Donnerstag, 30. Juni 2011

Drei Kreise

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Bald darauf ist er eines Tages plötzlich verschwunden gewesen. Ich weiß nicht, wo überall und wie lang nach ihm gesucht wurde, nur daß ich ihn nach zwei, drei Tagen endlich im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt habe. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren auf ihrem Weg zu fernen Häfen. Als ich ihn fragte, zu welchem Zweck er hier herauf gegangen sei, sagte er, er habe nach seinem Bruder schauen wollen. Einen solchen Bruder aber hat es nie gegeben. Minuten verstrichen, nichts deutete darauf hin, daß er sich meiner Anwesenheit noch bewußt war, dann begann er vor sich hin zu sprechen, leise, aber doch wie zu einem Zuhörer. In seinem Fall könne man sich drei Kreise denken, einen innersten Kreis, dann den mittleren, dann den äußeren. Der Kern erklärt dem mittleren Kreis, warum dieser Mensch sich quälen und sich mißtrauen muß, warum er verzichten muß, warum er nicht leben darf. (War nicht z. B. Diogenes in diesem Sinne schwer krank? Wer von uns wäre nicht glücklich unter dem strahlenden Blick Alexanders gewesen? Diogenes aber bat ihn verzweifelt die Sonne frei zu geben. Dieses Faß war von Gespenstern voll.) Dem äußeren Kreis, dem handelnden Menschen, wird nichts mehr erklärt, ihm befiehlt bloß schrecklich der mittlere; der äußere handelt unter schrecklichem Druck, aber mehr in Angst, als in Verständnis, er vertraut, er glaubt, daß der Kern dem mittleren Kreis alles erklärt und der mittlere Kreis alles richtig verstanden hat. All das trug er in einer ruhigen, überzeugten Weise vor, so daß man sich unwillkürlich fragte, ob es einen Sinn haben könne. Einen Sinn hatte es ohne jeden Zweifel.

Mittwoch, 29. Juni 2011

Kommentar Peitschenherren

Die einigermaßen rätselhaften Peitschenherren sind uns bereits bekannt als - eher erfolglose - Erzieher der Zentauren, mit einer immerhin verständlichen Aufgabe also, aber was haben sie auf einer Hochzeit zu suchen. Kafkas bekannte Eheschließungsschwierigkeiten stehen wohl im Deutungshintergrund. Prunksaal, Geschmeide der Damen, weiße Hemdbrüste der Herren, ein Bankett für gut hundert Leute, offenbar handelt es sich um eine reiche, mondäne Hochzeit, die Brautleute oder doch einer von ihnen stammen aber aus einfachen Verhältnissen. Die Verwandten drehen sich hervor aus einer eigenen Tür, umfangreiche Frauen, neben ihnen kleinere Männer in hochgeschlossenen Feströcken mit kurzen Schritten, ein wenig von der Atmosphäre des Schtetls dringt ein in den Festsaal. Noch ist Stille, auch die Instrumente, die gerade noch gestimmt wurden, sind wieder verstummt. Aber was kommt nach der Stille. Man darf die Peitschenherren nicht vergessen. Allerdings haben sie nicht Peitschen, sondern Ruten in den Händen, ist diese mildere Erscheinung ihr Tribut an die Hochzeit? Man wird kein Peitschenknallen hören, Gutes aber nicht unbesorgt erwarten dürfen. Erfreuen wir uns gleichwohl an der Schönheit der Braut.
Peitschenherren

Montag, 27. Juni 2011

Peitschenherren

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es waren die Peitschenherren beisammen, starke aber schlanke Herren, immer bereit, sie hießen Peitschenherren, aber sie hatten Ruten in den Händen, an der Rückwand des Prunksaales standen sie vor und zwischen den Spiegeln. Man hatte für das Hochzeitsbankett Tisch für gut hundert Leute gedeckt. Die Strahlen der untergehenden Sonne brachen sich in den Gläsern und blinkten an dem silbernen Schlagzeug der Kapelle, die auf dem Podium soeben anfing, für ihren bevorstehenden Auftritt zu proben. Die Instrumentalisten waren vier schon etwas gealterte Jünglinge mit lockigem Haar. Von der wie von einem leichten Seegang bewegten, ständig wachsenden Menge der Gäste waren nur die glitzernden Ohrringe und Halsketten der Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen. Ich trat mit meiner Braut ein, es war unsere Hochzeit. Aus einer besonderen, engen Tür uns gegenüber kamen die Verwandten hervor, sie drehten sich hervor, umfangreiche Frauen, links neben ihnen kleinere Männer in hochgeschlossenen Feströcken mit kurzen Schritten. Manche der Verwandten hoben die Arme vor Staunen über meine Braut, einer ungeheuer feingliedrigen, beinah transparenten Person – niemand kannte ihren Namen, niemand vermochte ihr Alter zu schätzen -, aber es war noch still.

Kommentar Zentauren

Sie haben Vorderbeine, die sie, müde von Trinkseligkeit, ins Wasser tauchen, sie lecken einander gegenseitig das Wasser von Fell, also sind es Tiere, Pferde vermutlich. Sie sind der Sprache mächtig, sind zugelassen zum Palast, den Korridoren, dem Billardzimmer und der Ahnengalerie, sie lecken einander gegenseitig das Wasser von Gesicht, also sind es Menschen, in der Summe Pferdemenschen, Zentauren. Sie haben sich des Wassertrinkens schuldig gemacht, wie soll man das verstehen. Vermutlich wird nicht das Trinken als solches sanktioniert, sondern das wilde, tierische Trinken. Die Zentauren leben ihre tierhafte Seite, die sollen sie überwinden und vergessen, vielleicht irgendwann Platz nehmen neben den Damen mit den glitzernden Ohrringen und Halsketten und den Herren mit den weißen Hemdbrüste beim Champagner. Dazu aber zeigen sie wenig Neigung. Die Peitschenherren, offenbar dem Lakaienstand zuzurechnen, sind von einer höheren Instanz mit der Dressur betraut. Beim Eindringen in das Billardzimmer wechselt die hastende Prosa ihre Gangart, wird bedächtig, aufmerksam für ruhende Einzelheiten. Hier schon wird der Sturm gebremst, um dann in der Ahnengalerie zu verklingen. Verdanken die Zentauren ihre Existenz der widernatürlichen Betätigung eines fernen Ahnen, vielleicht dem letzten Billardspieler, soll ihre Zivilisierung die Schande vergessen lassen? Dabei lebt doch der Wunsch in uns allen, Indianer zu sein, verwachsen mit dem Pferden, Zentauren fast schon.
Zentauren

Sonntag, 26. Juni 2011

Zentauren

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es war ein kleiner Teich, dort tranken wir, Bauch und Brust an der Erde, die Vorderbeine, müde von Trinkseligkeit, ins Wasser getaucht. Wir mußten aber bald zurück, der Besonnenste riß sich los und rief: Zurück Brüder! Dann liefen wir zurück. Wo wart ihr? wurden wir gefragt. Es waren die Peitschenherren, starke aber schlanke Herren, sie hießen Peitschenherren, aber sie hatten Ruten in den Händen, an der Rückwand des Prunksaals standen sie vor und zwischen den Spiegeln, in denen die wie von einem leichten Seegang bewegte Menge der dinierenden Gäste schimmerte, die glitzernden Ohrringe und Halsketten der Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren. Im Wäldchen waren wir, so unsere Antwort. Nein. Ihr wart beim Teich. Nein, wir waren nicht dort. Ihr trieft ja noch von Wasser, Ihr Lügner! Und die Peitschen begannen zu spielen. Wir liefen durch die langen mondscheinerfüllten Korridore, hie und da wurde einer getroffen und sprang hoch vor Schmerz. In wilder Hatz stürmten sie den seit unausdenklicher Zeit schon nicht mehr bespielten Billardsaal. Der mächtige Mahagonitisch, beschwert von den in ihn eingebetteten Schieferplatten, stand unverrückt an seinem Platz; der Zählapparat, der goldumrandete Wandspiegel, die Ständer für die Stöcke und die Verlängerungsschäfte, das Kabinett mit den vielen Schubladen, in denen die Elfenbeinkugeln, die Kreiden, Bürsten, Polierlappen und sonstigen für das Billardspiel unentbehrlichen Dinge verwahrt lagen, nichts war seit dem letzten Spiel mehr angerührt worden oder in irgendeiner Weise verändert. In der daran anschließenden Ahnengalerie war die Jagd zuende, die Tür wurde zugeschlagen, man ließ uns allein. Wir waren noch alle durstig, wir leckten einander gegenseitig das Wasser von Fell und Gesicht, manchmal bekam man statt Wasser Blut auf die Zunge, das war von den Peitschenhieben.

Samstag, 25. Juni 2011

Kommentar Labyrinth

Immer wieder klingt bei Selysses die Sehnsucht an nach einer vom Menschen befreiten Welt und vielleicht auch die Sehnsucht, selbst in der Welt spurlos zu verschwinden. Eine Gegend, in der alles einander entspricht, alles sanft ineinander übergeht, was könnte man sich Besseres wünschen für diesen Plan. Dann Wald, dicht und dunkel. Die Irrwege geben sich schon bald als ein eigens angelegtes Labyrinth zu erkennen, das die besondere Angstlust des Menschen bedient, die Angst verloren zu gehen und den Wunsch sich zu verlieren. Ein Pavillon auf einem etwas erhöhten Platz verschafft Überblick. Der Irrgarten erscheint als Abbild des Gehirns, das Verlangen nach einem Labyrinth ist in den labyrinthischen Hirnwindungen angelegt, beides, die Lust und die Angst, ist in die Landschaft projiziertes Kopfgeschehen. Im Leben gelangen wir nicht genug heraus aus uns, um uns in die Welt zu verlieren, auch wenn wir uns in ihr ständig verirren.
Labyrinth

Mittwoch, 22. Juni 2011

Labyrinth

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In welcher Gegend ist es? Ich kenne sie nicht. Alles entspricht dort einander, sanft geht alles ineinander über. Ich weiß, daß diese Gegend irgendwo ist, aber ich weiß nicht wo sie ist und ich kann mich ihr nicht nähern. Immer wieder verirre ich mich, es ist ein Waldweg, aber deutlich erkennbar, nur über ihm führt die Aussicht auf einen Himmelstreifen, überall sonst ist der Wald dicht und dunkel. Und doch das fortwährende, verzweifelte Verirren, und außer dem mache ich einen Schritt vom Weg, bin ich gleich Tausend Schritte im Wald, verlassen, daß ich umfallen möchte und liegen bleiben für immer. Ich bin über die unendlich verschlungenen Wege gegangen und habe nicht aus dem, wie ich glaubte, eigens für mich angelegten Irrgarten herausgefunden. Todmüde und nun schon wirklich bereit, mich irgendwo niederzulegen, gelangte ich bei Einbruch der Dämmerung an einen etwas erhöhten Platz, auf dem in der Mitte des Eibenlabyrinths ein kleiner chinesischer Pavillon errichtet war. Und als ich von diesem Aussichtsposten hinabblickte, sah ich das Labyrinth selber, den hellen Sandboden, die scharf abgezirkelten Linien der mehr als mannshohen, fast schon nachtschwarzen Hecken, ein im Vergleich mit den Irrwegen, die ich zurückgelegt hatte, einfaches Muster, von dem ich sogleich mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn. 

Dienstag, 21. Juni 2011

Kommentar Schwarzwasser

Eindrücke äußerster Unmittelbarkeit: mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen; Farbangaben: schwarz, gelblich, gelbbraun; und Liniengewirr: niedrig, ausgebaucht, unverständlich hoch, geknickt, faltig, kreuz und quer gezogen – Farben und Linien wie Aufforderungen an die bildenden Künstler; und schließlich ein Schicksalshinweis: keinem Windstoß gewachsen, dem aber nicht zu trauen ist, denn der Kahn segelt schon seit unausdenklichen Zeiten: aus diesem Stoff ist, in ihrer Unvergleichlichkeit, Kafkas Barke gebaut. Wen soll es wundern, wenn ein in Manchester tätiger Gestaltungs- und Vernichtungskünstler die Aufforderung wahrnimmt. In einer über nahezu ein Jahr sich hinziehenden Arbeit wird er in den bald schon stark beeinträchtigten Hintergrund die Wahrheit der Barke einzeichnen. Ihn wird weder eines der Zwischenstadien noch die irgendwann notgedrungen zum fertigen Bild deklarierte Version zufriedenstellen, wir würden viel geben, das eine oder das andere sehen zu dürfen.
Schwarzwasser

Montag, 20. Juni 2011

Schwarzwasser

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es war immer wieder verwunderlich, wie er gegen Ende eines Arbeitstages aus den wenigen der Vernichtung entgangenen Linien und Schatten ein Bildnis von großer Unmittelbarkeit zusammenbrachte, und noch weitaus verwunderlicher war, daß er dieses Bildnis unfehlbar am nächsten Morgen, sobald er einen ersten Blick darauf geworfen hatte, wieder auslöschte, um aus dem durch die fortgesetzten Zerstörungen bereits stark beeinträchtigten Hintergrund von neuem die verborgenen und für ihn, wie er sagte, letztlich unbegreiflichen Züge des Bildes herauszugraben. Alles aber wurde übertroffen von der mit geringen Unterbrechungen über nahezu ein Jahr sich hinziehenden Arbeit an der Barke des Jägers Gracchus, das er für eines seiner verfehltesten Werke halte, weil es, seines Erachtens, keinen auch annähernd nur zureichenden Begriff gebe von der Seltsamkeit der Erscheinung, auf die es sich beziehe. Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. Alle Angaben zur Ausführung des Bildes, die Farben und die Linien, sind vorhanden, und doch bleibt das Geheimnis dieses Kahns tief in der Sprache verborgen. Denn vom Verschwiegenen sprechen die Dichter und nicht von dem, was sie sagen.

Sonntag, 19. Juni 2011

Kommentar Wegversperren

Selysses, auch in der Erscheinungsform des Jacques Austerlitz, bewegt sich unter Menschen als ein einsamer Wanderer, traumwandlerisch, ohne anzustoßen oder gar festzuhaken, seine Erfolge auf dem Spielfeld, wo er gleichsam körperlos die Reihen der Gegner durchquert, sind so gesehen nur ein Sonderfall seines Seins unter Menschen. Am sportlichen Erfolg ist ihm nichts gelegen und an der Anerkennung nur soweit, als sie seine Unberührbarkeit erhöht. Das in den Übungsstunden gespielte Spiel Wegversperren, über dessen Einzelheiten Kafka unterrichtet, betrachtet er mit kühlem Interesse als ein von allem Überflüssigen entkleidetes Modell von Angriff und Verteidigung. Der nur durchschnittliche Erfolg bei diesem Spiel betrübt ihn keineswegs, daß ein Hinkender – vermutlich gar nicht einmal Stammspieler in der Rugbymannschaft, der beste Verteidiger ist, kann Anlaß sein für vielfältige Erwägungen.
Wegversperren

Samstag, 18. Juni 2011

Wegversperren

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Sehr zustatten gekommen ist mir die Tatsache, daß ich mich schon bald auf dem Rugbyfeld auszuzeichnen begann, weil ich, vielleicht wegen einem dumpf in mir rumorenden, mir damals noch gar nicht bewußten Schmerz, mit gesenkten Kopf die Reihen der Gegner durchquerte wie keiner meiner Mitspieler sonst. In den Übungsstunden für die Wettkämpfe spielten wir zum Verschnaufen und zur Auflockerung nicht selten Wegversperren, Es wurde eine Wegstrecke bestimmt, die einer verteidigen und die anderen der Reihe nach überschreiten sollten. Dem Angreifer wurden die Augen verbunden, der Verteidiger aber hatte kein anderes Mittel, die Überschreitung zu verhindern, als daß er gerade im Augenblick der Überschreitung den Angreifer am Arm berührte; tat er es früher oder später, hatte er verloren. Wer das Spiel nie gespielt hat, wird glauben, daß der Angriff sehr schwer, die Verteidigung sehr leicht gemacht sei und dabei ist es gerade umgekehrt oder es sind zumindest die Angriffstalente häufiger. Verteidigen konnte bei uns nur einer, er freilich konnte es fast unfehlbar. Ich habe ihm oft zugeschaut, es war dann kaum unterhaltend, er war eben ohne viel Laufen immer am richtigen Platz, er hätte auch gar nicht sehr gut laufen können, denn er hinkte ein wenig, er war aber auch sonst nicht lebhaft, andere, wenn sie verteidigten, lauerten geduckt und blickten wild herum, seine mattblauen Augen blickten ruhig wie sonst. Was eine solche Verteidigung zu bedeuten hatte, merkte man erst, wenn man Angreifer war. Auch ich, bei all meinem unbestrittenen Angriffsvermögen, konnte ihn nur selten besiegen.

Freitag, 17. Juni 2011

Kommentar Wir lachten

Die beiden Dichter schenken sich gegenseitig eine Weile des Friedens. Sebald übernimmt die Schilderung der malerischen Umgebung bei Tageslicht, Kafka ruft am Abend auf der Terrasse eine kleine Gesellschaft zusammen, eine Gesellschaft groß genug gegen die Einsamkeit und klein genug für das Glück. Vollmond und warme Juninacht, man ist eingebettet, in eine Welt, die alle Schärfe verloren hat. In der Ferne bellt ein Hund, man lacht. Quell des Lachens ist ein Einvernehmen, das bis in die unsichtbare, vom Bellen nur grade vergegenwärtigte Tiefe reicht.

Wir lachten

Mittwoch, 15. Juni 2011

Wir lachten

Aus dem Schattenreich
Kommentar
An der Nordseite waren die Ziegel grün geworden, scheckiger Efeu bedeckte teilweise die Mauern, und ein moosiger Weg führte am Dienstboteneingang und an den Schuppen für das Feuerholz vorbei durch tiefe Schatten und schließlich wie auf eine Bühne hinaus auf eine große Terrasse mit steinerner Balustrade, unterhalb derer ein weiter, quadratisch gefaßter Rasenplatz lag, eingefaßt von Blumenbeeten, Buschwerk und Bäumen. Jenseits des Rasens, nach Westen, öffnete sich die Landschaft, ein Park mit einzeln dastehenden Linden, Ulmen und immergrünen Eichen. Dahinter die sanften Wellen der Äcker und das weiße Wolkengebirge und das weiße Wolkengebirge am Horizont. Am Abend dann war es eine kleine Gesellschaft auf der erhöhten Terrasse unter dem von Säulen getragenen Dach. Drei Stufen führten auf die erste Ebene des Gartens herab. Vollmond war und warme Juninacht. Alle waren sehr lustig, wir lachten über alles; wenn in der Ferne ein Hund bellte, lachten wir darüber.

Dienstag, 14. Juni 2011

Kommentar Berg Sinai

I reflected long on these words, but they remained dark to me.

Einen Zaddik erkennt man nicht an seinem Äußeren. Er mag ein verwachsenes Männlein mit mordsmäßiger Nase sein und einen grellgelben Gehrock und eine ausgediente Dragonerhose tragen. Andererseits sind mordsmäßige Nase und grellgelbe Gehrock kein Beleg dafür, daß wir es mit einem Zaddik zu tun haben. Man erkennt den Zaddik auch nicht ohne weiteres an seinen Worten, sie mögen dunkel sein, ein dunkles Wort ist aber noch kein Hinweis auf einen Zaddik. Zu morden wie Alexander verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht, aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Viele auch umschleichen den Berg Sinai, aber keiner kommt wie Moses geraden Weges herab. Die Nachfahren der großen Männer, mögen sie nun heidnischen oder biblischen Hintergrund haben, ähneln einander. Man hat das verwachsene Männlein wohl nicht ausreden lassen, die Äußerung zum Sinai ist zu knapp und bruchstückhaft für eine zuverlässige Deutung.
Berg Sinai

Montag, 13. Juni 2011

Berg Sinai

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Unter dem Portal der Grabeskirche trug ein verwachsenes Männlein mit mordsmäßiger Nase sich uns als Führer an durch das Gewirr der ineinandergebauten Quer- und Seitenschiffe, Kapellen, Schreine und Altäre. Wie er versicherte, beschränkten sich seine Kenntnisse keineswegs auf die Grabeskirche, sondern erfaßten alle Ecken Jerusalems und erstreckten sich bis an die Grenzen des Heiligen Landes und darüber hinaus. Man nehme etwa den Berg Sinai. Viele, so das Männlein, umschleichen den Berg Sinai. Ihre Rede ist undeutlich, entweder sind sie redselig oder schreien sie oder sind sie verschlossen. Aber keiner kommt geraden Weges herab auf einer breiten, neu entstandenen, glatten Straße, die ihrerseits die Schritte groß macht und beschleunigt. Was er da über den Berg Sinai zu sagen wußte, blieb dunkel und empfahl ihn nicht als Führer, wenn es eines derartigen, auf seine Worte sich gründenden Vorbehalts überhaupt bedurft hätte. Er hatte einen weit in das letzte Jahrhundert zurückdatierenden grellgelben Gehrock am Leib, und seine krummen Beine steckten in einer mit himmelblauen Streifen besetzten einstmaligen Dragonerhose. Vielleicht aber hatte das, was er vom Sinai sagte, einen tiefen Sinn, und nur wir konnten ihn nicht verstehen.

Sonntag, 12. Juni 2011

Kommentar Schlange

C'est de cette facon que l'homme se distingue des primates et va, de découverte en découverte, toujours plus haut, vers la lumière.
Eine der wichtigsten Belege für die falsche Stellung des Menschen in der Welt, ist sein falsches Verhältnis zum Tier. Unserem Herrn ist vielleicht nicht allein bei der Heilung des Gadareners, so wie erzählt bei Markus, ein böser Kunstfehler unterlaufen, einige sahen sich bereits genötigt, ihn offen und in jeder Hinsicht als mauvais démiurge bloßzustellen. Selysses beläßt es nicht bei der Betrachtung der Schweineherde aus sicherer Entfernung, sondern liebkost ein einzelnes der Tiere, das daraufhin die von hellen Wimpern umsäumtes Augen öffnet, ihn fragend anblickt und aufseufzt wie ein Mensch in unergründlichem Glück oder in endlosem Leid. Dieses gemeinsame und, wie es scheint, gleichgerichtete Welterleben zweier Lebewesen macht es völlig unverständlich, daß für die Befreiung eines einzelnen Menschen von seinen Dämonen unter Duldung nicht nur, sondern auf Geheiß des Herrn mutwillig Tausende von Geschöpfen sollen geopfert worden sein. Kafka pflichtet eifrig bei und weist seinerseits daraufhin, daß wohl bereits im Paradies, was die Schlange anbelangt, nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Er selbst habe keine ursprüngliche Abneigung oder gar Furcht vor Schlangen. Daß sie aber zu seinem Tintenfaß herausschaut, Arbeitsgerät des Dichters, sozusagen Faß der Worte und der Erkenntnis, macht ihn dann doch unsicher. Einen interessanten Gedankengang verfolgt in diesem Zusammenhang der altniederländische Maler Hugo van der Goes. Bei ihm sieht die Schlange aus wie eine Verwandte des Froschkönigs während der Verwandlung. Gliedmaßen sind ihr bereits gewachsen, und der Hals trägt einen vollausgebildeten Menschenkopf, ein klarer Hinweis darauf, daß das fatale Geschehen im Paradies allein und ausschließlich den Menschen anzulasten ist. Ob es sich um einen männlichen oder aber weiblichen Kopf handelt, ist nicht klar zu erkennen, und der amphibienhafte Körper bringt auch keinen Aufschluß. So oder so aber steht Adam als der Dumme da.

Schlange und Schwein

Samstag, 11. Juni 2011

Schlange und Schwein

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Hinter einem niedrigen Feld lagerte da eine an die hundert Stück zählende Schweineherde auf der von ein paar mageren Kamillenbüschen bewachsenen braunen Erde. Ich stieg über den Zaun und näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Langsam öffnete es, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr im mit der Hand über den staubbedeckten, unter der ungewohnten Berührung erschauernden Rücken und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr, bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch. Ich erinnerte mich an die Geschichte, die der heilige Evangelist Markus erzählt aus der Gegend der Gadarener. Der Tobsüchtige, von dem gesagt wird, er sei dem Nazarener entgegengelaufen aus den Gräbern, in denen er seine Behausung hatte, war, so heißt es, erfüllt von einer derart unbändigen Kraft, daß niemand ihn zu bändigen vermochte. Der Herr aber befiehlt den bösen Geistern hineinzufahren in die Sauherde, die daselbst auf der Weide ist. Und die Säue, von denen der Evangelist sagt, daß es an die zweitausend gewesen sind, stürzen sich von dem Abhang herab und ersaufen in der Flut. Handelt es bei dieser grauenvollen Geschichte um den Bericht eines glaubwürdigen Zeugen? Und wenn ja, bedeutet das nicht, daß unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen ist? Oder haben wir hier eine von dem Evangelisten bloß erfundene Parabel vor uns, die, wenn man es recht bedenkt, darauf hinausläuft, daß wir unseren kranken Menschenverstand immer wieder auslassen müssen an einer anderen, von uns für niedriger gehaltenen und für nichts als zerstörenswert erachteten Art. Ganz ähnliche Zweifel haben mich immer befallen beim Bericht der Genesis, der alle Schuld an dem rätselhaften Sündenfall und am seither andauernden Unheil der Menschheit der Schlange zuschiebt. Ich selbst habe keine ursprüngliche Abneigung oder gar Furcht vor Schlangen. Erst jetzt nachträglich stellt sich die Furcht ein. Das ist aber bei meiner Lage vielleicht selbstverständlich. Zunächst gibt es doch in der ganzen Stadt außer in Sammlungen oder einzelnen Geschäften gar keine Schlangen, mein Zimmer ist aber voll von ihnen. Es fing damit an, daß ich abends bei meinem Tisch saß und einen Brief schrieb. Ich habe kein Tintenfaß und benütze eine große Tintenflasche. Gerade wollte ich wieder eintauchen, da sehe ich, wie aus dem Flaschenhals der kleine zarte platte Kopf einer Schlange ragt. Ihr Körper hängt in die Flasche hinab und verschwindet unten in der stark bewegten Tinte. Das war doch sehr merkwürdig, aber ich hörte gleich auf es anzustarren, als mir einfiel, daß es vielleicht eine Giftschlange sein könnte, was sehr wahrscheinlich war, denn sie züngelte verdächtig und ein drohender dreifarbiger Stern auf dem Rücken verhieß nichts Gutes.

Freitag, 10. Juni 2011

Kommentar Mauerasseln

Was wir von der Welt wüßten ohne Sprache, wissen wir nicht. Wenn Kafka den Affen betrachtet, der bald schon den versammelten Mitgliedern der Akademie in geschliffenen Worten seine Sicht vortragen wird, scheint das sprachliche Manko nicht schwerwiegend und leicht zu beheben, der Blick auf die Mauerassel führt zu anderen Schlußfolgerungen. Keine Form der Wahrnehmung vermag einen weiteren Fächer aufzuspannen als die Sprache, zugleich aber zeigt sie uns erbarmungslos die Unerreichbarkeit der Welt, ihre Undurchdringbarkeit, eine Mauer, vor der wir dumm und immer wieder stumm dastehen. Die Sprache verlangt einen unbefangenen Umgang mit ihr, werden wir unsicher in ihrem Gebrauch, kann sie an der schweigenden Mauer zerbrechen und in ihre Bestandteile zerbröseln. In der Fachwelt besteht Einigkeit, daß die Mauerassel über nichts verfügt, das wir Sprache nennen würden. Was wir mit ihr gemeinsam haben, so lernen wir hier, ist das Wachen. Die Assel freilich wacht unter einem alten Mauerstein, wir haben Mühe, das hinreichend wertzuschätzen. Könnten wir die das Volk der Asseln erreichen mit unseren Worten, wäre es ausgerottet, wird uns versichert. Andere möchten glauben, daß die Welt erlöst wäre in diesem Augenblick.

Mauerasseln

Donnerstag, 9. Juni 2011

Mauerasseln

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Das gesamte Gliederwerk der Sprache, die syntaktische Anordnung der einzelnen Teile, die Zeichensetzung, die Konjunktionen und zuletzt sogar die Namen der gewöhnlichen Dinge, alles ist eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel. So ein Satz, das ist etwas nur vorgeblich Sinnvolles, in Wahrheit allenfalls Behelfsmäßiges, eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit der wir, wie so manche Meerespflanzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt. Im Grunde führt uns die Sprache immer nur an eine Mauer, an der es nicht weiter geht. Die Sätze lösen sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur, die irgendein kriechendes Wesen abgesondert und hinter sich hergezogen hat auf dem Mauerwerk. Im Grunde führt uns die Sprache immer nur an eine Mauer, an der wir dann als Wächter stehen. Ein Wächter! Ein Wächter! Was bewachst Du? Wer hat Dich angestellt? Nur um eines, um den Ekel vor Dir selbst bist Du reicher als die Mauerassel, die unter dem alten Stein liegt und wacht. Erreiche es nur, Dich der Mauerassel verständlich zu machen in einer Sprache. Hast Du ihr einmal die Frage nach dem Zweck ihres Arbeitens beigebracht, hast Du das Volk der Asseln ausgerottet.

Mittwoch, 8. Juni 2011

Kommentar Asketen

Sebalds Helden, Austerlitz, Bereyter, Le Strange, sind bedürfnislos. Bei den genannten dreien wird man die Erlebnisse und Erinnerungen der Kriegs- und Grauenszeit berücksichtigen wollen. Der Held in dieser kleinen Erzählung hier hat diesen Hintergrund nicht. Obwohl auf geradezu exzentrische Weise bedürfnislos, verwahrt er sich dagegen, ein Asket zu sein. Dabei hat er offenbar die Berufsasketen im Auge, von ihm selbst mit spöttischer Euphemie als philosophische Asketen bezeichnet. Kafka hat dieser Berufsgruppe im Hungerkünstler ausführlich behandelt und entfaltet hier noch einmal akribisch ihre Motivstruktur. Viel Schauspielerei vor sich selbst, Gott und den Menschen ist im Spiel. Der Held hier (Michael Parkinson in den Ringen des Saturn) ist dagegen bedürfnislos aus Neigung und ohne jeden Darstellungsdrang. Die aufdringlichen Angebote der Welt lassen ihn kalt. Daß er aber unempfänglich wäre für die sich darbietende Welt, für diese Annahme besteht kein Anlaß.
Asketen

Dienstag, 7. Juni 2011

Asketen

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Mehr als alles andere zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Jahraus, jahrein trug er, seit ich ihn kannte, abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Ja, sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben. Als ich gelegentlich zu ihm sagte, daß er sich wohl die Anweisungen des Tertullian für ein asketisches Leben zu Herzen genommen habe und in der Strenge der Enthaltsamkeit dem heiligen Antonius kaum nachstünde, da antwortete er mir lachend, ein Asket oder Hungerkünstler sei er keineswegs. Die Unersättlichsten von allen seien nämlich manche Asketen, sie machten Hungerstrike auf allen Gebieten des Lebens und wollten dadurch gleichzeitig Folgendes erreichen: Einmal solle eine Stimme sagen: Genug, Du hast genug gefastet, jetzt darfst Du essen wie die andern und es wird nicht als Essen angerechnet werde. Weiter aber solle die gleiche Stimme gleichzeitig sagen: Jetzt hast Du solange unter Zwang gefastet, von jetzt an wirst Du mit Freude fasten, es wird süßer als Speise sein (gleichzeitig aber wirst Du auch wirklich essen) und schließlich solle die gleiche Stimme gleichzeitig sagen: Du hast die Welt besiegt, ich enthebe Dich ihrer, des Essens und des Fastens (gleichzeitig aber wirst Du sowohl fasten als essen). Zudem komme noch eine seit jeher zu ihnen redende unablässige Stimme: Du fastest zwar nicht vollständig, aber Du hast den guten Willen, und der genügt. Ihm aber sei im Gegensatz zu diesen gleichsam philosophischen Asketen die Bedürfnislosigkeit nichts anderes als ein einfaches Bedürfnis.

Montag, 6. Juni 2011

Kommentar Schlußgesang

Kafka scheint mit sich allein, die Last des Vaters, die offene Wunde, die sich handgroß in der Hüftgegend aufgetan hat, das sind seine Themen, auch wenn Sebald sie hier vorträgt. Es ist die Rede vom Schlußgesang, aber es geht nur um die Worte, nicht um die Noten und Töne. Wie Tschechow ist Kafka ein Dichter, dem die Musik im Inneren der Worte und Sätze hinreicht. Zwar hat er umfänglich von der Sängerin Josefine berichtet, aber Josefine ist eine Maus und ihr Singen eher nur ein leises Pfeifen. Die Wunde, um die es geht, hat sich schon in der Jugend aufgetan, der Schlußgesang, den wir alle singen, beginnt schon recht bald. Der Unterschied in unseren Liedern kann immer nur wenige Worte ausmachen. Kafkas Schluß- und Lebensgesang war kurz, wessen Worte aber waren heller als seine.

Schlußgesang

Sonntag, 5. Juni 2011

Schlußgesang

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es hieß, er liege in dem an das Zimmer der Rosina anschließenden Raum und er habe an der Hüfte eine große Wunde, die nicht verheilen wolle. Er habe, so hieß es, in seiner Jugend eine Zigarre, die er verbotenerweise geraucht habe, vor seinem Vater verbergen wollen und in den Hosensack gesteckt. Die Brandwunde, die er sich zugezogen habe, sei zwar besser geworden, sie aber später, als er gegen fünfzig ging, immer wieder aufgegangen und schließe sich nun überhaupt nicht mehr, ja, sie werde größer von Jahr zu Jahr, und es könne, so wurde gesagt, darum wohl sein, daß er bald am Brand sterben würde. Immerfort spricht er vom Tod, so die Rosina, und stirbt doch nicht. Drauf ich: Und doch wird er sterben. Er sagt eben seinen Schlußgesang. Des einen Gesang ist länger, des anderen Gesang ist kürzer. Der Unterschied kann aber immer nur wenige Worte ausmachen.

Samstag, 4. Juni 2011

Kommentar Kurier

Was die endlosen Strecken und unermeßliche Weiten anbelangt, die zu durcheilen sind, ähnelt der Beruf des Kuriers beim Zaren dem des kaiserlichen Boten in China. Während aber der Bote, ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann, die Beine wirft, einmal diesen, einmal den anderen Arm vorstreckend sich Platz verschafft, und dabei doch keine Aussicht hat, auch nur das äußerste Tor des kaiserlichen Stadt zu erreichen, verfügt der Kurier, den nicht nur Kafka, sondern auch Sebald beobachtet, bereits über Transportmittel – im Sommer das Pferd oder den Wagen, im Winter den Schlitten - und über eine zuverlässige Wegeplanung; acht Fahrstunden werden es sein bis zum Ziel. Es fragt sich, warum er unter diesen Bedingungen so ruhelos ist während der Nacht. Vielleicht ist es ein inzwischen leer laufender Residualbestand des alten Boteneifers, vielleicht ist es ein Geheimnis, in das wir nicht einsehen können. Wenn aber die nächtliche Rast nichts als Unrast ist für den Kurier, so ist die Weiterfahrt so ist die Weiterfahrt durch die uferlose Schneelandschaft ein einziges großes Aufatmen. Der Auftrag scheint kein schwerer zu sein, er trübt nicht die glückliche Stimmung des Kuriers während der Fahrt.

Kurier des Czaren

Freitag, 3. Juni 2011

Kurier des Czaren

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Der Kurier des Czaren übernachtete in einem kleinen Steppendorf, er lag bereits im einzigen Raum der Hütte, um ihn herum schlief die Familie des Bauern, in einer Ecke waren einige Ziegen zusammen gedrängt, sie waren unruhiger als die Menschen, darum war schon eine der Ziegen aufgestanden, hatte eine Wanderung durch die Stube gemacht und an den Menschen geschnuppert. Der Kurier schlief kaum, während seiner Reisen schlief er gewöhnlich gar nicht, nur wenn die Lage völlig sicher schien, schloß er die Augen, schlief sofort ein, behielt sich aber so in der Gewalt, daß ihn Geräusche nicht erst wecken mußten, sondern daß er sie im Schlaf mit dem Gehör geradezu aufspürte und jedenfalls duldete er keinen Schlaf, der über eine Viertelstunde dauerte, sondern rüttelte sich dann selbst auf. Draußen erwartete ihn schon ein mit vier Falben bespannter, sonst aber sehr kleiner, beinahe einem Spielzeug gleichender Schlitten. Acht Fahrstunden sind es noch bis zum Ziel. Eingepackt in einem ihn bis an die Fußspitzen reichenden Mantel aus Bärenfell und eine enorme, mit Ohrenklappen versehene Pelzmütze nimmt er Platz. Mit sicherem Instinkt fand der junge, vielleicht sechszehnjährige Kutscher den Weg durch die endlosen, schneebedeckten Felder. Man hatte ihn nie auf die Schule geschickt und nicht damit gerechnet, ihn je zu etwas gebrauchen zu können, bis sich zeigte, daß die Pferde ihm folgten wie keinem anderen. Nie war der Kurier besser gefahren als in die sich bald schon wieder um ihn her ausbreitende Dämmerung hinein. Er sah die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhr der Schlitten in die nun einbrechende Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatteninseln die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben.

Donnerstag, 2. Juni 2011

Kommentar Kreiselphilosophie

Sieht man ab von einigen Seitenblicken auf Wittgenstein, tritt, mit gutem Grund, wie anzunehmen ist, in Sebalds erzählerischem Werk eine offiziell dem Berufsstand der Philosophen zuzurechnende Person nicht auf, es sei denn, man will Thomas Browne zur Gilde zählen. Sein Studium der Medizin wäre kein Hinderungsgrund, gibt doch die Betrachtung des lebenden und des toten Organismus zu den verschiedensten Überlegungen Anlaß, und gern haben sich Mediziner immer wieder in die höheren geistigen Bereiche und auch in die Dichtkunst begeben, man denke nur an Pio Baroja, Gottfried Benn oder Dr. Schiwago. Kafka beobachtet mit scharfem Blick einen Nebenzweig der philosophischen Betätigungsfeldes, den Spielzeugkreisel. Der Philosoph glaubt, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Aber der Kreisel nährt diese Hoffnung nur, solange er sich dreht wie rasend. Hält der Philosoph aber dann das den Kindern entwendete, zur Ruhe gekommene dumme Holzstück zur sorgfältigen philosophischen Betrachtung in der Hand, wird ihm übel, und das Geschrei und Gelächter der Kinder das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fährt, jagen ihn fort. Philosophen haben notorische Schwierigkeiten mit dem Lärmen und Lachen von Kindern und einfachen Menschen, Blumenberg ist dem am Beispiel der thrakischen Magd nachgegangen.
Kreiselphilosophie

Mittwoch, 1. Juni 2011

Kreiselphilosophie

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Er kam als Sohn eines Seidenhändlers zur Welt. Über seine Kindheit ist wenig bekannt, und in den Beschreibungen seines Lebens gibt es kaum einen Aufschluß über die Art seiner an das Magisterstudium sich anschließende medizinische Ausbildung. Verbürgt ist nur, daß er von seinem fünfundzwanzigsten bis zu seinem achtundzwanzigsten Jahr die in den hippokratischen Wissenschaften damals herausragenden Akademien von Montpellier, Padua und Wien besuchte und daß er zuletzt, kurz vor seiner Rückkehr, in Leiden den Grad eines Doktors der Medizin erwarb. Seine wahre Leidenschaft aber war nicht die Medizin, vielmehr die Philosophie. Die Unsichtbarkeit und Unfaßbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist auch für ihn, der unsere Welt nur als ein Schattenbild einer anderen ansah, ein letzten Endes unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt eines Außenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten. Oft trieb er sich dort herum, wo Kinder spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn er, der Philosoph, um ihn zu fangen. Daß die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewißheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.