Mittwoch, 11. Mai 2011

Stadt unter Städten

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es ist eine Stadt unter den Städten, ihre Vergangenheit war größer als ihre Gegenwart, aber auch diese ist noch ansehnlich genug. Zu ihren Glanzeiten war sie nicht nur einer der bedeutendsten Fischereihäfen, sondern auch ein über die Grenzen des Landes hinaus gepriesenes Seebad gewesen. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, entstand auf der anderen Seite des Flusses die sogenannte Südstadt mit einer Reihe von Hotels, die den Ansprüchen der vornehmen Kreise gerecht werden konnten, und neben den Hotels errichtete man Wandelhallen und Pavillons, Kirchen und Kapellen für jede Denomination, baute eine Leihbibliothek, einen Billardsaal, ein tempelartiges Teehaus und eine Straßenbahn mit einem prunkvollen Terminus. Eine breite Esplanade, Alleen, botanische Gärten und See- und Süßwasserbäder wurden angelegt und Verschönerungs- und Fördervereine gegründet. Ein etwas zurückgebliebener aber ansonsten freundlicher Ort, dachte ich jetzt, als ich in die Stadt hineinging. Der Bürgermeister, zu dem ich eingeladen war, hatte gerade einige Schriftstücke unterschrieben und lehnte sich zurück, nahm spielend eine Schere in die Hand, horchte auf das Mittagsläuten draußen auf dem alten Platz und sagte, halb zu mir und halb zu dem Sekretär, der steif vor Ehrerbietung, fast hochmütig vor Ehrerbietung neben den Schreibtisch stand: Haben sie auch bemerkt, daß sich etwas Besonderes in der Stadt vorbereitet? Sie sind jung, Sie müssen doch den Blick dafür haben. - So jung war ich ja nun nicht mehr.

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