Freitag, 27. November 2009

Selysses

L'aurora acaricia amb dits de rosa
fusellatges que semblen, enlairant-se,
fantasmes d'alumini de la Ilíada.



Von den Lesern wird Sebald unterschiedlich eingeschätzt. Die einen sehen in ihm einen eigentlich nicht weiter erwähnenswerten Epigonen des neunzehnten Jahrhunderts, Adalbert Stifter revidivus, die anderen einen unvergleichlichen Neuerer, wieder andere einen Neuerer zwar aber doch einen vergleichbaren und verweisen etwa auf Claudio Magris. Dessen Wanderungen die Donau entlang können an Sebalds Wanderungen durch den Südosten Englands erinnern, vier Jahre nach Austerlitz hat Magris mit Alla cieca, Blindlings, einen Roman veröffentlicht, in dem die Gegenwart sich in gleicher Weise den Greueln der Vergangenheit verdankt, von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten: lo sguardo attonito e dilatato sul mare e su imminenti catastrofi, und die endgültige Auslöschung nur wünschenswert ist: un volcane enorme dovesse emergere dalle acque e far scoppiare tutto in un rosso mare di fuoco.

Alla cieca ist Autobiographie einer multiplen, die Jahrhunderte durchmessenden Persönlichkeit, Salvatore Cippico, der von den Nazis in Dachau und von den Kommunisten auf Goli Otok interniert wurde, aber auch schon in Port Arthur auf Tasmanien im Zuge der Zivilisierung, sprich völligen Ausrottung der Urbevölkerung, er ist ferner als Jorgen Jorgensen drei Wochen König von Island, und ebenso ist er Jason auf Argonautenfahrt. Es wäre Aufgabe des Lesers, den Fluchtpunkt in der Einheit dieser Person, in diesem Phantasma zu finden und, wenn er will, hinter der fiktiven Person die des Autors.

Mit derartigen Mühen belastet Sebald uns nicht. Sein Gesamtwerk hat einen schlichten als real fiktionalisierten Helden, den sebaldnahen Icherzähler, wir nennen ihn Selysses, obwohl er sich als eher meeresscheu erweist, bei weitem kein Seemann vom Format des Odysseus oder des Argonauten Salvatore Cippico. Selysses ist als real fiktionalisiert aber keine in Intrigen eingespannte Romanfigur, allenfalls in den Schwindel.Gefühlen ansatzweise. Magris Phantasma Salvatore Cippico wirkt greller und insofern „moderner“ als Sebalds Selysses, denn wir haben uns nicht ohne Grund daran gewöhnt, das Grelle mit dem Neuzeitlichen gleichzusetzen. Wir lieben Magris Buch und gönnen ihm den Vorsprung, ohne zu wissen, ob er Wert darauf legt. Sebalds besonderer Charme als Neuerer besteht für die, die diesen Zauber wahrnehmen, in der geradezu aggressiven Unmodernität der Außenhaut seiner Prosa.

Reale Person zwar, bleibt Selysses doch leer, und auch wenn er in seine Kindheit zurückkehrt, so nicht um dort Fülle zu finden: Selysses war lediglich heimgekehrt, um endgültig zu verschwinden und seinen wahren Platz zu finden, als Person sozusagen ausgehöhlt und an den äußeren Rand der Welt gedrückt, um von dort aus zurückzukehren als allgegenwärtige Stimme, als Stil, als Syntax, als Prosa in alemannisch-deutscher Sprache. Selysses ist sebaldnah, erläutert Sebald aber kaum. In der Gestalt des Selysses erschafft Sebald sich als Leerraum für den Tanz wiederkehrender Motive, das Spiel seiner obsessiven Mental- und Sprachmuster. Das kann es als lohnend erscheinen lassen, seine Bücher als ein Buch zu lesen, um die Molekularbewegungen seiner Erzählelemente im derart erweiterten Kontext zu betrachten:

Träume: Aus der Vogelperspektive sah ich eine lichtlose Landschaft, durch die ein sehr kleiner Eisenbahnzug dahineilte, zwölf erdfarbene Miniaturwaggons und eine kohlschwarze Lokomotive unter einer nach rückwärts gewandten Rauchfahne, deren Spitze, wie eine große Straußenfeder, fortwährend hin und her gerissen wurde bei der geschwinden Fahrt. Dann wieder Wolkengebirge am Horizont weit über den Dächern und Windmühlen, deren breite Segel, Schlag für Schlag, das Morgengrauen durchteilte; u.v.m.

Gebäude: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle; u.v.m.

Schiffe: Später, als die Schlacht ihren Fortgang nahm, als die Pulvermagazine explodierten und einige der geteerten Schiffsleiber bis an die Wasserlinie herabbrannten, wird alles eingehüllt gewesen sein in einen beizenden, gelbschwarzen über die gesamte Bucht sich wälzenden Rauch; u.v.m.

Der Jäger Gracchus: Von ihm, dem Jäger, wird erzählt, daß er beim Verfolgen einer Gemse – und ist das nicht eine der eigenartigsten Falschmeldungen aller Erzählungen, die je erzählt worden sind? – aus einer Felswand zu Tode gestürzt ist und daß der Kahn, der ihn ans andere Ufer hätte bringen sollen, durch eine falsche Drehung des Steuers, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers die Fahrt verfehlt hat, weshalb er, Gracchus, seither ruhelos auf den irdischen Meeren kreuze; u.v.m.

Gärten: Er hatte sich des ziemlich vernachlässigten Gartens angenommen, und tatsächlich war ihm ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die schattigen Efeubeete, die Rhododendren, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen – es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr; u.v.m.

Flieger: Mir selbst sind Liebesgeschichten, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. Was mich betrifft, so lebe ich nur, um von der Erde abheben zu können; u.v.m.

Lehrer: Er ist einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen – ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte; u.v.m.

Mahlzeiten: Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht; u.nicht.v.m.

Kopulationen: Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten; u.nicht.v.m.

Heilige: Bei Regensburg überquert er auf seinem Mantel die Donau, macht in der Stadt ein zerbrochenes Glas wieder ganz und entfacht im Herd eines ums Feuer geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Daran schließt Sebald eine seiner schönsten und rätselhaftesten Überlegungen überhaupt an: Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei, die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen; u.v.m.

Uhren: Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr; u.v.m.

Tiere: Zu sagen, Sebald Bücher seien kaum weniger von Tieren als von Menschen bevölkert, wäre, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, eine mörderische Untertreibung; u.v.m.

Gemälde: Er sieht, durch Rembrandt hindurch, den panischen Halsknick an den in Grünewalds Werk überall vorkommenden Subjekten, der die Kehle freigibt und das Gesicht hineinwendet oft in ein blendendes Licht, als den äußersten Ausdruck der Körper dafür, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andre und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr grad erst gelang; u.v.m.

Zahlenspiele: Keineswegs soll hier hinter der Zahl Dreizehn eine Geschichtsphilosophie Sebalds ans Tageslicht gefördert werden. Es ist überhaupt nicht sicher und eher fraglich, ob hinter den Zahlenspielen allzu viel Tiefe steckt. Nach Sebalds Überzeugung ist die Welt sinnlos, und alle wissen das. Umso mehr komme es darauf an alles zu nutzen, was für den Augenblick Sinn verspricht; u.v.m.

Hotelrezeptionen: Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte; u.v.m.

Sehschwierigkeiten: Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur; u.v.m.

U.v.m. Die einzelnen Motivstränge werden in den kleinen Sebaldstücken angehoben, beleuchtet – auch Verborgenes kann dabei ins Auge springen - und möglichst unversehrt und unbehelligt von Deutung und Auslegung wieder zurückgegeben in ihre Umgebung. An Wahrheiten, die außerhalb ihres Kontextes überleben können, besteht kein Interesse.


Alle Prosaarbeiten Sebalds fiktionalisieren also die reale Realität des sebaldnahen Erzählers, Selysses, aber nur flüchtige Blicke ergeben sich auf dessen Lebensrealität, seine reale Realität besteht überwiegend aus Zusatzrealitäten, aus anderen Realitäten als der seines Lebens und aus der Realität anderer. Selysses versenkt sich in die Erinnerung seiner Kindheit, in der er sich als einen ganz anderen vorfindet, ihm wird erzählt von seinen Verwandten in Amerika über andere Verwandte und deren leben, von Selwyn, von Austerlitz. Dem Leben seines Volksschullehrers Bereyter steigt er mit ähnlicher Intensität nach wie Austerlitz seinen verschwundenen Eltern. Ihm werden Tagebücher anvertraut, das des Ambros Adelwarth oder das der Mutter Max Aurachs, er refiktionalisiert Gelesenes, Stendhals Leben, Kafkas leben, Joseph Conrad in Afrika und in der Ukraine, die Kaiserin von China. Er träumt, ihm werden Träume erzählt. Er schreibt alles auf, was er erfährt. Selysses verläßt seine reale Welt vollständig, um sich rückhaltlos in Bilder der Hochkunst zu vertiefen, oder, mit nicht geringerer Intensität und Leidenschaft, in Atlanten oder läppische Postkarten. - Eine Sehnsucht mag uns ankommen, so zu sein wie Selysses, dermaßen absehen zu können von uns selbst, um so offen und fähig zu sein für das andere, ein Rezeptorium und Rezeptakulum bloß für die Welt ohne viel eigene Interessen in ihr. Aber Selysses ist eine Kunstfigur, und die Qual der Transfiguration von Leben in Kunst ist in Sebalds Werk nun wirklich nicht verschwiegen, wir sehen den am Schreibzwang zugrundegehenden Rousseau, wir sehen Casanova, sein Haar schwebt, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt, die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort, wir sehen Stendhal und Kafka, wir sehen Grünewald, immer dieselbe Sanftmut, dieselbe Trübsal, dieselbe Unregelmäßigkeit der Augen, verhängt und versunken, seitwärts ins Einsame hin.

In seiner vom Autor in Mühe und Entsagung geschaffenen, für uns so bequemen Leere, ist uns Selysses ein Wegbegleiter, den wir nicht wieder missen wollen. Wir stellen uns hinter ihn und machen uns als ein Selysses der zweiten Reihe seine Welt zueigen. Wir schauen auf vom Buch und beim Fenster hinaus, schon mag uns scheinen, als schauten wir wie er.


Mittwoch, 25. November 2009

Sebald

Scriptor post Scriptum

Le lapidi sono romanzi concentrati.
I romanzi sono lapidi dilatate.


Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach als Sohn des gelernten Schlossers Georg Sebald und dessen Ehefrau Rosi geboren. Seine Vornamen, so heißt es, haßte er und nannte sich selbst Max oder auch Bill. Am 14. Dezember 2001 kam Sebald bei einem Verkehrsunfall in Norfolk ums Leben.

Einiges mehr wissen wir schon über Sebalds Leben, seine Wohnorte, die Stationen seiner Ausbildung und seines Werdegangs als Hochschullehrer. Er hatte eine Schwester und den über alles geliebten Großvater mütterlicherseits, Dorfgendarm in Wertach. Sebald war verheiratet, wir lernen seine Frau flüchtig kennen in der Erzählung Dr. Henry Selwyn und in die Ringe des Saturn schaut sie auch kurz hinein. Sebald bezog in den 1970er Jahren mit Frau und Tochter ein viktorianisches Pfarrhaus und trotzte der gestrüppartigen Wildnis eine weitläufige Gartenanlage ab; es entstand ein musterhaft schöner ostenglischer Blumengarten. Die Augen seiner Tochter Anna kennen wir aus Unerzählt, unerzählt bleibt die Geschichte der abgewandten Gesichter. Eine größere, detaillierte Biographie Sebalds ist bislang, soweit ersichtlich, nicht im Handel.


Braucht man die Person des Dichters zum Studium seiner Bücher? Offenbar nicht. Wir lesen die Odyssee und die Ilias ohne näheres zu wissen über Homer oder auch nur sicher sein zu können, daß es ihn gegeben hat. Und dennoch, wir schauen Bildnisse und Büsten an, die Homer darstellen sollen und versuchen, in den blinden Augen sein Wesen zu ergründen.

Umso weniger möchten wie die Photos missen, die Christian Scholz 1997 von Sebald gemacht hat. Die Falten in den Augenwinkeln lassen eine Interpretation seines Werkes als durchweg schwermütig und freudlos nicht zu. Offenbar auch hat ihm der einsetzende Erfolg gut getan. Die halbgeschlossenen Augen schauen gleichermaßen nach innen und auf uns, die untere Gesichtshälfte ist von der die Zigarettenspitze haltenden Hand verdeckt. Unverkennbar ist die souveräne, provokante Herausforderung: Ja, ich könnte jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und Euch als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen, und wie könntet Ihr schöner Euren Tod finden als durch dieses Gift. Wir freuen uns, Sebald auf einem Bild Jan Peter Tripps in Tongeren beim Billard zuschauen zu können. Wenn wir jemanden hoch verehren, kommt er uns näher, wenn er etwas seiner Unwürdiges tut. Er gibt uns damit Urlaub von der Last der Verehrung. Und von diesem Augenblick an empfinden wir ihm gegenüber eine echte Anhänglichkeit. – So unwürdig ist das Billardspiel nun allerdings nicht, denn auch Maler und Dichter lassen sich bei ihrem Geschäft auf ein risikoreiches Spiel ein, bei dem mit einer falschen Bewegung leicht alles vertan ist.

Seine Magisterarbeit hat Sebald über Carl Sternheim verfaßt, in der Beurteilung von Thea Sternheim das mit Eifer und Geifer zusammengetragene Elaborat eines fünfundzwanzigjährigen Bayern. Eifer und Geifer, innerhalb von Sebalds Essayistik gibt es Stellen, die an diese Kennzeichnung denken lassen mögen, beim Lesen seiner Prosa liegt keine Wortgruppe ferner als diese, der ausgelegte Samtuntergrund ist lückenlos und ohne Webfehler. Offenbar ist also ein Dritter im Spiel, der lebende Sebald, der erzählte Sebald, Selysses, und der selyssesnahe erzählende Sebald, der in Vorbereitung auf und im Vollzug des späten Dichtertums geboren wurde.

Die Dichter verwandeln sich, wenn sie zum Dichter werden, aber keineswegs alle auf die gleiche Art. Bei Proust hat es den Anschein, als habe er das ernsthafte Schreiben hinausgezögert, um lebend das Material für sein großes Werk zu erweitern und zu vervollständigen, hinausgezögert fast wie in einem Kriminalfilm zur Erhöhung der Spannung bis zum allerletzten Augenblick, um sich dann in ein wie rasend aufzeichnendes Schreibgerät zu verwandeln und fieberhaft alle Momente des gelebten Lebens in Buchstaben und Sätzen neu zu entrollen. Sebald schildert diese Verwandlung in ein menschliches Schreibgerät am Beispiel Casanovas, der als das Beispiel eines vollen und tollen Lebens gilt: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort.

Bei Kafka tritt eine derartige zeitliche Zäsur zwischen Lebensbeschreibung nicht auf, er hat unablässig lebensbegleitend geschrieben, Briefe, Tagebücher und die literarischen Verwandlungen in riesenhafte Käfer, in Hungerkünstler, in den Jäger Gracchus, in Gefolterte und in unschuldig Gerichtete, Ausgesperrte, nicht Zugelassene. Fast alles ist Fragment geblieben, weniges nur hat sich als Werk vom Leben abgeschnürt.

Ich war nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinweg zu kommen, berichtet Selysses, der in einem nie ganz klaren Verhältnis für Sebald spricht. Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden. Schreib- und damit verbunden natürlich auch Lesetätigkeit und Gartenarbeit also als Füllung der Tage und nicht näher benannte Interferenzen aus dem Leben, die die Zeit ins Ungute wenden.

Als Sebald seinen ersten Prosaband, die Schwindel.Gefühle, veröffentlichte, befand er sich im gleichen Lebensabschnitt, in dem Proust die Arbeit an der Recherche aufnahm, und auch die noch verbleibende Lebensfrist war ähnlich. Die Erzählung Il Ritorno in Patria hat den Charakter einer miniaturhaften Recherche du temps perdu, aber Wertach ist beileibe nicht Combray. Wertach steigt aus keinerlei einer Madeleine verwandtem Allgäuer Gebäckstück auf, sondern wird erreicht über den inzwischen Sebaldweg genannten Wanderweg vom tirolischen Oberjoch aus. Combray rotiert geradezu um den allabendlich heiß ersehnten und dann doch immer wieder auf katastrophale Weise ausbleibenden Gutenachtkuß der Mutter und auch der Vater, der Großvater und vor allem die Großmutter sind ständig parate Bestandteile eines ebenso tiefen wie leidvollen Kindheitsglücks. Von den Wertacher Eltern erfahren wir nur das allerkargste, ein weniges mehr vom Großvater und auch der Knabe Selysses rückt eigentlich nicht ins Blickfeld. Grad wie der erwachsene Selysses ist er bereits ein Vermittler der Geschichten anderer ein ständiger Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek, auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café Alpenrose. Die verlorene Zeit wird, soweit es die eigene ist, nicht in ihrer Tiefe erforscht. – Proust und Casanova, so scheint es, haben sich aufgegeben, um ihre Erzählfiguren mit ihrem eigenen Leben zu füllen. Sebald stellt die Leerform des Selysses zur Verfügung, um andere Lebensgeschichten einzufangen, was mit ihm selbst geschieht dabei, bleibt im Dunklen.

Die Schwindelgefühle des Selysses sind wohl auch die ihres Autors, entlarvende Verwandlungen wie bei Kafka finden aber nicht statt, umso interessierter aber schaut er Kafka über die Schulter: Also wahrhaftig ein Engel, den ganzen Tag fliegt er auf mich zu, und ich in meinem Unglauben weiß es nicht. Jetzt wird er gleich zu mir sprechen, dachte er und senkte den Blick. Aber als er ihn wieder hob, war zwar noch der Engel da und hing ziemlich tief unter der Decke, die sich wieder geschlossen hatte, aber es war kein lebendiger Engel, sondern nur eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen unter der Decke hängen.

Wir kennen den zugunsten der Geschichten anderer entleerten erzählten Doppelgänger Sebalds, Selysses, und wir kennen die Dichterperson als Stimme, Tonfall, Stil. Natürlich würden wir von dem Dritten im Spiel, den Sebald hinter dem schreibenden Sebald, noch einiges mehr erfahren, am besten seiner Unwürdiges, um ihn, nach dem referierten Muster Ciorans, noch tiefer verehren zu können.

Man kann die kleinen Sebaldstücke als einen frevelhaften Versuch ansehen, die Position des selyssesnahen Erzählers zu usurpieren, um für einen Augenblick selbst zum sciptor post personam scriptam zu werden, wohl wissend, daß Selysses in dieser unguten Lage sogleich in Atemnot gerät und nur für die kürzeste Dauer überleben kann. Vermutlich aber ist alles bei weitem harmloser und in einem milderen Licht zu sehen und die Sebaldstücke nur ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers, das die Geschichten der Dichter, nach Sebalds eigenen Worten, für ihr Gelingen in jedem Fall benötigen.


Donnerstag, 29. Oktober 2009

Nach der Natur

Das Elementargedicht Nach der Natur wird eröffnet mit einem Blick auf die Tafeln des Lindenhardter Altars und selbst hat es mit den in einer eigenen Weise skizzierten Lebensbildern des Malers Matthias Grünewald (1475/80 –1528), des Naturforschers im Eismeer Georg Wilhelm Steller (1709 – 1746) und des sebaldnahen Erzählers und Wanderers (1946 – 2001), den wir hier Selysses nennen, die Gestalt eines Tryptichons. Fünfhundert Jahre, damit ist die für Sebalds Werk übliche historische Tiefe bereits vorgegeben. Die gesamte Geschichte aber ist vor der Natur und, so bleibt zu ergänzen, auch nach ihr. Die Erstausgabe von Nach der Natur ist mit Photographien versehen von Landschaften, die, so der Eindruck, nicht geeignet sind dafür, daß ein Mensch sie aufsucht. Wie unser eigenes Leben kurz aufblitzt zwischen zwei dunklen Ewigkeiten, so auch das der Gattung, eine einfache Feststellung und zugleich eine Sehnsucht des Dichters. Sicher nicht seine einzige Sehnsucht, noch mehr als in dem Elementargedicht wird in den nachfolgenden Prosawerken die Struktur der Sätze eine eigene Ewigkeit einfordern, und uns für die Zeit der Lektüre vor dem Dunkel bewahren.




Mittwoch, 28. Oktober 2009

Schwindel.Gefühle

Die Schwindel.Gefühle bestehen aus vier Erzählungen und bilden doch wieder, wie schon Nach der Natur, ein Tryptichon. Wieder geht es um zwei historische Gestalten, diesmal aus der Literaturgeschichte, Stendhal und Kafka, und um Selysses, den sebaldnahen Erzähler. Die Erzählung des Selysses ist zweigeteilt in einen transalpinen Aufbruch nach Venedig, Verona, Desenzano, Riva, Mailand, und eine cisalpine Rückkehr nach Wertach, so kommt man von drei auf vier. Selysses hat sich resolut in den Vordergrund bewegt, in Nach der Natur hatte er sich noch mit einem Drittel der Seiten begnügt, in den Schwindel.Gefühlen sind ihm mehr als zwei Drittel des Erzählraums gewidmet. Beim ersten Lesen wird man an vier mehr oder weniger separate Erzählungen glauben und doch das Gefühl einer beunruhigenden Verbundenheit nicht abstreifen können. Der Jäger Gracchus, Kafkas Geschöpf, taucht immer wieder unerwartet auf, bereits Stendhal begegnet ihm, obwohl es ihn zu der Zeit noch gar nicht gab, und in Wertach gibt Gracchus sich als der Jäger Hans Schlag aus. Um die Jahre 1813, 1913 und 2013 bilden sich diverse, vermutlich nicht ungefährliche Strudel. Die Schwindel.Gefühle sind Sebalds persönlichstes Buch, viel italienisches Licht fällt auf die Seiten, und wenn sich auch auf keine Weise der Nachweis führen läßt, es sei das schönste Buch des Autors, so spricht auch nichts dagegen, das wir es besonders lieben. Die unerhellbare Rätselhaftigkeit der Liebe, bei der schon die leichte Krümmung des Ringfingers Emotionen von einer Heftigkeit verursacht, wie man sie bislang noch nicht erfahren hatte, davon handelt das Buch, nach Sebalds eigener Einschätzung, letztendlich.

Und auf allem ruht der Blick des Selysses.


Dienstag, 27. Oktober 2009

Die Ausgewanderten

Dieses Buch besteht, wie der Untertitel bestätigt und anders als die Schwindel.Gefühle, tatsächlich aus vier und nicht aus drei langen Erzählungen. Die Position des Selysses hat sich erheblich gewandelt, er ist in allen Erzählungen vertreten aber nirgendwo die Hauptperson. Die vier Erzählungen handeln von Bekannten des Selysses, seinem Hauswirt Dr. Selwyn in Hingham bei Norwich in England, wo er als noch junger Mensch seine Stelle antreten sollte, von seinem Volksschullehrer Paul Bereyter, von seinem Großonkel Adelwarth und vom Maler Max Aurach, den Selysses in Manchester kennengelernt hatte. Die Erzählprotagonisten sind sämtlich von Geschehnissen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschädigt und aus der Bahn geworfen, begehen Selbstmord oder arrangieren ihren Tod. An die Stelle des Jägers Gracchus aus den Schwindel.Gefühlen tritt ein Schmetterlingsmann, der in den Schweizer Alpen ebenso wie in auftritt wie in Neuengland und der nur schwer von Nabokow zu unterscheiden ist, auch ein Fachmann der Emigration am eigenen Leibe.



Montag, 26. Oktober 2009

Die Ringe des Saturn

Die Ringe des Saturn sind fest in des Selysses Hand. In zehn Kapiteln durchwandert er den Südosten Englands, Somerleyton, Lowestoft, den Saints, Southwold, die Heide von Dunwich. Und doch entgleitet ihm das Geschehen immer wieder. Eine Miniatureisenbahn entführt ihn und uns bis an den kaiserlichen Hof in China in das Zentrum vorweltlicher Machtausübung der Kaiserin Tz’u-hsi. Eine Fernsehsendung der BBC, über der er einschläft, läßt Selysses und uns in einer Art Wiedergutmachung auf den Spuren Joseph Conrads bis nach Sibirien und dann ins Herz der Finsternis am Kongofluß reisen. Wir lernen Chateaubriand und Swinburne besser kennen, als wir sie bislang kannten, Thomas Browne vor allem auch und Edward FitzGerald, viele bizarre Gestalten sodann, von denen wir zuvor noch nie etwas gehört hatten, wie den Major George Wyndham Le Strange in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenblauen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, oder Alec Garrad, der den Tempel von Jerusalem in verkleinertem Maßstab naturgetreu nachbaut und schon lange Jahre damit beschäftigt ist. Wir erfahren mehr über den Hering, als wir je zu träumen wagten. All das macht uns glücklich trotz der vielen schrecklichen Dinge, die wir vor allem hören müssen. Ein Faden hält alles zusammen, der endlose, den der Seidenwurm spinnt. Das ganze letzte Kapitel ist diesem Lebewesen gewidmet, das zu den unscheinbarsten überhaupt zählt.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Austerlitz

Wer den Einstieg in Sebalds Werk über Austerlitz nimmt, glaubt sicher nichts anderes, als daß es einen Roman liest. Schon vorsichtiger wird sein, wer zuvor schon die Schwindel.Gefühle oder die Ringe des Saturn gelesen hat, Werke, bei denen es schon einiger Kühnheit bedarf, sie als Romane zu titulieren und deren Verwandtschaft mit Austerlitz gleichwohl augenfällig ist. Die Stellung des sebaldnahen Erzählers, Selysses, ist im Austerlitzbuch die gleiche wie in den Ausgewanderten, von ihm aus fällt Licht auf den Protagonisten, in diesem Fall auf den titelgebenden Jacques Austerlitz. Anders als die vier Ausgewanderten ist Austerlitz eines Zufallsbekanntschaft des Selysses, und die Wiederbegegnungen der beiden haben nicht selten einen Grad der Unwahrscheinlichkeit, der in seinem geradezu extravaganten Ausmaß offenbar signalisieren will, auf keinen Fall handele es sich um einen in irgendeiner Weise realistischen Roman. Wie Vergil den Dante, so nimmt Austerlitz den Selysses an die Hand und führt ihn durch die Hölle Europas mit ihrem satanischen Zentrum in Theresienstadt, aber auch, freilich nur kurz, ins Paradies, das in Wales zu finden ist und Andromeda Lodge heißt. Die romanhafte Gestalt des Werkes und damit die fehlende Untergliederung in mehrere recht selbständge Teile machen verbindende Motive schöner Rätselhaftigkeit wie den Jäger Gracchus in den Schwindel.Gefühlen, den Schmetterlingsmann in den Ausgewanderten oder den Seidenwurm in den Ringen des Saturn leider entbehrlich.

Austerlitz hat Sebalds breiteren Ruhm begründet, und ihm den Ruf eines Holocaustdichters eingebracht, der, wie im Essay Luftkrieg und Literatur nachzulesen, auch die Opfer der Bombenflüge gegen Deutschland nicht übersieht.


Samstag, 24. Oktober 2009

Logis in einem Landhaus

Der Titel ist dem Eingangssatz von Robert Walsers Kleist in Thun entlehnt. Hier nun hat Sebald sich enge Freunde zu intensiven Gesprächen in die Stille eines Landhauses eingeladen. Es sind durchweg Alemannen, wenn man denn den aus Genf gebürtigen Jean-Jacques Rousseau als Randalemannen durchgehen lassen will, etwas wagemutig, aber schließlich ist die Westschweiz ein franko-alemannisches Misch- und Übergangsgebiet, im Kanton Bern etwa gibt es auch nach der Abtrennung des Kantons Jura noch eine frankophone Minderheit. Der Rousseauaufsatz hat aber in jedem Fall eine Sonderstellung in dem Buch, es ist das ganz und gar literarische Bildnis eines Literaten und könnte gut zwischen den Bildnissen des Vicomte de Chateaubriand und des Algernon Swinburne in den Ringen des Saturn hängen, wenn sich denn auf der englischen Wallfahrt ein Anknüpfungspunkt ergeben hätte. Mörike, noch mehr aber den zwei Schweizerbürgern Keller und Robert Walser und dem Schweizergrenzbürger Hebel nähert sich Sebald mit der tiefen Liebe des Dichterfreundes aber auch mit dem Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers. Der letzte Aufsatz betrifft Jan Peter Tripp und auch der hat eine Sonderstellung, einmal weil Tripp nicht Literat, sondern Maler ist und zum anderen, weil er ein Freund Sebalds zu Lebzeiten war, diesseits der Trennlinie des Todes, einer immer erwähnenswehrten Linie, auch wenn Sebald sie für die Toten nach Möglichkeit durchlässig gestaltet hat.

Freitag, 23. Oktober 2009

Campo Santo

Der Nachlaßband Campo Santo ist vom Herausgeber in Prosa und Essays unterteilt. Zur Prosa rechnen drei Kapitel des geplanten, dann aber zugunsten von Austerlitz aufgegebenen oder doch liegengelassenen Korsikabuches und die Erzählung La cour de l’ancienne école, die auf engstem Raum den ganzen Sebaldzauber entfaltet. Zur Prosa hätten besser auch gezählt werden sollen der kurze Lebensbericht Moments musicaux und ferner Scomber scombrus, ein virtuoses Stückchen über die Makrele und anderes.

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Weitere Veröffentlichungen

Erschienen ist ferner in Zusammenarbeit mit dem Maler Jan Peter Tripp der Band Unerzählt, ferner der posthume Gedichtband Über das Land und das Wasser, die beiden Aufsatzsammlungen Unheimliche Heimat und Die Beschreibung des Unglücks sowie die Kampfschrift Luftkrieg und Literatur.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Lesen, Sebald lesen

Ascencion

I’m learning to fly, but I ain’t got wings
Coming down is the hardest thing


Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.

Man kann diese Passage lesen als Metapher der üblichen Begegnung mit einem Buch. Man trifft sich mehr oder weniger zufällig, verbringt eine nicht geringe Zeit miteinander, verspürt am Ende einen Augenblick der Niedergeschlagenheit, und was bleibt, ist, im günstigen Fall, eine glückliche Erinnerung. Man mag sich auf ähnliche Weise ein weiteres Mal begegnen bei gleichem Ablauf, der Augenblick der Tristesse beim Abschied mag entfallen oder sich verstärken, bei einer dritten Begegnung aber wird man wohl anhalten und sich bekannt machen und vielleicht das Wagnis einer wahren Freundschaft eingehen.

Im Fall der Lektüre steigen nicht Menschen aus einem Fahrzeug, sondern in die Augen schauen sich ein dichterisches Vermögen und ein Lesevermögen, das, wie auch immer bescheidene, Züge eines dichterischen Vermögens aufweisen sollte. Unsere Geschichten gelingen nur in dem Maß, als sie sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einrichten. Alles kommt darauf an, daß das Lesen sich in diesem Zwischenraum einrichtet und allen Versuchungen widersteht, ihn zu verlassen. Das gilt umso mehr, wenn der Leser sich seinerseits anschickt, seine Gedanken und Eindrücke zu sammeln und zu ordnen für einen Versuch, den gemeinsamen Raum der Phantasie von seiner Seite aus zu erfassen, vielleicht sogar in der Schriftform. Die Versuchungen, denen er dabei ausgesetzt ist, tragen vorzugsweise wissenschaftliche Masken reduktionistischer Machart.

Regelmäßig lockt die Versuchung des Biographismus und Psychologismus. So sind etwa ein Vatertrauma und eine psychoanalytische Fixierung des Schriftstellers W.G. Sebald bloßgelegt worden. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt. – Was hat der Leser damit gewonnen für sein Lesen? Den Raum zwischen der Phantasie des Autors und seiner eigenen hat er mit Überlegungen dieser Art sicher verlassen.

Noch verbreiteter ist das, was als Thematismus bezeichnet werden könnte, das alleinige oder doch weitgehende Abstellen auf die Themen der Prosa. Mit der Berücksichtigung des Holocaustthemas vor allem in Austerlitz war die Ernennung zum prime speaker of the Holocaust wohl nicht vermeidbar. Beim Thema des Holocaust fühlen sich viele - und wahrscheinlich völlig zu recht - befähigt mitzureden, aber nur wenige unter ihnen offenbar verfügen über ein Lesevermögen, das Züge eines dichterischen Vermögens aufweist.

Soziologismus, Historismus &c. sind weitere Klippen, von denen fader Sirenensang ertönt. All das kann ohne weiteres mitschweben bei der Lektüre - und je mehr und tiefer wir einen Dichter lesen, desto nachdrücklicher wird uns nicht selten seine Gestalt und zumal sein Antlitz zum Abbild seiner Texte, so als liege dort ihr Geheimnis verborgen, so als könnten wir sie auch unmittelbar dort entziffern -, viel kann also mitschweben und sich überblenden, ständig aber muß klar bleiben, daß Dichtung hier erst beginnt und in ihren eigenen Bahnen fortfährt, indem sie alles Vorausliegende nur als Material zu benutzt, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Wer einem der Sirenenliedchen folgt und sich ihm ausliefert bis hin zum reduktionistischen, es sei „nichts anderes als“, der steht mit den Worten des Dichters zwar nicht unbedingt stumm aber doch dumm und betrogen da.


Höchste und kaum zu erreichende Maßstäbe setzen Sebalds eigene Leseabenteuer, sofern sie Gegenstände seiner Prosa werden, seine Begegnungen etwa mit Stendhal und Kafka in den Schwindel.Gefühlen oder mit Rousseau im Landhaus. Ohne den Blick so hoch zu heben, wird in den kleinen Sebaldstücken im Verlauf immer neue Lesedurchgänge versucht, die Textur vorsichtig einmal hier und einmal dort ein wenig anzuheben, um, unter Vermeidung von Verletzungen, genauere Blicke zu ermöglichen, Blicke auf das Vorhandene und, nicht weniger wichtig, Blicke auf das Fehlende wie etwa Kinder, Ehepaare, Berufstätige. Ab und zu, das ist zu gestehen, kann beim fortwährenden Lesen dann ein übermütiges Gefühl aufkommen ähnlich dem, das sich einstellte, als man vor langen Jahren auf dem Schoß des Großvaters sitzend, weit über das wirkliche Vermögen hinausgehend, das Steuerrad des fahrenden Autos betätigen durfte.

Unter allen Motivfäden scheint einer vor allem das Muster zu bestimmen und zwar der, der die Flieger mit den Vögeln und den Heiligen verbindet. Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. – Das Thomas Browne Abgelesene gilt uns als Offenlegung der eigenen künstlerischen Absicht, Levitation also als letztes Ziel auch der Prosa Sebalds, das Schweben aber taugt nur dann etwas, wenn es die ganze Schwere des Lebens und Leidens mit sich trägt. Das Christentum hat sich ikonographisch am Kreuz festgemacht, beansprucht gleichzeitig, Frohe Botschaft zu sein und läßt der Crucificatio die Ascencio Christi folgen.

Sebald wählt den dem ästhetischen Effekt angepaßten Begriff der Levitation, die vielen Heiligen im Werk lassen ohne weiteres auch an Ascencion denken. Allerdings gelingt den Heiligen ihr spirituelles Kunststück nur noch unvollkommen: In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. - Die alte Nähe aber von Kunst und Religion ist auf eigenartige Weise gewahrt.

Levitation & Ascencion sind nicht Thema der Prosa Sebalds, sie sind ihre innerste Gestalt, die Seinsweise, die sie für uns, die Leser, bereitstellt als frohe Botschaft einer streng textimmanenten Erlösung. Coming down is the hardest thing, das gilt für Sebaldleser in ganz besonderem Maße. Sie müssen fliegen lernen, auch wenn sie vielleicht von haus aus keine Flügel haben, und sollten, wie die Mauersegler, einmal aufgestiegen, nie wieder zur Erde zurückkehren. Viele aber schlagen heftig auf, und selbst die weiche Landung ist hart, und wer gar nicht erst aufgestiegen ist, hat es nicht besser getroffen.


Mittwoch, 30. September 2009

Was fehlt

white from winter


Wer, vielleicht noch ohne allzu große Erfahrung im Leben und im Lesen, sich an Prousts Recherche du temps perdu wagt, mag erschrecken, wenn er die minutiöse und, wie es scheint, völlig lückenlose Schilderung des Einschlafens in Combray verfolgt: hat hier vielleicht ein Dichter die schier unglaubliche Aufgabe gelöst, ALLES zu schreiben, und so seine Kollegen auf immer brotlos gemacht und uns Leser, die wir auf Wandel aus sind, schlimm beraubt? Das Erschrecken kann nur kurz sein, die Welt ist Selektion, dem kann kein Mensch und kein Dichter entkommen, alles kann nur sein, weil anderes nicht ist, das ist überdeutlich gerade im Reich der Formen, und die Selektivität der viertausendseitigen Recherche ist, aufs Ganze gesehen, nur in vernachlässigbarer Weise geringer als die eines Haiku.


Eine größere Aufgabe als die, über das zu schreiben, worüber ein Dichter geschrieben hat, wäre es mithin, über das zu schreiben, worüber er nicht geschrieben hat – bei Licht besehen, angesichts der verschwindenden Geringfügigkeit des Etwas gegenüber dem Nichts, nur ein weiterer Versuch, ALLES zu schreiben. Aber es kann auch gar nicht um das große Nichts gehen, sondern nur um die kleinen Nihiles an den Rändern des Etwas, und die sind in der Tat von nicht geringer Aussagekraft. Was Sebald anbelangt, so wurde diese Aufgabe hier auch schon angefaßt. So wurde festgestellt, daß Selysses, obwohl ständig unterwegs, doch nur verhältnismäßig wenige Länder bereist hat; der Fülle der Tiere steht eine verschwindend geringe Zahl von Menschenkindern gegenüber; die vielen Wirtinnen dominieren die wenigen Ehefrauen erbarmungslos, und die Zahl der Heiligen ist überraschenderweise größer als die der Berufstätigen. Vertreter der Gerechtigkeit haben bemängelt, daß Sebald in seinen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen keine einzige Frau berücksichtigt.

Die Sprache, anders als die Musik, steht unter dem Gesetz fehlender Gleichzeitigkeit. Nur unter Verzicht auf fast alles Sagbare läßt sich überhaupt irgend etwas sagen und durch das Nadelöhr des Augenblicks fädeln, nur jeweils ein Laut im kurzen Augenblick und im längeren Augenblick nur das jeweils eine Wort unter Verzicht auf die Millionen anderen im Wartestand, und dann immer nur der jeweils eine Satz unter Verzicht auf viermal unendliche viele Sätze, deren Geburt noch aussteht. - Aber genau das weckt die Vorstellung, man könne vielleicht doch alles sagen, wenn nur hinreichend Zeit wäre.

Sebald ist ein Dichter von der Art Prousts, und sehen wir ihn durch den Rauch seiner Zigarette, so scheint es, als könne er jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und uns als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen. Hätte er aber noch fünf oder gar zehn weitere Bücher schreiben können, die Struktur seiner Texte hätte sich nur so langsam verändert und erweitert wie ein Korallenriff, die bekannten Nihiles wären nicht plötzlich verschwunden, und das große Meer des Nihil hätte von allem gar nichts wahrgenommen.


Und doch heißt es, Parallelen treffen sich im Unendlichen, und wenn der Dichter unsterblich wäre, würde seine Schreiblinie irgendwann mit der Seinslinie der Welt zusammenfallen, und er vermöchte ALLES zu schreiben. Unter den unwandelbaren Gesetzen von Demokratie und Gleichberechtigung, müßten wir dann allerdings auch für uns die Unsterblichkeit einfordern, und dann wären die Regeln des Spiels gründlich verändert. Das Aussterben der uns bekannten Berufstätigkeit könnte der Dichter in Ruhe abwarten, bevor er sie denn noch beschreiben müßte, Kinder wären pärßee - wie es in der ja wirklich wunderschönen Schweiz heißt - fehl an Platz im Reich der Unsterblichen, und auch die Institution der Ehe müßte sich von Grund auf ändern und schneller, als das schon jetzt der Fall ist. Auch unsterblich hätte Sebald vieles nicht geschrieben von dem, was er nicht geschrieben hat, da es aus der Welt gefallen wäre. Können wir folgern, daß er sich auch als Sterblicher von den ewigen Dingen angezogen fühlte? - Da er aber, wie nur zu gut bekannt, bereits 2001 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, sind diese Erwägungen und Spekulationen samt und sonders und von Grund auf überflüssig.

Die angehaltene Zeit

Zeiten und Orte

Ci vediamo a Gerusalemme

Sebald gilt als Dichter der Erinnerung und damit auch als Dichter der Zeit und der Suche nach ihr. Der sebaldnahe Erzähler im Text, Selysses, ist immer unterwegs und auf Wanderschaft zu verschiedenen Orten, also wohl ein Vertreter und Liebhaber des Raums.


In seinem Aufsatz Einbruch der Gegenwart in die Ordnung des Raums, Zum Topographischen in Benjamins Geschichtsdenken zitiert Stephan Braese aus Stephan Zweigs Die Welt von Gestern: Redlich meinten unsere Väter, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsam Humane und damit Frieden und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt werden.

In diesem Textstück erscheint eine auf einen säkularen, positiven Endpunkt hin ausgerichtete homogenisierte Zeit, Zeit in der die Form der gemeinen Utopie. Das ist offenbar nicht die Zeit der Erinnerung. Die Utopie verlangt den festen Blick nach vorn und angelangt an dem von ihr bezeichneten Punkt, wer möchte noch zurückschauen. Hinter ihm läge nur Schlimmes und vor ihm ein klares immergleiches Heute. Die Erinnerung lebt nicht in der Zeit, sondern in verschiedenen Zeiten.

Die Grenzen verschwinden ebenfalls in diesem Text, der Raum ist entkonkretisiert und homogenisiert, wohin sollte Selysses da noch reisen und wer wollte ihm folgen auf Wanderungen in dieser topographischen Wüste. Säkulare Heilsversprechen Utopien, die die Zeit gleichrichten und den Raum entleeren, tun der Poesie anscheinend nicht gut. Man könnte meinen, Selysses habe poetologische Gründe für den resoluten Stop der Weltzeit im Jahre 2013. Die Zeit kann nicht weiter entrinnen, die Orte sind bewahrt, die Welt des Dichter besteht.

Anläßlich eines Aufenthaltes des Selysses in Spanien, der nicht sattgefunden hat, wurden Bezüge zu Benjamins Säkularisierungsüberlegungen erahnt. Anders als Carl Schmitt, der das Erbe der heiligen Versprechen in die Politik verlagert, sieht Benjamin Überlebensräume des Sakralen in der säkularisierten, profanen Welt vor.

Ohne das im einzelnen weiter zu verfolgen, ist festzuhalten und auch auf andere Weise evident: die Religion wurde eingangs der Neuzeit und in ihrem weiteren Verlauf offenbar geschwächt. Teile ihres Erbes gingen an die Politik, andere an die Kunst. Wer die Politik als Haupterbin sieht, verlangt wohl auch nach politisch engagierter Kunst. Sebald ist in seinen Prosawerken kein politisch engagierter Autor, auch wenn es in den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen oft anders aussehen mag. Auf der anderen Seite hat er nicht wenig vom religiösen Erbe unmittelbar in seine Prosakunst eingebunden. Dem erinnernd Zurückblickenden steht das Heilige sozusagen unübersehbar auf dem Weg. Säkulare Heilsversprechen um den Preis des Vergessens werden zurückgewiesen. - Wie dem im einzelnen auch sei, anders als der Philosoph oder gar der Wissenschaftler muß sich der Dichter keine Klarheit verschaffen über die unklare Welt, als Epiker kann er sie unverändert in seine Erzählwelt übertragen. Der Leser muß diese Erzählwelt als die seine erkennen oder als ihm nicht gemäß zurückweisen, in ihr für mehr Klarheit zu sorgen als der Dichter selbst, ist nicht seine genuine Aufgabe.

Sebald eröffnet sein dichterisches Gesamtwerk mit einem Heiligentableau, Matthias Grünewalds Altar in der Pfarrkirche von Lindenhardt. Die klassischen Heiligen sind verwahrt in den Werken der Hochkunst. Viele der Reisen und Wallfahrten des Selysses gelten den Verwahrorten der Kunstwerke und der Heiligen darin, Isenheim, Verona, Padua, Den Haag, London, diese Stätten nicht zuletzt sind das Ziel seiner Reisen und Wallfahrten. Orte und Städte wie Verona oder gar London blühen in ihrer Gegenwart und Vergangenheit auch auf andere Weise auf in der Prosa, aber nirgends ist die Vergangenheit dichter und heller eingeschlossen, die Zeit zuverlässiger eingekapselt als in den Kunstwerken und zumal in den Heiligenbildern. San Giorgio con capello di paglia ist in der Londoner Nationalgalerie nicht an seinem Platz und zudem nicht an seinem gewohnten Platz, er war wegen Umbauarbeiten in einem schlecht beleuchteten Raum des Untergeschosses aufgehängt worden. Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild hatte man bedauerlicherweise in einen viel zu schweren Goldrahmen aus dem letzten Jahrhundert eingezwängt – anhaben können all diese Unbilden dem Heiligen Georg nichts.

Die in den Kunstwerken wohnenden Heiligen sind Leuchttürme im Meer des zu Erinnernden, ihr Licht fällt auf die seltsamen Heiligen, die ohne sie womöglich gar nicht als solche erkennbar wären. Sie aufzusuchen an den Orten, wo sie leben oder lebten, sei es im Staat New York, in der Ortschaft W. im Allgäu, in Norditalien und, in übergroßer Zahl, im englischen Südosten, ist der häufigste Reiseanlaß des Selysses. Die klassischen Heiligen strahlen hell aus der dunklen Vergangenheit und ihn ihrem Widerschein glimmt das immer unschuldiger werdende Leben der seltsamen Heiligen der Gegenwart, ihr Abglanz fällt auf den Text und uns. Dieses Scheinen ist Widerpart der ganz und gar und in allen ihren Details auf dem Prinzip der Verbrennung beruhenden, unaufhaltsam verglosenden zivilisatorischen Neuzeit. Stilistisch wird dieses Scheinen zum Lächeln der Sätze, die uns so freundlich empfangen und betreuen. Die Idee der Prosa aber fällt, wie Benjamin uns versichert, mit der messianischen Idee der Universalgeschichte zusammen, zeigt sich als Sprache, die von allen Menschen verstanden wird, wie die Sprache der Vögel von den Sonntagskindern.

Die Zeit fließt nicht dahin, angelagert an Orte kommt sie zum Stillstand. Die verschiedenen Zeiten schieben sich als Bilder über- und ineinander. In W. ist Selysses er selbst, sein eigener knabenhafter Vorgänger und auch der eigene Großvater: Wenn er es sich recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus seiner Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. - Während einserseits also ein Ort die Zeit in verschiedenen ihrer Zustände an sich binden und damit anhalten kann, vermag die Zeit ihrerseits die Orte überblenden und zwischen ihnen verschwinden: Meine Halluzinationen und Träume spielen häufig in einer Umgebung, deren Merkmale teilweise auf die Weltstadt Berlin, teilweise auf das ländliche Suffolk verweisen. Ich stehe beispielsweise an einem Fenster unseres Hauses, aber der Blick geht nicht auf die vertrauten Marschwiesen, sondern auf eine Schrebergartenkolonie, durch die eine schnurgerade Autoverkehrsstraße hindurchführt, auf der schwarze Droschken stadtauswärts sausen in Richtung Wannsee.

Wenn die Orte mit ihren Heiligen und Seltsamen Heiligen sich zu Seltsamen Attraktoren der Zeit entwickeln, so bildet das Jahr 2013 als eine Art Staumauer, die die Zeit sammelt und die leeren und falsch laufenden Utopien der Politik unterbricht. Offenbar aber ist diese Mauer nicht das Ende, dafür ist Sebalds Erzählwelt, die uns an diese Grenze führt, zu freundlich. Bei Sebald hat man das Gefühl, das Bild könne sich jederzeit drehen, alles könne neu anlaufen und uns in eine Welt versetzen, die nicht die der Vergangenheit aber auch keine Verlängerung der gegenwärtig laufenden ist. Es müßte sich vermutlich um kaum weniger als ein Reich Gottes, um das neue Jerusalem handeln.

Das wahre Jerusalem freilich ist nur eine große, niederschmetternde Enttäuschung. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.

Seltsamen Heilige, Alec Garrad im Leben und Frohmann, aus Drohobycz gebürtig, im Traum basteln an einem neuen Jerusalem im kleinen Format. Frohmann erläuterte, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Das wahre Kunstwerk restituiert alte und wahre Verheißungen als Miniatur, durch rückwärts gewandtes, verkleinerndes Sakralbasteln als Gegenlauf zur gigantomanischen Technik.

Das sind Stimmen, die aus dem Text zu uns sprechen wollen, sie murmeln in their different ways, wir können ihnen lauschen in our different ways, sie verkünden keine erlernbaren Wahrheiten und schon gar nicht erteilen sie uns Lebensratschläge oder Wegweisungen.

Dienstag, 29. September 2009

Worte & Bilder

Was wir lieben

Treu d'un calaix on guarda vells records unes fotografies i me les mostra

Der Gedanke an Sebald ist für seine Freunde gleichbedeutend mit dem an seine Prosa, sie denken kaum an die Bilder, die den Texten zahlreich beigegeben sind. Würden sie aber auf eine von den Bildern befreite Ausgabe der Prosawerke stoßen, träte ein nicht geringes Unwohlsein auf. Die Verzichtbarkeit und zugleich Unverzichtbarkeit der Bilder kann ein erster Hinweis auf ihren Status sein. Kehrt man von den Prosawerken zurück zum unbebilderten Elementargedicht Nach der Natur, fühlt man sich geradezu betrogen und unnötig sekkiert. Wer schon hat den Lindenhardter Altar so klar vor Augen, daß er sich ohne unterstützende Abbildung sicher zurechtfinden würde unter all den Heiligen und Nothelferinnen, die der Text aufruft?


Das freilich ist, wie kurzes Nachdenken zeigt, eine fehlgehende Erwartung. Auch in den Prosawerken bleiben Werke der Hochkunst, wie Pisanellos San Giorgio con cappella di paglia, die Gegenstand einer Bildmeditation Sebalds sind, überwiegend ohne Abbildungsunterstützung. Aus Giottos Gli angeli visitano la scena della dizgrazia sind nur die Engel herausgeschnitten und flattern jeder für sich eingesperrt in einem kleinen Käfig, die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde, die das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können, sind nicht zu sehen. Das Unrecht das eine Schwarzweißreproduktion den Gemälden antut – die Aufnahme farbiger Bilder in den Sebaldtext aber ist ausgeschlossen - ist sicher ein Grund für den Verzicht, wenn auch nicht der einzige. In den Ringen des Saturn ist Rembrandts Prosekturgemälde in zwei Anläufen dargestellt, aber hier geht es um die Dokumentierung verschiedener außerkünstlerischer Einzelheiten und insbesondere um die in einem realistischen Sinne absichtlich falsch gemalte Hand.

Mit nicht geringerer Intensität als in Werke der Hochkunst versenkt sich Sebald in triviale Bilddarstellungen, etwa, als Austerlitz, in das der Wüste Sinai in der ihm von Miss Parry geschenkten, eigens für den Kindergebrauch gedachten, großgedruckten Ausgabe der Geschichte Moses oder, unterwegs als Selysses, in die alte Postkarte mit der Darstellung des Cimitero di Staglieno in Genua. Hier ist die Bildunterstützung des Textes nahezu zwingend, denn so gut wie kein Leser kennt das Besprochene. Vielleicht, so mag man denken, hat Sebald an Stellen wie diesen, einer Notwendigkeit folgend, mit der Bebilderung begonnen, um dann aus der Not eine künstlerische Tugend zu machen, denn die Kunst, die um das Zusammenspiel von Freiheit und Gefangenschaft weiß, folgt nicht gern dem schieren Diktat des Zwangs. Besonders in den Schwindel.Gefühlen finden sich zahlreiche Beispiele reinen Bildübermuts, Abbildungen von Einlaßbillets, Pizzarechnungen, provisorischen Ausweispapieren, Nachweise von Wirklichkeit, gerade an den Stellen, wo daran kein Bedarf besteht, in Wahrheit also schalkhafte Unterspülung des Realitätsbegriffes in der Literatur und Steigerung der Heiterkeit, die den Text ohnehin belebt, man denke nur an die Szene des verlorenen Passes. Die Dokumentation des nicht Bezweifelten stärkt zunächst das Vertrauen auch in die Dokumentation des Fiktiven, etwa das Agendabuch des Ambros Adelwarth, und ist die Falschheit hier durchschaut, fällt der Schatten des Verdachts zurück bis auf das Biglietto d'ingresso. - Durch die Wiedergabe beschädigt werden können in ihrer bildnerischen Belanglosigkeit weder der notwendige Sinai noch die ganz und gar entbehrliche Pizzarechnung.

Die Gelüste sind erweckt, wenn wir schon, ohne es zu wollen, Billets, Pizzarechnungen und provisorischen Ausweispapieren betrachten, dann wollen wir auch Luciana Michelotti und die Engelwirtin sehen, die aber werden uns vorenthalten, und, wie wir nach kurzer Überlegung einräumen müssen, zu Recht. Die so freundliche scheue Erotisierung der Luciana-Episode und die kaum spürbare und leicht verworfene Erotisierung der Engelwirtin-Episode könnten einer offenen Abbildung nicht standhalten. Die Bilder können in unterschiedliche Beziehungen zu Text treten, sie können ihn unterstützen oder ergänzen, sie können mit ihm spielen, wo ihm nach Spiel zu Mute ist, sie dürfen ihn aber nicht stören oder gar beschädigen. Dort wo die Menschen verschwunden sind, und die Worte schweigen möchten, können die Bilder auch an die Stelle des Textes treten. Als Austerlitz Theresienstadt besucht, haben wir die Seite 275 mit einem leichten Übergewicht des Textes, dann die Seiten 276 und 277 mit insgesamt zwei Zeilen Text, die Seiten 278 und 279 ohne Text und auf den Seiten 280 bis 282 beruhigt sich die Situation wieder mit einem leichten Übergewicht des Textes.

Wir sind eingetreten in einen Katalog der Beziehungsformen zwischen Text und Bild und könnten ihn erweitern, verschieben das aber auf einen anderen Tag und fragen uns statt dessen nach dem, was wir lieben. Wir lieben die Monotonie des Textbildes in den Büchern, das Grau der langen Buchstabenreihen. Wir lieben das Schweigen und die Sinnlosigkeit der Phoneme, die wir in dieser Weise im gesprochenen Wort nicht genießen können. Stumm und spröde liegen sie da, und nur wir können lesend ihren Sinn entschlüsseln und aufrufen. Wir lieben die Steigerung dieser Situation, den Verzicht auf Absätze, auf die Zerstückelung des Textbildes durch direkte Rede und Dialog, wir lieben Proust, Weiss, Bernhard. Wir lieben die Ästhetik der Monotonie, tausendzweihundert Seiten Text in ununterbrochener Abfolge und spüren doch Widerstand und Angst. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann wurde das in mir aufgetauchte Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. – Die Bebilderung der Prosa ist wie das Eingangsbillet zum Museum, sie befreit uns von unserer allzu strengen Sehnsucht und erleichtert uns die Liebe zu dem, was wir lieben. Die Bilder erleichtern uns die Liebe zum Text und nehmen sie uns nicht, es bleibt beim Grau, farbige Bilder sind undenkbar, die grauen Bilder schwimmen mit im grauen Text, es bleibt beim unaufhaltsamen Sog der entzifferten Worte, aber Auge und Hirn atmen auf. 

Lieber Leser – wir lieben es nicht, wenn uns der Autor herausruft aus seinem Buch, um mit uns zu plaudern. Aber: CALL ME ISHMAEL – dermaßen fährt uns der unerwartete, unmittelbar an Dich, an mich gerichtete Anruf in die Glieder, daß wir uns erst beruhigen, wenn wir das Buch nach vierhundert Seiten schließen. Die Bilder in Sebalds Büchern sprechen mit dem Text und treten so an die Stelle der gestrichenen Dialoge in direkter Rede. Die Bilder sprechen auch mit uns und rufen uns für Augenblicke heraus aus dem Text. Nicht auszuschließen, daß sie auch untereinander tuscheln hinter vorgehaltener Hand und hinter dem Rücken des Textes die Köpfe zu einer Verschwörung zusammenstecken. Sie haben dem Autor die Mühe des Schreibens erleichtert, und sie erleichtern uns die Mühe des Lesens. Was wir nicht lieben und doch vermissen, Dialog und Ansprache, haben wir zurück in einer Weise, die wir lieben.

Wir lieben es, auf Bücher zu schauen, die verschlossen sind für uns, auf Bücher in armenischer oder georgischer Schrift, immense Bücher womöglich, Bücher, die die Welt umstülpen können und die sicher sind vor uns und unserem geringen Verständnis. Wir lieben piktographische Alphabete, bei denen der Sinn durchzuschimmern scheint und sich doch entzieht. Wir stellen uns eine Ausgabe der Bücher Sebalds vor, die auf den Text verzichtet und eine solche mit Text in einem uns nicht zugänglichen Schriftbild, die, zusammen mit den Bildern, dann wohl piktographische Bücher heißen könnten. Wir stellen Sebalds Bücher ins Regal – immense Bücher, die unsere Welt verändert haben - und können sicher sein, sie schlafen friedlich als wir und sind doch bereit, uns in unseren Träumen zu helfen, und nach dem Erwachen gesellen sie sich wieder zu uns. Die Bilder beleuchten die Pfade der Nacht und führen uns zurück in die Klarheit des Tages, wenn wir das Agendabuch sehen, brechen wir auf in den Orient, der Ausweis besagt, wir sind in stiller Weise glücklich mit Luciana, den Sinai studieren wir im Hause des Predigers, und der Papagei auf der Schulter besagt, wir sind dem Paradies in Andromeda Lodge nahe.


Montag, 28. September 2009

To Vlemma tou Selyssea

Ara són un reflex als nostres ulls,
que busquem un indici de qui som


Muchas veces me he figurado ser únicamente dos pupilas

Sebalds Widerschein, der als Icherzähler die Prosabände zusammenhält, wurde mit Hinblick auf das Motiv des Wanderns und der Unrast sowie einiger ergänzender Assoziationen kurzerhand Selysses getauft. Hat Selysses bestimmte Konturen, entwickelt es sich, ist er überhaupt? Um dieser und anderen Fragen nachzugehen, sollen die Blickwinkel des Selysses in den einzelnen Erzählungen genauer erforscht werden.


Das Bild, das eine schwache Spiegelung des photographierenden Sebalds im Fenster des ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt zeigt, wirkt wie eine bewußte Enthüllung der Aufenthaltsweise des Autors in seinen Büchern.


Schwindel.Gefühle
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Die Ausgewanderten
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Die Ringe des Saturn
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Austerlitz
Το βλέμμα του Σελυσσέα

Samstag, 26. September 2009

Schwindelgefühle

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Nei lueget mer dert di Barke, es dunkt ein, si chömm gar nid i ds Wasser, 's isch grad, wie wenn si im Dusem drüber würdi schümme.


Für einen Autor, der anscheinend ständig in der ersten Person von sich selbst spricht, gibt Sebald in seinem Prosawerk auffällig wenig von sich preis, fast gar nichts. Die Erzähltechnik ähnelt der einer subjektiven Kamera im Film. Chandlers Lady in the Lake ist in dieser Weise verfilmt worden mit Robert Montgomery als Philip Marlowe, wir bekommen ihn aber so gut wie nie zu sehen. Die Kamera scheint ständig zu seinen Augen hinauszuhalten, nur ab und zu huscht Montgomery als Widerschein in einem Spiegel oder einer Schaufensterscheibe sichtbar vorüber. Das ist natürlich für einen Schauspieler unbefriedigend, und auch der Zuschauer, der auf Montgomery vielleicht noch verzichten mag, wäre in den Chandlerverfilmungen mit Bogart oder Mitchum als Marlowe von dieser Art der optischen Reduktion des Helden wohl wenig erbaut gewesen. In Robert Altmanns Verfilmung des Long Goodbye käme in der schönen Schlußszene inmitten der mexikanischen Baumallee von Elliot Gould vielleicht grad einmal die Mundharmonika ins Bild, zu wenig im optischen Medium. Da die Worte Sichtbarkeit im direkten Sinne ohnehin nicht erzeugen – bei jeder Literaturverfilmung wird deutlich, wie viel wir hingeben müssen für das optische Mehr, das wir erhalten, die Sichtbarmachung ist immer ein brutaler Eingriff in den Zauber der Prosa* – da Sichtbarkeit der Prosa also fehlt, fällt die Unsichtbarkeit des Icherzählers, die, wiederum anders als im Film, auch nicht streng durchgehalten werden muß, zunächst gar nicht auf und wird auch auf die Dauer nicht im geringsten quälend. Der subjektive Film gilt zu recht als gescheitert, die analoge Worttechnik aber hat unüberbietbare Vorteile für Schriftsteller vom Typ Sebalds, denen es nicht darum geht, der Allgemeinheit die Schlünde ihres Inneren zu eröffnen.


Die Schwindel.Gefühle sind das Prosawerk, in dem Sebald noch am offensten von sich spricht, die Wortkamera ist aber auch hier kaum je auf ihn gerichtet, so wie Sebald ja auch auf den Photos, mit denen er seine Texte aufklöppelt, nur in Ausnahmefällen selbst erscheint. Das Bild, das, nach Art des Robert Montgomery im Film, eine schwache Spiegelung des photographierenden Sebalds im Fenster des ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt zeigt, wirkt wie eine bewußte Enthüllung der Aufenthaltsweise des Autors in seinen Büchern.

Wer ohne besondere Vorbereitung die Schwindel.Gefühle ein erstes Mal liest, mag mit einer dem Titel gemäßen Empfindung dastehen: was liest er da eigentlich? Vier grundlos unter einen übergreifenden Titel gebrachte Stücke? Natürlich bleibt nicht lange verborgen, daß All’estero und Ritorno in patria in einem Antworts- und Fortsetzungsverhältnis zueinander stehen, hinweg und zurück. Was aber sollen einleitend und unterbrechend Stendhal und Kafka bestellen? Andererseits trifft Stendhal bereits den Jäger Gracchus und seine Barke, die Kafka später dann erst erfunden hat, und befindet sich im Herbst des Jahres 1813 in einer anhaltend elegischen Stimmung, wie sie auch dem Buch insgesamt nicht fremd ist und bis exakt 2003 dauert. Später dann, in Wertach, tauchen wieder diverse Jäger auf mit nicht ganz klarer Beziehung zum Jäger Gracchus. Bald schon mag es scheinen, als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten.

Stendhal und Kafka werden mit dem inneren und belesenen Auge als zwei Gesichte des Selysses aus der Vergangenheit hervorgeholt, und gleichzeitig versucht Selysses sich selbst ins Auge zu fassen – oder auch nicht. Die Schwindel.Gefühle haben damit die gleiche Struktur wie das zuvor veröffentlichte Prosagedicht Nach der Natur. Der Maler Grünewald und der Naturforscher Steller waren hier die Gesichte des Selysses. Der Blick des Selysses geht also mindestens ebenso oft nach Innen wie nach Außen, als ein Blick auf etwas schon Gesehenes, als ein zweiter oder weiterer Blick, als das also, was in der Systemtheorie eine Beobachtung zweiter oder höherer Ordnung ist. Das ist nichts Ungewöhnliches, ein literarisches Werk nur aus ersten Blicken ist nicht gut denkbar und jeder zweite Blick hat einen ersten zur Voraussetzung. Der Blick des Selysses ist aber weit überdurchschnittlich oft nach Innen gerichtet, auf Dinge, die er oder andere zuvor bereits gesehen haben.

StendhalLeicht hätte Sebald die Zusammenhänge der vier Erzählansätze des Buches deutlicher machen können, wenn er etwa begonnen hätte: Als ich im Jahre 1980 nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an den naturgemäß ganz dem Stendhalismus und damit der Liebe, l'amour, und auch der Liebe zum Licht Italiens hingegebenen Henri Beyle, der zu den Teilnehmern der Alpenüberquerung Napoleons zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gehörte. Beyle hat sozusagen auch mir über die Alpen geholfen, allerdings waren zwei Anläufe erforderlich, und der Erfolg war insgesamt nicht durchschlagend.

Beyle gerät umgehend in Verwirrung beim rückwärtsgewandten inneren Blick, der indirekt auch zu dem des Selysses wird, als er versucht, die Alpenüberquerung zu Papier zu bringen: Die Notizen demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. So habe er sich eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt Ivrea nichts anderes vorstellte als die Kopie einer Gravure, auf die er dann bei der Durchsicht alter Papiere gestoßen war.

Was nun die Liebe anbelangt, Stendhals Thema vor allen anderen, so scheint sie wie auf sonst nichts auf den Augenschein angewiesen: Beyle war unfähig, auch nur ein paar Tage zu ertragen, ohne Métilde zu SEHEN. Die verwegene Veranstaltung, die er inszeniert, um ihrer optisch habhaft zu werden, führt dann aber seitens der sich als kompromittiert ansehenden zu einem sehr trockenen Billet, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Stendhal beschließt, seine exemplarisch dem ersten Blick verpflichtete militärische Karriere zu beenden, um ein überragender Meister des zweiten Blicks und der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Durch Überblendung seiner realen Geliebten wie Adèle Rebuffel oder Angéline Bereyter erschafft er sich das schöne Trugbild der Mme Gherardi, mit der er unter anderem die Frage erwägt, ob vielleicht die Liebe insgesamt auch nichts anders ist als eine Schimäre, ein Trugbild. Auf einer erdachten Reise mit der erdachten schönen Mme Gherardi hat er das der Zeit um hundert Jahre vorgreifende Gesicht des Jägers Gracchus, der ein originäres Gesicht Kafkas ist: Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der anscheinend auch vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken gerade eine Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme Gherardi fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug von Riva abzureisen.

Kafka
Die Kafkaerzählung hätte beginnen können: Als ich im Sommer 1987 ein zweites Mal nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an Franz Kafka, der im Herbst des Jahres 1913 im Hotel Sandwirth in Venedig logierte. Kafka, der sein Leid bei allen Licht- und Wetterverhältnissen unverändert mit sich der trug, verhalf mir auch wieder zurück, auf österreichischem Boden unterstützt dabei von Thomas Bernard, der bis zur deutschen Grenze den Schritt und den Tonfall von Il ritorno in patria vorgibt.

Stendhal betritt Kafkas Badereise nach Riva als Fachmann für militärische Fragen in den Darlegungen des Generals von Koch, Kafka seinerseits schließt sich dem Feldzug über die Alpen an, indem er sich einen imaginären schwarzen napoleonischen Feldherrenhut über das Bewußtsein stülpt. Das gehört zur äußeren Verklammerung der beiden Erzählungen.

Kafka leidet an Bedrücktheit und Sehstörungen. Das touristische Besichtigungsprogramm hält er sehr kurz, daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg über dem Eingang der Kapelle angesehen hätte, dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt. Er ist fasziniert von der neuzeitlichen Bildmaschine, dem Kinematographen und dem Doppelgänger- und Spiegelbilddrama La lezione dell’abisso: Mußte das Dr. K. nicht erscheinen als die Beschreibung eines Kampfes, wie in jenem anderen auf dem Laurenziberg, in welchem die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält, derart, daß der von seinem Begleiter in die Enge Getriebene zuletzt das Bekenntnis ablegen muß: Ich bin verlobt, ich gestehe es. Parallel zu Stendhals De l’amour entwickelt eine eigene fragmentarische Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Darum hielten fast alle Liebenden, und es gäbe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe ist, weit aufgerissen vor Gier – eine Theorie, die , obwohl von Augen und Blick dominiert, reichlich undurchsichtig bleibt. - Wenn nicht alles täuscht, so ist die Erzählung vom Leidensmann Franz K. in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze.

Stendhal und Kafka sind keine Dichter, die man als besonders eng verwandt ansehen möchte. In den Schwindel.Gefühlen treten sie auf als zwei Italienreisende, ein essentieller und ein zufälliger, der dann auch als der seltsamste Gast in Riva seit langem beurteilt wird. Es sind aber auch, und das ist die wesentlichere Gemeinsamkeit, zwei über die Maßen von der Liebessehnsucht Geplagte. Die nicht zu bereinigende Unübersichtlichkeit seiner Liebestheorie und Liebesrealität gebiert in ihrer Hilf- und Aussichtslosigkeit Jahre nach Kafkas Aufenthalt in Riva den Jäger Gracchus, dem, obwohl erst von Kafka ersonnen, auch Stendhal schon begegnet war am gleichen Ort, und dessen unablässige Fahrten nach der Vermutung des Selysses ihren Sinn haben in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen - ein Gesicht Kafkas also, das schemenhaft auch bereits ein Gesicht Stendhals war, auch nicht verständlicher als die Theorie der Liebe, auf Verstehen aber nicht mehr angewiesen, sondern aufgehoben zur endlosen Betrachtung im dichterischen Bild.

Selysses all’estero, primo tentativo
Selysses reist im Jahre 1980 wie Kafka über Wien nach Venedig. In Wien erwies sich gleich nach meiner Ankunft, daß mir die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten nun nicht mehr ausgefüllten Tage ungemein lang wurden, und daß ich tatsächlich nicht mehr wußte wohin mich wenden. Der übliche Tagesablauf des Dichters ist aufgeteilt in die primär dem zweiten Blick verpflichtete Tätigkeit des Schreibens und Lesens und der dem ersten Blick verpflichteten Gartenarbeit. Die Schwindelgefühle sind nicht zuletzt auf eine Durcheinandergeraten der Blickformen zurückzuführen.

Die Fahrt nach Venedig verbringt Selysses mit einem Traumgesicht. Ein reichlich kurzer erster Blick auf die Stadt: Als ich auf den Vorplatz der Ferrovia Santa Lucia hinaustrat, hing die Feuchtigkeit des Herbstmorgens noch dicht hinter den Häusern und über dem Großen Kanal. Schwer beladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei – gleitet schon bald ab in Tragtraumgesichte: il re Lodovico, Dante und zweite Blicke auf Grillparzer oder Casanova. Es schien mir damals, als könne man sich tatsächlich ohne weiteres durch Nachdenken und Sinnieren allein ums Leben bringen. Der Blick auf das Stehbuffet in der Ferrovia geht ohne Verzug über in eine Himmel und Hölle, Männer und Weiber nach Art des Hieronymus Bosch umfassende Vision, allerdings humoristisch zersetzt: Aus Leibeskräften mußte man zunächst sein Begehren zu einer der thronenden Frauen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich aus der Menge hervor- und in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden. Mit solcher Heftigkeit wurden die Gläser und Untertassen auf der marmornen Oberfläche des Buffets abgesetzt, daß man meinte, es sei darauf angelegt, alles bis zum Rand des Zerspringens zu bringen. Mein Cappuccino wurde serviert, und einen Augenblick war mir zumut, als hätte ich mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Immer wieder findet Selysses zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Wie ein Wolkenschatten über ein Feld, so legte sich über mich die Befürchtung, daß mir die beiden jungen Männer, die zu mit hinüberschauten, seit meiner Ankunft in Venedig mehrfach schon über den Weg gelaufen waren. Selysses erholt sich bei der Betrachtung eines San Giorgio-Bildes Pisanellos und ist erstaunt, wie der Maler es verstanden hat, den jäh heraus, seitwärts auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügige Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Diese erste Italienreise wird abgeschlossen mit einem sebaldtypischen verwegen schönen Satz, der hier dem zweiten Blick, dem nach innen gekehrten Nachtblick den Vorrang gibt gegenüber dem hellen Tagblick: Weit länger währt die Nacht der Zeit als deren Tagesspanne, und es weiß keiner, wann das Äquinoktium gewesen ist.

Selysses all’estero, secondo tentativo
Bei der zweiten Italienreise, sieben Jahre später, ist Selysses bei weiten wacher, ausgeglichner und aufgeräumter, die ersten Blicke sind häufiger und anhaltender, bei einem Dichter kann die Veränderung naturgemäß nur relativ sein.

Die Begegnung des Selysses mit der Wirtin Luciana in Limone, eine Liebesepisode, ist motivisch mit den Liebesgeschichten Stendhals und Kafkas verflochten. Es ist mir gewesen, berichtet Selysses, als spürte ich ihre Hand auf der Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hatte dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Selysses ist offenbar weit entfernt, ein Vollzugsfanatiker zu sein wie Stendhal, der die Daten seiner Vollstreckungen auf dem Hosenträger vermerkt. Im Fall seines Scheiterns bei Métilde Dembowski Visconti ist es aber der bloße Gipsabdruck ihrer Hand, der Stendhal nun fast ebenso viel bedeutete, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte.

Tast- und Augensinn stehen in Konkurrenz in den Liebesdingen. Lucianas Berührung läßt Selysses sich erinnern, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu mir neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Wie damals in Manchester, so sah ich auch jetzt an diesem Nachmittag in Limone plötzlich alles verschwommen wie durch ein Paar nicht für meine Augen passende Gläser. Verschwommen wie Kafkas Liebestheorie von den geschlossenen Augen.

Auf der Fahrt nach Mailand teilt Selysses das Abteil mit einer Franziskanerin und einem jungen Mädchen. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen in der bunten Jacke, dann nochmals das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, ohne daß es mir gelungen wäre, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Vielleicht ist er auch unsichtbar, denn der Verlust des Passes in Lucianas Hotel - oder war es vielmehr doch die Liebesgeschichte mit ihr? - hat offenbar zu einem Persönlichkeits-, Identitäts- und Orientierungsverlust geführt.

Zur Wiedergewinnung seiner Identität durch Spiegelung betritt Selysses einen leise rumorenden Photoautomaten. Der Stadtplan Mailands, der ihm die Orientierung erleichtern soll, trägt auf der Vorderseite das Abbild eines Labyrinths, auf der Rückseite aber die für jeden, der weiß, daß er viel auf Irrwegen geht, vielversprechende, geradezu verheißungsvolle Versicherung: Una guida sicura. Selysses wird Opfer eines handgreiflichen Angriffs zweier junger Männer, naturgemäß mit zwei Augenpaaren. Er steigt auf die oberste Galerie des Doms hinauf und nimmt von dort aus unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen das vom Dunst über der nun vollends fremd gewordenen Stadt verdüsterte Panorama in Augenschein. Laufet eilends vor dem Wind, ging es mir durch den Kopf, und zugleich kam mir der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Mit neuem Paß verzichtet Selysses sogleich auf die wiedergefundener Identität, trägt sich in der Goldenen Taube in Verona als Jakob Philipp Fallmerayer ein und wird als Undercoverdetektiv tätig. Die ganze Zeit schon war er auf Spuren Kafkas gestoßen, der im September 1913, wie er selbst berichtet hat, auf dem Weg von Venedig zum Gardasee in Verona einen untröstlichen Nachmittag verbracht hat. Auf dem Bahnhofspissoir in Desenzano hatte er eine deutliche Spur hinterlassen, Il cacciatore stand da in einer ungelenken Schrift. Ich fügte noch die Worte nella silva nera hinzu. Im Bus nach Riva erscheint Kafka dann in einer beängstigenden Weise: Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren stieg ein, der auf die unheimlichste Weise den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm, soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Die Versuche des Undercoveragenten Selysses, den Blick der Kamera auf dieses Schauspiel zu richten, scheitern kläglich und führen nur zu dem Verdacht, daß es sich bei ihm um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden englischen Päderasten handeln konnte. Die Festspielaufführung der Aida in Verona leitet über zu dem Roman Verdi, den Franz Werfel seinem in Wien in der Klinik liegenden, zu diesem Zeitpunkt nurmehr 45 Kilo wiegenden Freund Franz Kafka zusammen mit einem Rosenstrauß überreichte. Selysses selbst hält ein antiquarisches Exemplar des Buches mit dem Exlibris eines Dr. Samson in Händen – nur noch ein Schritt bis zur Verwandlung in Kafkas Riesenkäfer Samsa.

Die Erzählung vom Leidensmann Franz K. sei in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so hatte es geheißen, als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze. Hat Selysses seinerseits Unterschlupf bei Kafka gesucht?

Selysses in patria
Der erste Blick, der unabdingbar Grundlage aller zweiten und weiteren Blicke bleibt, feiert Triumphe, etwa, wenn er sich auf die Landschaft richtet, zunächst aus dem Bus: Die Sonne trat hervor, die ganze Landschaft erglänzte. Die frisch gefirnißte Gegend – wir fuhren jetzt aus dem Inntal heraus in Richtung Fernpaß -, die dampfenden Wälder, das blaue Himmelsgewölbe, es war für mich, der ich aus dem Süden heraufkam und die Tiroler Dunkelheit ein paar Stunden lang bloß hatte aushalten müssen, wie eine Offenbarung. Und dann wandernd auf der inzwischen Sebaldweg genannten Strecke: Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. An einem der wenigen halbwegs offenen Plätze, wo man von einer Art Kanzel sowohl auf einen Wasserfall und Gumpen hinab- als auch hoch in den Himmel hinaufschauen konnte, ohne daß man hätte sagen können, welche Blickrichtung die unheimlichere war, sah ich durch die, wie es schien, endlos hinaufragenden Bäume, daß in der bleigrauen Höhe ein Schneegestöber ausgebrochen war, von dem jedoch nichts in den Tobel hineindrang. – Eine große Genugtuung, daß Selysses dann doch immer wieder ausrückt und schauend für uns reist, anstatt, seiner eigentlichen Neigung folgend, nur immer zuhaus bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu bleiben.

Mit jedem Schritt, der Selysses seinem Geburtsort näher bringt, verringert sich seine Präsenz im Buch bis zu der Randfigur, die er in den Ausgewanderten und in Austerlitz sein wird, nicht viel mehr als ein Rezeptorium für die Geschichten anderer. Zugleich aber betritt er das Buch erneut durch eine andere Tür als Selysses das Kind. Der aber ist ein anderer, wir nennen ihn der Einfachheit halber Selemach. Selemach ist, nach Stendhal, Kafka und Selysses, die vierte Person, die dem Jäger Gracchus begegnet und die Sehnsuchtsqual der Liebe erleidet. Stendhal hatte den Jäger Gracchus erahnt, Kafka hatte ihn erfunden, Selysses war auf seine Spur im Bahnhofspissoir von Desenzano gestoßen, Selemach begegnet dem Gracchus in der Gestalt des Jägers Hans Schlag: Ich für meinen Teil habe die Sache den ganzen Tag hindurch nicht aus dem Kopf gebracht. Ich brauchte nur ein wenig die Lider zu senken, und gleich sah ich den Jäger mit gebrochenem Auge auf dem Grund des Tobels liegen. Aus der Autopsie ergaben sich keine weiteren Aufschlüsse, es sei denn, man bezeichnete es als bemerkenswert, daß auf dem linken Oberarm des Toten, wie aus dem Obduktionsbericht hervorgeht, eine kleine Barke eintätowiert war.

Fast hätte der Jäger Schlag-Gracchus den Selemach mit in den Tod gerissen: Wenige Tage nach der Begegnung mit dem toten Jäger Schlag, also schon bald in der Vorweihnachtszeit, wurde ich von einer schweren Krankheit befallen. In einem Fiebertraum scheint er bereits das schwindelerregende Augenchaos des Selysses zu erahnen: Zu meinem Entsetzen spürte ich, daß es sich bei dem, was in diesem Topf eingelegt worden war, nicht um sauber in ihrer Schale aufgehobene Eier, sondern um etwas weiches, den Fingern Entgleitendes handelte, von dem ich sogleich wußte, daß es nichts anderes als Augäpfel waren.

Die süße Qual der Liebessehnsucht erleidet Selemach zunächst, kafkaesk möchte man sagen, mit dem Schankmädchen Romana: In den Jahren, in denen wir im oberen Stock des Engelwirts gewohnt haben, erfasste mich während der Abendstunden unfehlbar der Wunsch, in die Wirtschaft hinunterzugehen und dort der Romana beim Abwischen der Tische und Bänke, beim Kehren des Bodens oder beim Trocknen der Gläser zu helfen. Freilich waren es nicht diese Beschäftigungen, die mich anzogen, sondern es war die Romana selbst. Später dann, in zivilisierter Form und verwegen zugleich, die Lehrerin: Ich füllte mit Hingabe meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in welches ich das Fräulein Rauch für immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Obwohl Selysses in der Gestalt des Selemach den Bedingungen der subjektiven Kamera entkommen ist, nimmt er ihn alles in allem doch recht wenig ins Visier, noch weniger sein engstes Umfeld, die Eltern, die er gleichsam hinter ihrer Wohnzimmereinrichtung versteckt. Wir erleben die ländliche Einführung des Selemach in die Künste, vor allem aber verfolgen wir ihn mit dem Blick des Selysses auf seinen Gängen durch das Dorf und lernen seine Bewohner kennen: die Engelwirtin Rosina Zobel, die die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, und den alten Engelwirt mit einer großen Wunde, die nicht verheilen wollte, den einbeinigen Pächter Sallaba, die Seelos-Ambrosersippe samt dem Türken Ekrem, den Buchdrucker Specht und den Bader Kopf, die Tanten Babett und Bina mit dem Café Alpenrose und die Mathild, die aus dem Kloster und dem kommunistischen München völlig hinterfür nach W. zurückgekommen war, die Modistin Valerie Schwarz, die eine geringe Körpergröße mit einer Brust ungeheuerlichen Ausmaßes verband, den von Haus aus untröstlichen Dr. Rambousek und den Motorradarzt Dr. Piazolo samt dem Motorradpfarrer Wurmser.

Ritorno in patria inglese
Gut dreißig Jahre war Selysses nicht mehr in W. gewesen, und das Dorf lag, wie er bei seiner späten Ankunft dachte, für ihn weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Als er W. wieder verläßt, ist uns der Ort vertrauter als fast jeder andere auf dem Globus. Selysses selbst aber war fast ganz abhanden gekommen, hatte er sich doch nicht nur in Selemach verwandelt, sondern obendrein auch noch in den Großvater, Serkeisios, um im Spiel zu bleiben: Wenn er es sich jetzt recht überlege, so der Lukas, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus einer Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. Notdürftig am Leben erhalten wird Selysses, so scheint es fast, nur durch den Blickwechsel mit seinen vermeintlichen Kollegen: Da auch ich andauernd über meine Papiere gebeugt war, und gleich ihnen nur zwischenhin einen gedankenverlorenen Blick in die Ferne schweifen ließ, hielten sich mich wahrscheinlich zunächst ebenfalls für einen Handlungsreisenden, bis sie nach wiederholtem taxierenden Herübersehen wohl doch von meinem unstandesgemäßen Äußeren auf ein anderes und, wie ich annehme, zweifelhafteres Metier schlossen.

Mit der Abfahrt aus W. schwindet die Dominanz des ersten Blicks, Selysses verliert sich ganz in den Nebeln seiner Innenwelt. Es gibt auch keine Augenpaare mehr, in denen er sich spiegeln könnte, er ist gänzlich vereinsamt: Eigenartig berührte mich beim Hinausschauen auf einmal, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Tatsächlich schien es mir, als habe unsere Art bereits einer anderen Platz gemacht oder als lebten wir doch in einer Form der Gefangenschaft. Der einzige Mensch, dem er auf der Fahrt begegnet ist ein Phantom, Elisabeth von Böhmen, die im daseinslosen Buch Das böhmische Meer der daseinslosen Autorin Mila Štern liest. Aller inneren Bewegung zum Trotz bleibt Selysses nur dumm und stumm stehen neben ihr und schaut weiter hinaus auf die nahezu vergangene Dämmerwelt. In London angekommen vertieft er sich sogleich in Pisanellos Bild San Giorgio con capello di paglia in der Nationalgalerie. Auf der Weiterfahrt in den englischen Osten verfällt er in Schlaf über Samuel Pepys’ Tagebucheintragungen zum Großen Londoner Brand: Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Und anderen Tags ein stiller Aschenregen – westwärts bis über Windsorpark hinaus. – 2013 - Ende.

Als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten – der erste Verdacht bestätigt sich, wo immer man hingreift in diesem Buch. Man kann einzelne der Fäden ans Licht heben, oder man kann es auch sein lassen und sich dem Märchengefühl überlassen. Alle Fäden gleichzeitig werden sich ohnehin nicht beleuchten lassen. Der Dichter ist keineswegs Herr des Geheimnisses der die Zeit verwebenden Fäden: Welchen Zusammenhang gibt es, habe ich, wie ich mich erinnere, damals gefragt und frage mich jetzt wieder, zwischen diesen beiden schönen Leserinnen und der riesigen, alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfenden Konstruktion diese Bahnhofsgebäudes aus dem Jahre 1932, zwischen den sogenannten steinernen Zeugen der Vergangenheit und dem, was als eine undeutliche Sehnsucht über unsere Körper sich fortpflanzt, um sie zu bevölkern, die staubigen Landstriche und die überschwemmenden Felder der Zukunft.


* Etwas ganz anderes ist natürlich die Photoausstattung der Bücher Sebalds, eine eigentümliche zweite Stimme zu seiner Prosa.