Montag, 9. Mai 2011

Das Pferd stolperte

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Lange Zeit habe er in dem Glauben gelebt, sich an diesen Ritt in allen Einzelheiten erinnern zu können, aber nichts traf weniger zu als das. Deutlich sah er das Bild, in dem sich, bei schon abnehmenden Licht, die Stadt Ivrea aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile ihm zum ersten Mal dargeboten hatte. Wo es aus dem breiter werdenden Tal langsam in die Ebene hinausgeht, lag sie, etwas zur Rechten, während links, in die Tiefe der Entfernung hinein, sich die Berge erhoben, der Resegone di Lecco, der ihm später noch soviel bedeuten sollte, und ganz im Hintergrund wohl der Monte Rosa. Aber das Pferd stolperte, fiel auf die Vorderbeine nieder, er wurde abgeworfen. Zwei Männer, die jeder für sich irgendwo im Baumschatten gelungert hatten, kamen hervor und besahen den Abgestürzten. Alles war jedem von ihnen, so schien es, irgendwie verdächtig, das Pferd, das wieder aufrecht stand, der Reiter, der Mann gegenüber, der plötzlich gelockt von dem Unfall hervorgekommen war. Sie näherten sich langsam, die Lippen mürrisch aufgeworfen und mit der Hand, die sie in das vorn offene Hemd geschoben hatten, fuhren sie unschlüssig an Brust und Hals herum. Diese Einzelheiten sah er, der Reiter, in der Erinnerung mit äußerster Klarheit, wie aufgezeichnet, vor sich, mit noch so großer Anstrengung aber gelang es ihm nicht, sich des Fortgangs der Episode oder des weiteren Ritts zu entsinnen. Jahre später, bei der Durchsicht alter Papiere, sei er dann auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestoßen und habe sich eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von eben dieser Gravure. Nun, nach dem ihm diese so sichere Erinnerung genommen war, konnte er sich auch schon in keiner Weise mehr sicher sein, ob der Sturz vom Pferd bei dieser Reise stattgefunden hatte oder bei einer anderen, ob er überhaupt stattgefunden hatte und nicht vielmehr nur ein Traumbild war.

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