ins Landhaus, in Hotels und Pensionen, nie aber zu sich nach Haus. Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns eingeschlichen in die Unterkünfte, im Schatten der Vorhänge gelauscht und nicht genutzte Gesprächsfetzen aufgezeichnet.
Ein auf seine Art kaum weniger genialer Leser als Sebald ist der uns aus Nabokows Pale Fire bekannte Charles Kinbote. Mit traumwandlerischer Sicherheit und äußerster Zuverlässigkeit verfehlt er in seiner Lesung und seinem Kommentar zu John Shades Versepos für jeden Satz jeden auch nur irgend denkbaren Sinn, oder würde ihn verfehlen, wenn denn der größte Unfug nicht doch noch seinen Sinn hätte. Kinbote erfüllt uns durchschnittliche Leser dabei mit Resignation und Übermut zugleich, Resination wegen der möglichen Willkür und Übermut wegen der zu genießenden Freiheit des Lesens. Während wir uns bei der Lektüre Kafkas vorsichtig von Sebald bei der Hand nehmen lassen, lassen wir uns bei der Kommentierung der entstandenen Hybridgebilde mit unklarer Existenzberechtigung ein wenig von der Art Kinbotes verleiten.
Walser, Vogl, Sebald, Kinbote
Laut einer Notiz im SPIEGEL hat Martin Walser, als junger Mensch noch, sich aus der vollkommenen Innerlichkeit der kurzen Texte in die vergleichsweise greifbarere Welt der Romane Kafkas gerettet. Wollte man unter Innerlichkeit nach üblicher Weise das Verlassen einer unfreundlichen Außenwelt zugunsten der gepolsterte Geborgenheit eigenen Innenlebens verstehen, würde naturgemäß kaum eine Vokabel weniger zu Kafka passen als diese. Vermutlich kommt Joseph Vogl dem was Walser sagen will mit dem Bild des schmalen Randes gleich im ersten Satz seines Kafkabuchs näher: Kafkas Literatur hat die Lektüre auf deren unruhiges und ungeduldiges Element verpflichtet und den Raum des Lesens eingeengt und totalisiert zugleich. Die innere Weite des Erzählens, die Spannung zwischen Erfahrung und Sinn, in der die Zeit aufgehoben scheint, als Zeit der Erinnerung, des Eingedenkens und der Kontemplation wiederkehren mag und das Lesen selbst noch als gelassenen Aufschub des Wirklichen begünstigt – diese innere Weite des Erzählens ist bei Kafka auf einen schmalen Rand zusammengedrängt, auf dem die Wörter nie vom Bedeuten erlöst sind und nicht in einem gemeinsamen Horizont des Sinns zusammenfließen.
Halten wir uns aber Walsers Unterscheidung zwischen Kafkas Romanen und Kurztexten. Ein unbestreitbares Unterscheidungsmerkmal, neben der Länge, ist, daß die kürzeren Texte zum Teil abgeschlossen wurden, die Romane, es sind nur drei, dagegen nicht. Es kann kaum verwundern, wenn Kafka, balancierend auf seinem schmalen Rand, Schwierigkeiten mit der großen Form hat, keine dagegen mit der noch so winzigen Miniatur. Liest man den Landarzt, ein Text von atemberaubender Makellosigkeit und ungefähr zehn Seiten Umfang, als die Erzählung von einer verfehlten Ausfahrt, so kann das Nächste Dorf, ein nicht weniger perfekter Text von weniger als zehn Zeilen als ein Remake gelten, das von einem Ausrücken oder Ausritt jeglicher Art abrät. Aber auch die kleinformatige Prosa Kafkas ist in der Überzahl unabgeschlossen. Unüberschaubar ist die Zahl der Prosafragmente in den Tagebüchern und auf anderen Papieren, die die Welt schmerzhaft anreißen, eine große Weite ahnen lassen, sie aber nicht betreten.
Auch Sebald kommt in einem gewissen Sinne auf Kafkas Innerlichkeit zu sprechen, wenn er dessen geringes Interesse an der Außenwelt während der Italien- und Badereise nach Riva moniert. Die Schwindel.Gefühle wurden bereits gedeutet als Versuch, Kafka aufzuheitern, man mag man sie auch als eine Einladung an Kafka verstehen, den schmalen Rand zu verlassen, um sich in der üppigen Weite von Sebalds Satzlandschaft zu ergehen. Von den Schwindelgefühlen, die Kafka auf seinem schmalen Sims befallen haben mögen, kann ihn das allerdings nicht erretten, vielmehr verstärkt er sie für uns alle erheblich. Auch müssen wir fragen, wie Kafka, der so wenig Augen für die Außenwelt zu haben scheint, uns immer wieder mühe- und aufwandlos mit betörende Bilder der Außenwelt sprachlos machen kann, so beim Anblick der Barke des Jägers Gracchus, die auch Sebald in ihren Bann geschlagen hat: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. - In Riva wird er, auch bei aufmerksamen Blick, ein solches Schiff wohl nicht gesehen haben.
Auch in China, das er nie besucht hat, dessen Weite er aber liebte, kennt Kafka sich bestens aus und kann uns bei der Hand nehmen, wie der Vater einen Sohn: Der Vater hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes. Als wir endlich zum Ufer am Flußdelta kamen, hielt die Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen.
Die Dingwelt hat unbestreitbar einen tief eindrücklichen Platz in Kafkas Prosa. Wenn Walser schreibt, die Texte würden sich auf die Wirklichkeit des Jahrhunderts nicht mehr einlassen als die Evangelien, so hat er natürlich die soziale Welt im Auge. Abgesehen von der Frage der Richtigkeit dieser Einschätzung – die Wirklichkeit der Kaufmannswelt etwa dringt auch in viele der kürzesten Texte ein – kann dieser Vergleich nur als Ehrung verstanden werden. Wittgenstein schreibt den Evangelien eine Stillosigkeit nicht diesseits, sondern jenseits allen Stils zu und erklärt damit ihre ewige Jugend. Auf eine untergründige Weise scheint das so verstandene Merkmal der Stillosigkeit dem des schmalen Randes verwandt, und in der Tat deuten die ersten hundert Jahre Kafka auf einen extrem hohen Halbzeitwert dieser Prosa hin.
Es mag unüblich sein, aus einem Leseerlebnis ein mangels Alternative dann als Roman bezeichnetes Buch wie die Schwindel.Gefühle abzuleiten, und doch liegt ein höchst gewöhnliches Verhältnis zugrunde liegt. Bei vergrößertem Blickwinkel zeigt sich, daß jeder Autor, bei noch so großer innerer Weite des Erzählens, angesichts der überwältigenden Komplexität der realen Welt letztlich auf einem schmalen Rand nur existiert, so daß die Leser zu seiner Befreiung aufgerufen sind. Lesen ist ein Vorgang mit zwei Seiten, wir versuchen, in der Welt des Dichters heimisch zu werden und kommen nicht umhin, ihn auch in die unsrige einzuladen. Naturgemäß hat nicht jeder ein so komfortables Heim wie Sebald. Allerdings, wenn man es recht bedenkt, lädt er ein ins Landhaus, in Hotels und Pensionen, nie aber zu sich nach Haus. Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns eingeschlichen in die Unterkünfte, im Schatten der Vorhänge gelauscht und nicht genutzte Gesprächsfetzen aufgezeichnet.
Ein auf seine Art kaum weniger genialer Leser als Sebald ist der uns aus Nabokows Pale Fire bekannte Charles Kinbote. Mit traumwandlerischer Sicherheit und äußerster Zuverlässigkeit verfehlt er in seiner Lesung und seinem Kommentar zu John Shades Versepos für jeden Satz jeden auch nur irgend denkbaren Sinn, oder würde ihn verfehlen, wenn denn der größte Unfug nicht doch noch seinen Sinn hätte. Kinbote erfüllt uns durchschnittliche Leser dabei mit Resignation und Übermut zugleich, Resination wegen der möglichen Willkür und Übermut wegen der zu genießenden Freiheit des Lesens. Während wir uns bei der Lektüre Kafkas vorsichtig von Sebald bei der Hand nehmen lassen, lassen wir uns bei der Kommentierung der entstandenen Hybridgebilde mit unklarer Existenzberechtigung ein wenig von der Art Kinbotes verleiten.
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