Dienstag, 31. Januar 2012

Kommentar Dichter

Zunächst ist der Dichter selbst im Blick, seine auffälligste Eigenschaft ist die Unauffälligkeit, die flüchtige Weise, in der er mit der Welt verbunden ist. Dann richtet sich der Blick auf eine seiner Romangestalten, Simon mit Namen, und eine andere, wenn auch verwandte Eigenschaft erregt die Aufmerksamkeit, nicht die Leichtigkeit des Tritts, sondern der fehlende Gleichschritt mit den Generationsgefährten, aber da haben wir Simon vielleicht doch schon wieder verlassen und sind zurück beim Dichter, bei dem es sich naturgemäß und für jeden leicht erkennbar um Robert Walser handelt. Von Simon heißt es in jedem Fall, er sei glücklich bis an die Ohren, in der Lebensrealität aber nicht gut aufgehoben, genau das sei aber der Stoff, den der Dichter brauche, um die Welt in ein besonderes Licht zu tauchen. Das Licht des Dichters muß von der Seite her einfallen, die Reklamebeleuchtung der Zeit kreuzen. Der Dichter ist außer Tritt mit dem allgemeinen Fortgang, sein Schritt scheint nicht der der Menschen, ist aber der menschlichste von allen. 
1909

Freitag, 27. Januar 2012

Blick auf einen Dichter

Die Spuren, die dieser Dichter auf seinem Lebensweg hinterlassen hat, waren so leicht, daß sie beinah verweht worden wären. Zumindest seit seiner Rückkehr aus der Fremde, in Wahrheit freilich von Anfang an, war er nur auf die flüchtigste Weise mit der Welt verbunden. Nirgends hat er sich einrichten können, nie auch nur den geringsten Besitz sich erworben. Weder ein Haus hatte er je, noch eine dauerhafte Wohnung, kein einziges Möbelstück und als Garderobe allenfalls einen besseren und einen minderen Anzug. Selbst von dem, was er zur Ausübung seines Handwerks braucht, nannte er so gut wie nichts sein eigen. An Büchern besaß er, glaube ich, nicht einmal die, die er selbst geschrieben hatte. So ohne jeden Besitz, wie er zeit seines Lebens war, so abgeschieden blieb er von anderen Menschen. Simon, glaube ich, heißt eine Figur in einem seiner Bücher. Läuft dieser Simon nicht überall herum, glücklich bis an die Ohren, und es wird am Ende nichts aus ihm als ein Vergnügen des Lesers? Das ist eine sehr schlechte Karriere, aber nur eine schlechte Karriere gibt der Welt das Licht, das ein nicht vollkommener, aber schon guter Schriftsteller erzeugen will, aber leider um jeden Preis. Natürlich laufen auch solche Leute, von außen angesehen, überall herum, ich könnte, mich ganz richtig eingeschlossen, einige aufzählen, aber sie sind nicht durch das Geringste ausgezeichnet als durch jene Lichtwirkung in ziemlich guten Romanen. Man kann sagen, es sind Leute, die ein bischen langsamer aus der vorigen Generation herausgekommen sind, man kann nicht verlangen, daß alle mit gleichmäßigen Sprüngen der Zeit folgen. Bleibt man aber einmal in einem Marsch zurück, so holt man den allgemeinen Marsch niemals mehr ein, selbstverständlich, doch auch der verlassene Schritt bekommt ein Aussehen, daß man wetten möchte, es sei kein menschlicher Schritt, aber man würde verlieren. Man würde diese Wette sogar gründlich verlieren: Es ist der menschlichste Schritt überhaupt, und das Hochemotionale verschiedener Passagen, wie sie in den Texten dieses Dichters immer wieder zu finden sind, hat in der gesamten deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts nicht ihresgleichen, auch bei Kafka nicht.

Donnerstag, 26. Januar 2012

Kommentar Regenabend

Eine in mancher Hinsicht enigmatische kleine Erzählung. Die vom Großvater ererbte Wetterkundigkeit wird, so hat es den Anschein, gezielt genutzt zur Auswahl eines Regenabends, der, dem Naturell des Schreibenden entsprechend, die beste Schreibleistung verspricht. Hinsichtlich des Ortes besteht keine Klarheit, es kann das eigene, mit einer Veranda ausgestattete Haus sein, oder auch ein Ferienhaus, vielleicht auch eine Pension oder ein kleines Hotel am Gardasee. In Abhängigkeit vom Charakter des Ortes ist auch die im Hintergrund wirkende Thekla möglicherweise jeweils neu zu bestimmen, Lebensgefährtin oder Haushälterin oder Wirtin. Und was wird da geschrieben unter dem Verandadach: ein Brief wohl eher nicht, in diesem Fall würde sich wohl nicht Bogen um Bogen des Schreibblocks füllen, eher schon ein Tagebuch oder auch ein Roman. Wenn es heißt, er, also der Autor, schreibe, er sei sehr glücklich, darf das die Überlegungen nicht verdunkeln, er muß nicht über sich schreiben, das kann fiktional auf die unterschiedlichste Weise umgesetzt sein. Glahn, der Name des Großvaters, ist ein in der Literatur nicht unbekannter Name, und wenn es heißt, in den Wäldern rings herum seien Dinge, über die es verlohne jahrelang nachzudenken, so scheint die Naturmystik des Leutnants bruchlos fortgeführt. 

Dienstag, 24. Januar 2012

Winter

Aus dem Schattenreich
Man glaubt, man stolpere unaufhörlich durch unvollendete Selbstmorde, jeden Augenblick ist man fertig und muß gleich wieder anfangen und hat in diesem Lernen den Mittelpunkt der traurigen Welt. Für mich aber ist es im Winter immer schlimmer gewesen. Wenn man so im Winter schon nach dem Essen die Lampe anzünden mußte, die Vorhänge heruntergab, bedingungslos sich zum Tisch setzte, von Unglück schwarz durch und durch, doch aufstand, schreien mußte und als Signal zum Wegfliegen stehend noch die Arme hob. Ich denke an die Winter, die ich als Kind oft bei den Großeltern verbracht habe, an den Schnee auf der Tatra, an die verwehten Scheiben der Schlafkammer, an die Wächten vor dem Vorhaus, die weißen Hauben auf den Isolatoren der Telegraphenstangen und an den manchmal monatelang zugefrorenen Brunnentrog, und ich denke an den Wunsch, den ich als Kind immer gehabt hatte, daß alles zuschneien möge, das ganze Dorf und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf, und daran, daß ich mir vorstellte damals, wie es wäre, wenn wir im Frühjahr wieder auftauten und hervorkämen aus dem Eis. Man kommt ja anders heraus aus dem Eis und dem Schnee, und im Frühjahr und im Sommer sind die Fenster und die Türen offen und die gleiche Sonne und Luft ist in dem Zimmer, in dem man lernt und in dem Garten, wo andere spielen, man fliegt nicht mehr in seinem Zimmer mit den vier Wänden in der Hölle herum, sondern beschäftigt sich als lebendiger Mensch zwischen zwei Wänden. Das ist ein großer Unterschied, was aber noch an Verfluchtem bleibt, das muß man doch durchreißen können. Man wird es sicher können, wenn ich es kann, ich, der förmlich alles nur im Fallen machen kann.

Montag, 23. Januar 2012

Regenabend

Er hat denselben Gang gehabt wie der Großvater Glahn und ist beim Herauskommen aus einer Haustür geradeso wie dieser zuerst stehen geblieben, um nach dem Wetter zu schauen. An diesem Abend ist er unter dem Verandadach gesessen, als es von vorn zu regnen begann, wie er richtig vorausgesehen hatte. Die Füße schützte er, in dem er sie vom kalten Ziegelboden auf eine Tischleiste setzte, und nur die Hände gab er preis, in dem er schrieb. Das Schreiben ging ihm mit einer ihn selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Zeile um Zeile füllte er die Bogen des linierten Schreibblocks, den er aus der Stadt mitgenommen hatte. Thekla, die im Hause wirtschaftete, blickte immer wieder aus dem Augenwinkel zu ihm herüber, als wolle sie sich vergewissern, daß ihm der Faden nicht abgerissen sei. Sie brachte ihm auch, wie er es von ihr erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Express und ein Glas Wasser. Und er schrieb, daß er sehr glücklich sei, denn in den Wäldern rings herum seien Dinge, über die nachzudenken man Jahre im Moos liegen könne.

Sonntag, 22. Januar 2012

Kommentar Zu Holz

Es beginnt mit dem elegischen Bild eines Abschieds, einer Trennung, man wird sich nicht wiedersehen. Während sie, völlig mitgenommen, das Schluchzen nur schwer unterbinden kann, scheint er eher ein wenig erleichtert. Dabei ist an seiner Liebe zu ihr nicht zu zweifeln, nur glaubt er, und das wohl zu recht, er könne sie aus der Entfernung besser praktizieren. Gleich im ersten Brief erhöht er sie und erniedrigt sich, ihr Leben ist jung und reich, seins müde, kalt und leer, einsame Spaziergänge durch vier Gassen, das Leben eines langsam Verholzenden. Nur wenige Tage später ist er dann von einem gesellschaftlichen Trubel fortgerissen, den er aber als belanglos darstellt und mit der seltsamen Einschätzung rechtfertigt, er sei zu billigen, da die Zeit vergeht und man die Tage verliert. Auffällig ist vor allem, daß er, seiner brieflichen Darstellung zufolge, in einer Gesellschaft, die Offziere und Berliner als gleichrangige Menschengruppen mischt, unter lauter Männern verkehrt, nicht die geringste Dame ist anwesend, kein Grund zur Eifersucht also für die Empfängerin des Briefes. Der Briefwechsel mit der Unbekannten ist dann aber nicht ins Uferlose gewachsen. Später hat er noch mit zahlreichen anderen Damen Briefe ausgetauscht. Die Briefe an eine gewisse Felicitas Sedlák umfassen im Druck mehr als siebenhundert Seiten. Er war als Dichter berühmt geworden, wenn auch erst nach seinem Tode, und nicht nur jeder Brief, sondern jedes von ihm beschriftete Fetzchen Papier wurde ediert, mit gutem Grund, denn es sind nicht zuletzt die Fetzchen, die uns entzücken.

November 1907
Allmählich zu Holz

Samstag, 21. Januar 2012

Allmählich zu Holz

Aus dem Schattenreich
Als die Stunde des Abschieds gekommen war, hatte er allerlei komische Veranstaltungen zu treffen, damit nicht das Mädchen vor der ganzen Gesellschaft zu schluchzen anfing. Zuletzt ging er mit ihr zur Anlegestelle des Schiffes hinab und sie mit unsicheren Schritten über die kleine Gangway an Bord des Schiffes hinüber. Als er sie zum letzten Mal sah, malte sie mit der linken Hand, die rechte lag ruhig auf der Reling, etwas ungeschickt das Zeichen für Ende in die Luft. Das Dampfboot legte nun ab und schob sich unter mehrmaligem Tuten halb seitwärts in den See hinaus. Sie stand noch immer an der Reling. Kaum daß sie noch zu erkennen war. Schließlich war auch das Schiff fast nicht mehr zu sehen, nur noch die weiße Spur, die es im Wasser hinterließ, das sich nun auch nach und nach beruhigte. Das Ende war es aber noch nicht, denn erst jetzt begann, worauf er sich am besten verstand, viel besser jedenfalls als auf die anwesende Liebe – die mit einer Theorie der Körperlosigkeit zu unterlegen er sich genötigt gesehen hatte: es begann der Austausch von Briefen, so schnell und häufig wie es der Zustelldienst nur erlaubte. Kaum hatte sie ihre glückliche Ankunft daheim angezeigt, antwortete er schon: Was für Geschichten, wie viele Menschen Du kennst und die Spaziergänge und die Pläne. Ich weiß keine Geschichten, sehe keine Menschen, mach täglich Spaziergänge in Eile durch vier Gassen, deren Ecken ich schon abgerundet habe, und über einen Platz, zu Plänen bin ich zu müde. Vielleicht werde ich von den erfrorenen Fingerspitzen aufwärts – ich trage keine Handschuhe – allmählich zu Holz. Nachdem er offenbar umgehend Antwort erhalten hatte, heißt es nur wenige Tage später: Ich bin jetzt ganz plötzlich unter Leute gekommen, Offiziere, Berliner, Franzosen, Maler, Coupletsänger, und die haben mir die paar Abendstunden nun ganz lustig weggenommen, freilich nicht nur die Abendstunden, gestern in der Nacht zum Beispielhabe ich dem Kapellmeister eines Orchesters, für den ich keinen Kreuzer Trinkgeld hatte, statt dessen ein Buch geborgt. Und so ähnlich. Man vergißt dabei, daß die Zeit vergeht und daß man die Tage verliert, darum ist es zu billigen. - Die Korrespondenz ist dann in dieser Weise noch eine ziemliche Zeit fortgeführt worden, bevor alles recht plötzlich das vorhergesagte Ende hatte.

Freitag, 20. Januar 2012

Kommentar Sumpfige Zeit

Es geht um Fragen der Bodenbeschaffenheit und der Beschaffenheit der Zeit. Auf grader und fester Straße bewegt sich das Automobil kaum wahrnehmbar vorwärts, die Zeit ist verschwunden oder eben nur und wohlig spürbar. Im Berufsleben seinerzeit, so erinnert sich der Fahrzeuglenker, zeigte die Zeit ein gänzlich anderes Wesen, einerseits war ihr Gerippe aufgedeckt und alle Wirkung war nur der Uhr zugeschrieben, andererseits bewegte sie sich in sumpfiger Faulheit voran. Assoziativ läßt sich der Erinnernde später von der Faulheit der Zeit zum Faulenzen tragen. Faulenzen konnte im Bureau aber weder er noch die Zeit. Wenig arbeiten während der Bureauzeit ist noch längst kein Faulenzen, Faulenzen ist eine Kunst, die eine von der Uhr befreite Zeit erfordert. Faulenzen erscheint als etwas, was wir heute ein Menschenrecht nennen würden, und mehr noch, es hat eine metaphysische An- und Aussicht: die verfaulenzte Zeit nimmt man mit ins Grab, ja! Gänzlich unberührt von diesen verwirrenden Überlegungen erreicht die Fahrt im Automobil das Meer, im Hafen liegen Segelboote mit schleppendem Takelwerk, vielleicht ist dei Barke des Geacchus darunter. Das Meer ähnelt der endlosen, von allen Fesseln befreiten Zeit, der endlosen Zeit, in der wir verloren sind am Rand der Finsternis. Unser Leben: ein nach Norden hinauf und nach Süden hinunter sich erstreckender Streifen Sand.

Novem. 07
Sumpfige Zeit

Mittwoch, 18. Januar 2012

Sumpfige Zeit


Wir brauchten für die zwanzig Kilometer bis ans Meer hinunter bald eine Stunde, weil er so langsam fuhr, wie ich auf einer freien Stracke noch nie jemanden habe fahren sehen. Er saß schräg hinter dem Steuer, lenkte mit der linken Hand und erzählte Geschichten aus der Vergangenheit. Nur ab und zu vergewisserte er sich durch einen Blick nach vorn, daß wir uns noch auf der richtigen Spur befanden. Schließlich verlangsamte er die Fahrt noch mehr und ließ sein Fenster hinab. Als ich noch im Berufsleben stand, sagte er, habe ich über die Arbeit nicht so geklagt, wie über die Faulheit der sumpfigen Zeit. Die Bureauzeit nämlich läßt sich nicht zerteilen, noch in der letzten halben Stunde spürt man den Druck der acht Stunden wie in der ersten. Es ist oft wie eine Eisenbahnfahrt durch Nacht und Tag, wenn man schließlich, ganz furchtsam geworden, weder an die Arbeit der Maschine des Zugführers, noch an das hügelige oder flache Land mehr denkt, sondern alle Wirkung nur der Uhr zuschreibt, die man immer vor sich in der Handfläche hält. - Im Hafen lagen dicht wie eine wie eine verängstigte Herde aneiandergedrängt Segelboote mit schleppendem Takelwerk. Wir stellten den Wagen ab und gingen miteinander, den scharfen Nordostwind im Rücken, den Strand entlang. In den ersten Wochen, so nahm er seinen Bericht wieder auf, muß ich für den, der dafür empfindlich war, sehr rührend ausgesehen haben. Wie es auch wirklich gewesen ist, ich kam mir deklassiert vor. Leute, die nicht bis zum fünfundzwanzigsten Jahr wenigstens zeitweise gefaulenzt haben, sind sehr zu bedauern, denn davon bin ich überzeugt, das verdiente Geld nimmt man nicht ins Grab mit, aber die verfaulenzte Zeit ja. Jetzt ist mir die Zeit schon wie ein hartes Brett. Er blieb stehen und schaute auf das Meer hinaus. Das ist der Rand der Finsternis, sagte er. Und wirklich schien es, als sei hinter uns das Festland versunken und als rage nichts mehr aus der Wasserwüste heraus außer diesem schmalen, nach Norden hinauf und nach Süden hinunter sich erstreckenden Streifen Sand.

Montag, 16. Januar 2012

Kommentar Lettres

Hier ist jemand ganz am Boden, Zunge und der Gaumen sind trocken, so als läge er seit Tagen schon in der Wüste. Ob er wirklich Briefe erhält, wie er angibt, wenn auch wenige, und ob er sie, wenn er sie denn erhält, nicht öffnet, da kann man sich nicht sicher sein. Jakubs Briefe, von denen dann ausführlich die Rede ist, sind in jedem Fall nur eine Fiktion, ein Gedankenspiel. Es sieht so aus, als solle ein imaginärer Jakub für den schlimmen Zustand des Leidenden verantwortlich oder doch mitverantwortlich gemacht werden. Genaueres Hinsehen führt aber zu einer anderen Einschätzung. Zwar wird Jakub eine zerstörerische Brieftaktik unterstellt, im Ergebnis führt sie aber zu einem Zustand, der erträglicher ist als der, der bereits eingetreten ist. Absicht des Gedankenspiels wäre es also, eine relative Linderung zu erreichen, wenn Genesung schon nicht möglich ist. Das wäre schon das äußerste an Trost, den der imaginäre Jakub ja zugestandenermaßen spenden will. Aber auch der angestrebte geringe Erfolg bleibt fraglich, der kalte Schweiß bricht aus und was er auch anblickt ist verschleiert von einer schwarzen Schraffur.

Sept.07

Lettres dangereuses


Die Vernunft kann nicht an gegen das seit jeher von mir unterdrückte Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins. Inmitten der einfachsten Verrichtungen, beim Schnüren der Schuhbänder, beim Abwaschen des Teegeschirrs oder beim Abwarten auf das Sieden des Wassers überfällt mich diese schreckliche Angst. In kürzerster Frist trocknet die Zunge und der Gaumen mir aus, so als läge ich seit Tagen schon in der Wüste. Briefe erhalte ich kaum und die wenigen öffne ich oft nicht, ich fürchte die Gefahr, eine große Gefahr. Man stelle sich vor, ich bekomme von Jakub, nennen wir ihn Jakub, Brief und Brief und in jedem sucht Jakub meine ohnehin bodenlose Existenz zu widerlegen. Er führt seine Beweise mit guter Steigerung, schwer zugänglichen Beweisen, dunkler Farbe bis zu einer Höhe, daß ich mich fast eingemauert fühle und selbst und ganz besonders die Lücken in den Beweisen mich zum Weinen bringen. Alle Absichten Jakubs sind zuerst verdeckt, er sagt nur, er glaube, ich sei recht unglücklich, er habe diesen Eindruck, im einzelnen wisse er nichts; übrigens tröstet er mich. Allerdings wenn es so wäre, so müsse man sich nicht wundern, denn ich sei ein unzufriedener Mensch, das würden auch Margarethe und Veit, nennen wir sie Margarethe und Veit, wissen. Man könne ja im Grunde einräumen, ich habe Grund zur Unzufriedenheit; man sehe mich an, man sehe meine Verhältnisse an und man wird nicht widersprechen. Wenn man sie aber recht beobachtet, wird man sogar sagen müssen, ich sei nicht unzufrieden genug, denn wenn ich meine Lage so gründlich untersuchen würde, wie Jakub es tut, könnte ich nicht weiterleben. Jetzt tröstet mich Jakub nicht mehr. Und ich sehe, sehe es mit offenen Augen, Jakub ist der beste Mensch und er schreibt mir solche Briefe, was kann er um Gotteswillen anderes wollen, als mich ermorden. Wie gut er in dem letzten Augenblick noch ist, da er, um mich vor meinem Schmerz zu verschonen, sich nicht verraten will, aber vergißt, daß das einmal entzündete Licht wahllos beleuchtet. Ich muß schneller und schneller um Atem ringen, mein Herz beginnt zu flattern und zu klopfen bis unter den Hals, der kalte Schweiß bricht aus am ganzen Leib, sogar auf dem Rücken meiner zitternden Hand, und alles, was ich anblicke ist verschleiert von einer schwarzen Schraffur.

Sonntag, 15. Januar 2012

Kommentar Nachsommer

Bei dem deutschen Buch, das Farrar erwähnt, handelt es sich selbstredend um Stifters Nachsommer, auch wenn Eustach dort nicht der Gärtnerbursche ist. Farrars Urteil über den Roman deckt sich mit dem anderer Kritiker. Der schließlich ellenlange Nachsommer ist aus ursprünglich kurzen Skizzen, nur wenig umfangreicher als diese hier hervorgegangen, und tatsächlich könnte es fast eine der frühen Skizzen sein. Wie Risach schaut Farrar auf eine Beamtenlaufbahn zurück, hat allerdings den Dienst nicht vorzeitig quittiert. Jetzt widmet er sich den Rosen, ähnlich wie Risach, bei dem allerdings noch eine ganze Reihe anderer ähnlich gelagerter und kostspieliger Liebhabereien hinzukommen wie Bilder- und Skulpturensammlungen, Kunstschreinerei, Auslegen großer Flächen mit Marmorstein &c. Farrars Jugend ist wohl ein wenig munterer verlaufen, von Zuckerrohrfeldern und mohammedanischen Friedhöfen hat Risach nicht geträumt, ein Gedränge freier Stunden nicht gekannt, und auf keinen Fall wäre es ihm in den Sinn gekommen, vom Bureau aus amouröse Texte zu versenden. 
 08.10.07

Samstag, 14. Januar 2012

Nachsommer

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Da in diesem Land die Richter in aller Regel bis ins fortgeschrittene Alter im Amt bleiben, war Dr. Farrar eben erst in den Ruhestand eingetreten, als er das Haus in unserer Nachbarschaft erwarb, um sich dort ganz der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Der Garten, den Farrar um diese von ihm in Dutzenden von Variationen gehegten Blumen herum zusammen mit einem tagtäglich ihm zur Hand gehenden Gehilfen namens Eustace im Verlauf eines Jahrzehnts anlegte, gehörte zu den schönsten in der ganzen Gegend. Selbst die unverdrossen tatkräftigen, ihm im Wesen weitgehend fremden Deutschen hätten ein herbstliches, von den Rosen beherrschtes Buch, sagte er mir einmal, er habe es in seiner Jugend gelesen, ein schwer erträgliches Werk von eigenartiger Schönheit, wie es ihm in der Erinnerung scheine. Auf Wunsch seines Vaters habe er seinerzeit in Prag und Bologna Rechtswissenschaft studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen bekannte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Begonnen habe seine sogenannte berufliche Karriere auf einem Juristenposten, mit winzigen 80 Scudi Gehalt und unermeßlichen acht bis neun Arbeitsstunden bei der Assicurazioni Generali. Die Stunden außerhalb des Bureaus habe er in dieser Zeit wie ein wildes Tier gefressen. Da er es gar nicht gewohnt gewesen sei, sein Tagesleben auf sechs Stunden einzuschränken und außerdem noch Russisch gelernt und die Abende der schönen Tage am liebsten im Freien verbracht habe, sei er aus dem Gedränge der freien Stunden wenig erholt herausgekommen. Im Bureau habe er immerhin die Hoffnung gehabt, auf den Sesseln sehr entfernter Länder einmal zu sitzen und aus den Bureaufenstern Zuckerrohrfelder oder mohammedanische Friedhöfe zu sehen. Das Versicherungswesen selbst habe ihn sogar interessiert, die Arbeit aber sei sehr traurig gewesen. Das sei nun alles vorbei und auch das rastlose Schreiben von Briefen an junge schöne Demoisellen, vor, während und nach der Arbeitszeit, habe naturgemäß längst ein Ende gefunden.

Kommentar Flintenkugeln

Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen, wer sich für eine Flintenkugel hält, den wird sie ereilen. Beides ist nur bedingt richtig, das letztere eigentlich gar nicht, hier aber tritt es ein. Wem es bei dem Probeschuß zum Fenster hinaus vielleicht schon ein wenig bedenklich wurde, sah sich durch den Einblick in ein kompliziertes Gedankenleben eher beruhigt. Angesichts der Verknäuelnung von Entschlüssen einer- und Folgen andererseits und der daraus resultierenden Gesamtverknäuelung von Entschlüssen und Folgen war er mit der Augknüpfung der Fäden auch zu beschäftigt, um Sorgen nachzuhängen. Die Erwähnung der Flintenkugel und dann der Hinweis auf fehlende Geselligkeit und Zerstreuung, auf Einsamkeit und Apathie hätte ihn wieder hellhörig machen können. Aber erst der zweite Schuß öffnet die Augen. 
29.08.07

Freitag, 13. Januar 2012

Flintenkugeln

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Er hielt sich, solange es das Wetter erlaubte, im Freien auf, viel auch in einer aus Feuerstein gemauerten, in einer entfernten Ecke des Gartens gelegenen kleinen Einsiedelei, der von ihm so genannten Folly, in der er sich mit dem nötigsten eingerichtet hatte. Eines Morgens stand er allerdings an einem heruntergelassenen Fenster eines seiner Zimmer auf der Westseite des Hauses. Er hatte eine Brille auf, trug einen großkarierten schottischen Schlafrock und einen weißen Foulard und war eben im Begriff, aus einem Gewehr mit einem ungeheuer langen, doppelten Lauf einen Schuß in die blaue Luft hinein abzugeben. Als der Schuß, nach einer Ewigkeit endlich fiel erschütterte der Knall die ganze Umgebung. Er trage von dem einen festen Entschluß seine Kopfschmerzen zum andern, ebenso festen, aber entgegengesetzten, führte er wie zur Erläuterung aus. Und alle diese Entschlüsse belebten sich, bekämen Ausbrüche der Hoffnung und eines zufriedenen Lebens, diese Verwirrung der Folgen sei noch ärger als die Verwirrung der Entschlüsse. Wie Flintenkugeln fliege er aus einem ins andere und die versammelte Aufregung, die in seinem Kampf Soldaten, Zuschauer, Flintenkugeln und Generäle unter einander verteilten, bringe ihm allein ins Zittern. Übrigens habe er keine Geselligkeit, keine Zerstreuung; die Abende über sei er im kleinen Balkon über dem Fluß, er lese nicht einmal die Zeitung. Wenige Wochen darauf, im Spätsommer, nahm er sich mit einer Kugel aus seinem schweren Jagdgewehr das Leben. Er hatte sich auf den Rand seines Bettes gesetzt, das Gewehr zwischen die Beine gestellt, die Kinnlade auf die Mündung de Laufs gelegt und dann, zu erstenmal, seit er dieses Gewehr vor der Ausfahrt nach Indien gekauft hatte, mit tödlicher Absicht einen Schuß ausgelöst.

Donnerstag, 12. Januar 2012

Kommentar Sommerende

Wieso der ebenso kurze wie wenig aufschlußreiche Wortwechsel vom Balkon herab einen Beleg für ein gefestigtes Wesen der Gesprächsteilnehmer ergeben soll, versteht niemand. Offenbar ist es nur ein weiterer Tropfen in ein seit langem schon sich füllendes Faß der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Der Erzähler gibt  eine Reihe von Beispielen für sein eigenes unstetes Wesen den Sommer über, freudig erregt, wenn es bewölkt ist, dann wieder wehmütig und so dumm, daß er auf Feldwegen stolpert. Weniger als nach der Mutter sei er wohl nach der Tante Mathild geschlagen, scheint es ihm. Er kennt die Tante persönlich aber kaum, hat von ihr nur gehört. Auch sind ihm die bei ihr auftretenden heftigen ideologischen Ausschläge - erst Nonne, dann Revolutionärin - fremd. Wenn aber die Mutter sie seit der Rückkehr nach dem wilden Sommer als hinterfür einschätzt, meint sie im gleichen Atemzug wohl auch ihn. Daß der Vater, von dem wir an dieser Stelle nicht hören, so denkt, steht ohnehin außer Frage. 
 

Sommers Ende


Als ich nach einem kurzen Mittagsschlaf die Augen öffnete, meines Lebens noch nicht ganz sicher, hörte ich meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: Was machen Sie? Eine Frau antwortete: Ich jause im Grünen. Da staunte ich über die Festigkeit , mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen. Vielleicht schlage ich, so sage ich mir öfters, mehr nach der Tante Mathild als nach meiner Mutter. An einem anderen Tag freute ich mich mit einem gespannten Schmerz über die Erregung eines Tages, der bewölkt war. Dann war eine verblasene Woche oder zwei oder noch mehr. Dann war ich wehmütig und sehr dumm, so daß ich stolperte auf den Feldwegen, die hier sehr steigend sind. Und dann und dann war der Sommer zu Ende und ich fand, daß es kühl wurde. Was die Mathild anbelangt, so hat sie, genau wie ich, immer als eine überspannte Person gegolten, vielleicht hat ihr die Mutter insgeheim eine Schuld an meinem ihr letztlich unverständlichen Wesen zuerkannt. Unmittelbar vor dem Krieg war die Mathild, so wurde erzählt, in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen, im einzelnen nicht näher bekannten Umständen wieder verlassen und einige Monate lang in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie am Ende des Sommers in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Hause zurückgekehrt ist. Die Mutter hat aus ihrer Abneigung gegen die Mathild nie ein Hehl gemacht und sich über sie dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür wieder heimgekommen sei. Gelegentlich, wenn sie besonders schlecht aufgelegt war, hat sie die Mathild auch eine rote Betschwester geheißen. Etwas dahingehend Vergleichbares kann man mir nun allerdings nicht vorwerfen.

Mittwoch, 11. Januar 2012

Kommentar Maulwurf

Ein Bewohner der Küstengegend oder ein Urlauber am Meeresufer, nennen wir ihn Selysses, will nichts anderes als, begleitet von der stummen Kreatur, sich in die Weite verlieren und der vergehenden und der vergangenen Zeit lauschen. Weil aber keiner von uns wirklich still nur für sich sein kann, ist er nur erfreut über das kleine Drama, dessen Zeuge er auf dem Heimweg wird. Er wähnt sich als Zuschauer einer harmlosen Vorführung, was der Hund denkt, weiß man nicht, der Maulwurf jedenfalls sieht sich nicht als Schauspieler, er bangt auf dem für ihn ungünstigen Untergrund um sein wirkliches und einziges Leben, ks, kss, so schreit er. Selysses wird schlagartig klar, daß er nicht im Theater ist und setzt an, seine Gemütslage in offenen Worten zu schildern: Da kam es mir vor -, bricht dann aber ab. Ist das Gefühl der Schuld zu groß, um es in Worte zu fassen? Wäre er doch noch eine Weile sitzen geblieben auf der Bank. Am nächsten Tag aber hält er seinen Kopf wieder hübsch aufrecht. 
28.08.04

Montag, 9. Januar 2012

Maulwurf in Not

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Eines Abends bin ich mit dem kleinen Hund auf die lange Fußbrücke hinausgegangen, die, neben der Eisenbahnlinie herlaufend, die die an dieser Stelle mehr als eine Meile breite Mündung des Flusses überquert. Man kann dort, gegen die Entrichtung eines Zolls in Höhe eines Pfennigbetrags, auf einer der von drei Seiten gegen Wind und Wetter geschützten kabinenartigen Rastbänke sitzen, mit dem Rücken zum Land und die Augen hinausgerichtet auf das Meer. Es war das Ende eines schönen Nachsommertags, die frische Salzluft umwehte uns, und die Flut strömte im Abendlicht gleißend wie in dichtgedrängter Schwarm von Makrelen unter der Brücke hindurch und flußaufwärts mit solcher Kraft und Geschwindigkeit, daß man, umgekehrt, glauben konnte, man treibe nun in einem Boot hinaus in die offene See. Still saßen wir, der Hund und ich, beisammen, bis die Sonne sich anschickte unterzugehen. Auf dem Rückweg dann ertappte der Hund einen Maulwurf, der über den asphaltierten Weg laufen wollte. Er sprang immer wieder auf ihn und ließ ihn dann wieder los, denn er ist nicht nur klein, sondern auch furchtsam. Zuerst belustigte es mich und die Aufregung des Maulwurfs besonders war mir angenehm, der geradezu verzweifelt und umsonst im harten Boden des Weges ein Loch suchte. Plötzlich aber als der Hund ihn wieder mit seiner gestreckten Pfote schlug, schrie er auf. Ks, kss, so schrie er. Da kam es mir vor – nein, es kam mir nichts vor. Es täuschte mich bloß so, weil mir an Tag der Kopf so schwer herunterhing, daß ich am Abend zu meiner Verwunderung merkte, daß mir das Kinn in meine Brust hineingewachsen war. Aber am nächsten Tag hielt ich meinen Kopf wieder hübsch aufrecht.

Sonntag, 8. Januar 2012

Las einst Stifter


Ich war sehr traurig

Wer den Nachsommer ein erstes Mal liest, sieht sich ins Paradies versetzt, das war wohl die Absicht des Autors. Bei der zweiten Lektüre fragt man sich, ob es nicht eher die Hölle ist und hat jedenfalls keinen Zweifel, daß sich der Zorn der 68er Rebellen ganz ausdrücklich und nicht ohne Grund gegen dieses Buch gerichtet hat. Bei einer dritten Lektüre stellt man sich zur Abwechslung vor, das Buch sei von einem Autor unserer Tage verfaßt und hat dann für Augenblicke das Gefühl eines seltsamen Avantgardismus, in dem man kaum Fuß fassen kann.

Selysses liest Stifter nicht, Stifter kommt in Sebalds erzählerischem Werk nicht vor und er wurde auch nicht ins Landhaus eingeladen. Die Einschätzung seiner eigenen Prosa als altväterlich und stifternah hat Sebald, bei zugestandener und betonter Nähe zur süddeutschen Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts, eher amüsiert als geärgert, und in der Tat, in Sebald einen Epigonen Stifters zu sehen, ist ein Urteil aus dem Reich der Blinden und Tauben. Der Literaturwissenschaftler Sebald hat zwei Aufsätze zu Stifter veröffentlicht, die spürbar anders und weniger verwandtschaftlich ausfallen als die zu Keller, Hebel oder Robert Walser. Er schätzt Stifter deswegen nicht gering, wenn er sich selbst vor die Wahl zwischen Storm und Stifter stellt, gibt er Stifter den Vorzug. Wie andere auch mag er den Nachsommer als ein schwer erträgliches Werk von eigenartiger Schönheit angesehen haben.

Reger in Thomas Bernhards Alten Meistern hält nur noch ausgesprochen wenig von Stifter, den er einmal geliebt hat: Stifters Prosa ist alles andere als gestochen und sie ist die unklarste, die ich kenne, sie ist vollgestopft mit schiefen Bildern und falschen und verqueren Gedanken. Stifter ist auf den längsten Strecken seiner Prosa ein unerträglicher Schwätzer, er hat einen stümperhaften und, was das Verwerflichste ist, schlampigen Stil, der noch dazu grammatikalisch unter aller Kritik ist, und er ist tatsächlich außerdem auch noch der langweiligste und verlogenste Autor, den es in der deutschen Literatur gibt. - Es gibt keinen Beleg dafür, daß Bernhard die Einschätzung seines Helden teilt, offenbar aber verleiht er ihr mit einigem Genuß Sprache. Richtig ist in jedem Fall, daß Stifter immer wieder mit grammatikalischen und syntaktischen Wendungen überrascht, die auf einem alten, inzwischen verschollenen Regelwerk fußen müssen.

Wie dem auch sei, nicht nur in den Alten Meistern, sondern auch im Nachsommer geht es in nicht unerheblichem Maße um die alten Meister und um die Frage der Perfektion in der Kunst und, bei Stifter, auch im Leben. Noch in jedem dieser Meisterwerke, so Reger, habe er einen gravierenden Fehler, habe er das Scheitern seines Schöpfers gefunden und aufgedeckt. Adorno spricht wohl auf eine ganz ähnliche Erfahrung an, wenn er im Feuerwerk die perfekteste Form aller Künste sieht, da sie sich das Bild im Moment seiner Vollendung dem Betrachter wieder entzieht: nur was sich durch sofortiges Verschwinden der Probe aufs Exempel entzieht, kann Perfektion behaupten. Stifter aber zielt auf Perfektion in Ewigkeit.


Er benötigt dafür eine extrem auf- und ausgeräumte Welt, die erstarrt in ihrer Ordnung. Bücher stehen in Schränken hinter Glastüren, einzelne können für den Leseakt entnommen werden und sind dann zurückzustellen, auf den Tischen können sie nicht verbleiben. Die Bilder sind in einem Bilderzimmer gesammelt, Drucke und Stiche liegen in Mappen unter Verschluß. Über die Frage, ob ein Haus besser getüncht oder ungetüncht dasteht, vergehen nicht wenige Seiten. Im Garten findet sich kein kranker Ast, kein welkes Blatt. Eine sinnreich eingewöhnte Vogelwelt hält Raupen und Insekten in Schach, ein Blatt, das dennoch Schwäche zeigt, wird umgehend gerupft. Es fehlen Gartenschädlinge wie Spring- und Wühlmäuse, denen die Singvögel nicht gewachsen sind. Die Baumstämme werden im Frühjahr gewaschen und danken es durch gesteigerte Lebenskraft. Die Domestizierung der Natur stößt, das ist zugestanden, an ihre Grenzen, im Gebirge und im Gestein versiegen die Möglichkeiten des Menschen in Raum und Zeit. Eie erste Antwort liegt im Wechsel der inneren Gestimmtheit: solche Fragen stimmten ernst und feierlich.

Der Stil entspricht der dargestellten Welt in ihrem aufgeräumten Zustand. Die leichtgebauten Sätzen bewegen sich von einem Dingabstraktum zum nächsten: Gegenstände, Geräte, Seltenheiten, Kostbarkeiten, Schnitzarbeiten, - selten wird etwas in seiner individuellen Dinglichkeit gewürdigt. Das Leben der Protagonisten scheint wie ein bloßes Wandeln zwischen den Kostbarkeiten, mal die Bibliothek, mal das Bilderzimmer, mal das Altertumszimmer, mal die Marmorgestalt, mal die Kunstschreinerei, dann in den Garten, und, voller Abenteuerlust, darüber hinaus: Sie ging nicht bloß bei dem großen Kirschbaume öfter in das Freie, und ging dort zwischen den Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu der Straße. Ein der Zahl nach schwer überschaubares dienendes Personal ist derweil beschäftigt, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Einem insgeheim aufkommenden Überdruß an der eintönigen Lebensweise wird jederzeit ein Ortswechsel Herr, von der elterlichen Stadtwohnung ins Rosenhaus, von dort ins Sternenhaus und zurück, dazwischen Aufenthaltsorte minderer Bedeutung. Zwischen Verlobung und Hochzeit schiebt Heinrich vorsorglich noch eine zweijährige Europareise ein, so als habe nicht alles schon lange genug gedauert. Gesellschaftliche Realität ist weitestgehend ausgeschlossen, auch die psychologische bis hin zu den üblichen Gemütsregungen. Man zuckt zusammen, als es an einer Stelle unvermittelt heißt: Ich war sehr traurig.


Selbstredend ist jeder Dichter hinsichtlich des von ihm behandelten Weltausschnittes hochselektiv, gerade bei Sebald aber hat man in besonderem Maße das Gefühl, er könne den Ausschnitt, wenn er nur wollte, beliebig erweitern, seinen unmittelbar in Sätze sich umformenden Blick auf jeden beliebigen Gegenstand richten. Stifter dagegen ist essentiell auf die getroffene Auswahl angewiesen, jedes zusätzlich eindringende Element könnte alles zerreißen. Auf der Handlungsebene geht es um wenig anderes als darum, das zu einem fragilen Kunstwerk umgestaltete Leben nicht nur unbeschadet, sondern auch ohne jede Änderung von der einen an die nächste Generation zu übergeben. Der unvermeidliche Wandel verharrt nach Möglichkeit unter einer unberührten Decke: das Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist, möge nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störungen sich einbürgern. Der Generationswechsel ist keine Angelegenheit von Tagen, Wochen, Monaten oder auch Jahren, wie auf niedrigeren Stufen der Evolution wird auf dieser für die höchstmögliche gehaltenen, das ganze Leben zum Dienst an der Reproduktion, nicht der biologischen, wohl aber der kulturellen. Die ältere Generation kann im wesentlichen nur geduldig zuwarten, ist allerdings, sobald sich Gelegenheit ergibt, jederzeit auch zu ausufernden unterrichtenden Litaneien bereit, die begierig aufgesogen werden. Der Generationenwechsel hat alle Anzeichen einer säkularen Himmelfahrt der Jungen, bei der das Wundersame durch quälende Langsamkeit ersetzt ist. Als der junge Heinrich eine Theatervorstellung des König Lear besucht, macht man sich um ihn ernste Sorgen, wie nur soll er das auf der Bühne gezeigte mehr als schnöde Verhalten der Jungen den Alten gegenüber verkraften, das sein Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigen muß.
Die da oben warten, daß die Jungen zu ihnen aufrücken und sie abtreten können, haben, in deutlicher Ansprache ihrer Gottgleichheit: ihresgleichen nicht auf Erden. Aber auch vom göttlichen Generationenwechsel kann niemand behaupten, er sei glatt vonstatten gegangen. Unter den Gemälden Stifters findet sich neben zahlreichen Fels- und Waldstücken eine, offenbar einem älteren Gemälde nachempfundene Kreuzesabnahme. Der festgehaltene Augenblick ist nicht der der Himmelfahrt, aber der, an dem der geringe menschliche Beitrag an ihr einsetzt, nachdem der Tod am Kreuz schon alles zerstört zu haben schien. Auch der Freiherr von Risach selbst ist Exempel einer gescheiterten Stabübergabe zwischen den Generationen, erst ein später Sommer im Licht der geglückten Verbindung von Heinrich und Nathalie, beide nicht zuletzt von ihm bestens herangebildet, ist ihm gegönnt.Naturgemäß ist die Liebe zwischen Risach und Mathilde in dieser späten Phase zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an sich.

Eine Welt, in der die Menschen den Gegenständen dienen, in der jeder nicht sorgfältigst geprüfte Fortschritt unerwünscht ist und alles Betreiben nur dazu dient, das Erreichte unbeschädigt weiterzureichen: da mußte es notgedrungen zum 68er Aufstand kommen. Der Aufstand hat sein Ziel erreicht, der Mensch unserer Tage steht, wie er wollte und glaubt, inmitten von allem, und die Welt gruppiert sich als die fortwährend wachsende Menge der möglichen Konsumgüter um ihn. Dagegen, um auf die besondere Maßnahme der dritten Lektüre zurückzukommen, kann sich avangardistische Kunst richten. Stifter litt an einem krankhaften Konsumismus in Form einer zügellosen Freßsucht, und es fällt schwer, sein Bild einer nicht dem Konsum preisgegebenen, einer nicht nur zu respektierenden, sondern zu verehrenden Welt, mit den menschgemachten schönen Gegenständen, den Kunstwerken zumal als Gefäßen der Weltverehrung, nicht als Gegenbild und Genesungssehnsucht anzusehen. Im Nachsommer sind die Mahlzeiten nach einer ehernen Regel angesetzt, undenkbar daß eine auch nur um eine Viertelstunde verschoben oder gar ausgelassen wird. Der Schrecken des Hungers ist damit gebannt, mehr Worte werden über das Essen nicht verloren, nur daß es in jedem Fall und immer sehr einfach ist.

Die verhandelte Frage, ob Gott lache, hat das Mittelalter dahingehend beschieden, daß er nicht lacht. Auch in Stifters säkularem Paradies wird nicht gelacht, Spuren von Humor sind, sofern vorhanden, zur Unkenntlichkeit gering. Sebalds Sätze sind immer von einem in seinen Bedeutungen ständig changierendem Lächeln getragen, nicht zuletzt bei den wenigen Essensszenen, wenn Selysses im Bahnhofsbistro zu Venedig um seinen Capuccino kämpft, auf Reisen ein geeignetes Lokal für die Abendmahlzeit sucht oder in Lowestoft die Gabel an einem panierten Fisch verbiegt. Sein Erleben einer sich verkonsumierenden, kombustierenden Welt geht offenbar nicht kontrastiv auf eine übermäßige Essensneigung zurück. Wenn er der Sehnsucht nach einer ausgewogenen Welt nachgibt, ist er weniger an Stifters mit allen Merkmalen des Zwanghaften ausgestatteten Version orientiert als an Hebels Welt, in der alles zum Besten geordnet scheint dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegengehalten werden, in denen das ausgestandene Unglück entgolten wird, wo auf jeden Feldzug ein Friedenschluß folgt, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, eine Lösung hat, und selbst die kuriosesten Kreaturen wie die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der auf das sorgfältigste austarierten Ordnung.

Samstag, 7. Januar 2012

Allem Lebendigen zugetan

Margarethe mit dem Wurm

Sebald wußte, wie man ihn aufgrund seiner Literatur einschätzte in der relativ kurzen Zeit seines Lebens, in der er eine Person des öffentlichen Lebens mit Berühmtheitswert war. Das Publikum glaube auf seiner Hemdbrust eine geheime Aufschrift entziffern zu können: Suizident. Zu Gottfried Keller aber schreibt er: Seine Prosa, die bedingungslos allem Lebendigen zugetan ist, erreicht ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten heruntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes. – Nicht die letzten Überlegungen eines Suizidenten, möchte man meinen, nicht die Gedanken eines Untröstlichen, wie es leicht mokant bei Sebald gern heißt, sicher auch nicht die Auslassungen eines Spaßvogels.

Sebald hat sich ausdrücklich zur Weiterführung der Tradition der älteren alemannischen Erzähler und Dichter, vornehmlich Hebel, Keller, Robert Walser bekannt, hat sie ins Landhaus eingeladen, dort vor den Spiegel gestellt und dabei auch immer selbst herausgeschaut. Wenn er bei Gottfried Keller Lebenszugewandtheit feststellt, wird er nicht von etwas ihm selbst völlig Unbekannten sprechen. Was ist gemeint mit allem Lebendigen zugetan und wie kann es sich äußern in einem Sprachkunstwerk.

Psychologisch bedarf eine dem Lebendigen zugetane Stimmung wohl einer in der Kindheit gewonnenen Grunddisposition. Die begleitende Literatur greift aus Sebalds Kindheit vor allem das getrübte Verhältnis zu den Eltern und insbesondere zum Vater auf und spinnt von daher einen Faden zur Behandlung von Holocaust und Luftkrieg in seiner Literatur. In der Tat hat Sebald seine Kindheitserinnerungen nicht unter den Titel La gloire de mon père gebracht, das Elternpaar tritt in der Prosa nur einmal auf, in den Schwindel.Gefühlen und das gleichsam versteckt hinter der standesgemäßen Einrichtung des Wohnzimmers, die akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierenden klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach. Dies und anderes kann aber die Liebe nicht verdecken, mit der er eben in den Schwindel.Gefühlen oder auch in den Moments musicaux oder auch zu Beginn von Ambros Adelwarth von seiner Kindheit erzählt. Die Liebe gilt nicht zuletzt den einfachen Leuten, wie sie dann auch Austerlitz in seiner Prager sowohl wie in seiner Waliser begleiten. Die in Gesprächen immer wieder auftretende Bild-, Ton-, Kunst- und generelle Eindrucksarmut seiner Kindheit im abgelegenen Allgäuer Winkel ist nicht etwa Beschwerde, sondern durchaus beifällige Offenlegung des Ursprungsortes seines Lebens und seiner Kunst. Auch darin schließ er an Keller an: Durch den Tod des Vaters früh mit dem Mangel vertraut, wird die winzige, im Grunde bloß noch aus Sparsamkeit bestehende Hauswirtschaft der Mutter Keller in der Rückschau zum Sinnbild einer so gut wie restlos reduzierten Existenz: Am Abend nach meiner Abreise hatte meine Mutter sogleich die Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt, von nichts zu leben. Sie erfand ein eigentümliches Gericht, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den anderen um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches gleichermaßen von nichts brannte. Seine eigene Literatur hat Sebald im Gespräch ausdrücklich als eine Literatur der Armut eingeordnet. Für den Leser hält sie ungeahnten Reichtum bereit.
Armut, das Verfügen über Weniges bedeutet Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Ruhe im Umgang mit diesem wenigen, erfordert gediegenes Handwerk. So gut wie nie verfällt Sebalds Prosa in Hast. Der immer aufmerksame und sorgfältige Blick ist nicht nur dem Lebendigen zugetan, sondern erweckt auch die umgebende Welt zum Leben. Nie ist dieser Blick nur einfach protokollierend, immer aufnehmend, meistens annehmend, auch noch in den belanglosesten Dingen. Man setzt sich nicht einfach auf eine Bank an der See, sondern kann dort auf einer der von drei Seiten gegen Wind und Wetter geschützten kabinenartigen Rastbänke sitzen, mit dem Rücken zum Land und die Augen hinausgerichtet auf das Meer – das Möbelstück steht einladend, geradezu verlockend vor uns. In dieser gleichmäßig sorgsamen Behandlung von Bedeutendem und Geringem gewinnt die Selbstspiegelung in Keller Anschluß an die in Pisanello, bei dem allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird.

Allem Lebendigen zugetan bedeutet nicht, ausschließlich oder vorzüglich den Menschen zugetan. Bei nüchterner Betrachtung, so Sebald wiederum im Gespräch, hat der Mensch keinerlei Vorrang gegenüber seinen Mitgeschöpfen. Tiere führen in den Texten ein eigenes und bedeutsames Leben. Federtiere, Hühner, die hinauslaufen auf ein regennasses Feld, ein Entenpaar, im Schutze einer der herabhängenden Zweige einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers verschaffen metaphysische Augenblicke. Die Heringe haben ihr eigenes Auschwitz, ihr Schicksal ist Teil der Weltklage: Güterwagen der Eisenbahn nehmen den ruhelosen Wanderer des Meeres auf, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird. Die Falter verheißen mit ihren bloßen Namen eine dem Wahnsinn nahe Pracht: Porzellan- und Pergamentspinner, spanische Fahnen und schwarze Ordensbänder, Messing- und Ypsiloneulen, Wolfsmilch- und Fledermausschwärmer, Jungfernkinder und alte Damen, Totenköpfe und Geistermotten. Auch die Pflanzenwelt ist reichlich bedacht, wir hören Preislieder auf die Wälder und Klagelieder über ihre Vernichtung.

Wer sich in Fauna und Flora und insbesondere die Einzelheiten des biologischen Parasitismus vertieft, steht bald vor der Unmöglichkeit, allem Lebendigen zugetan zu sein. Über das parasitäre Brutverhalten des pfiffigen Kuckucks mag man schmunzeln, bei der Lebensgestaltung  parasitärer Wurmarten hat es seine Grenze, man muß sich entscheiden und kaum jemand wird sich auf die Seite der Würmer schlagen. Sowohl Margarethe mit dem Wurm als auch dem heiligen Georg liegt das geringelte Tier unter dem beifälligen Blick des Dichters tot zu Füßen. Die chinesische Kaiserin mag in den Seidenwürmern die besseren Untertanen, gleichsam die besseren Menschen sehen, aber auch die pessimistischste Geschichtssicht kann sich von der schlimmen Despotin nur in den schwärzesten Augenblicken verleiten lassen.

Die Feststellung, Kellers Prosa sei allem Lebendigen zugetan, ist nicht bündig abgeschlossen, sondern eingebettet in eine Satzfolge, in der weitaus mehr von Schatten, Erlöschen des Lichts und Tod die Rede ist. Dabei lebte Keller zu einer Zeit, als alles noch hätte anders kommen können, als es dann kam. Inzwischen haben sich alle Türen besserer Möglichkeit geschlossen, die Schatten sind noch weit länger geworden. Das Wort vom nicht abgeschlossenen Projekt Moderne würde Sebald nicht unterzeichnen, ihm gilt das Projekt als fehlgeleitet und gescheitert. Aus korrigierender Anklage ist umfassende und ziellose Klage geworden. Die Gegenwart erscheint als eine Kultur des Todes, gerade auch, weil sie den Tod mit billigen Tricks und naturgemäß ohne jeden Erfolg vergessen machen und eine reine Gegenwart ohne Beginn und Ende sein will und die Ränder der Ewigkeit dafür abschneidet. Schon im Prosaerstling Schwindel.Gefühle hatte Sebald, nicht ohne ein Lächeln, das Weltende auf das Jahr 2013 festgesetzt. Das hinderte ihn nicht, zurückzukehren ins Landhaus als einer des allem Lebendigen zugetanen alemannischen Freundeskreises.

Freitag, 6. Januar 2012

Kommentar Frühsommerfahrten

Der Frühsommer ist eine gute Zeit, um mit der Eisenbahn hinauszufahren in abgelegene naturnahe Gegenden. Es sind Zwei, so nehmen wir an, ein Paar, eine Freundes- oder ein Liebespaar, die hier, wohl nicht zum ersten Mal, den Windungen des Flußlaufs folgen, aber es ist nur einer, der spricht. Alles Augenmerk ist von der Außenwelt gefangen, den silbrig wogenden Weiden, den dunkleren Erlengehölze, den dahinter aufsteigenden Schafweiden. Vielleicht sind es die draußen vorbeifliegenden Dampffetzen, eher aber noch die durch das geöffnete Abteilfenster wehende Luft, die die Aufmerksamkeit nach innen lenken, genau weiß man es nicht. Die Selbsterforschung bleibt aber durchaus spielerisch, so wie man im Spiel einem kleinen Kind vorgaukelt, es sei zu schnell um gefangen zu werden. Dann läßt man es auch schon gut sein und streckt wie der Maulwurf die mitleiderregenden Füßchen empor. 

28.08.04

Donnerstag, 5. Januar 2012

Frühsommerfahrten


Schon zu Beginn des Sommers, wenn wir mit der kleinen Dampfbahn westwärts das Tal hinauffuhren, merkte ich, wie mir das Herz aufzugehen begann. Schleife um Schleife folgte unser Zug den Windungen des Flußlaufs, durch das offene Waggonfenster schauten die grünen Wiesen herein, die steingrauen und die geweißelten Häuser, die glänzenden Schieferdächer, die silbrig wogenden Weiden, die dunkleren Erlengehölze, die dahinter aufsteigenden Schafweiden und die höheren, manchmal ganz blauen Berge und der Himmel darüber mit den immer von Westen nach Osten ziehenden Wolken. Dampffetzen flogen draußen vorbei, man hörte die Lokomotive pfeifen und spürte den Fahrtwind kühl an der Stirn. Wir wurden förmlich von der wehenden Luft nach ihrem Belieben getragen und es mußte nicht ohne Scherzhaftigkeit sein, wenn wir uns im Luftzug an die Stirn griffen oder uns durch das gesprochene Wort zu beruhigen suchten, die dünnen Fingerspitzen an die Kniee gepreßt. Während wir sonst bis zu einem gewissen Maße höflich genug sind, von einer Klarheit über uns nichts wissen zu wollen, geschah es jetzt, daß wir sie mit einer gewissen Schwäche suchten, freilich in der Weise, mit der wir im Spaß so tun, als wollten wir mit Anstrengung kleine Kinder fangen, die langsam vor uns trippeln. Wir durchwühlten uns wie ein Maulwurf und kamen ganz geschwärzt und sammethaarig aus unseren verschütteten Sandgewölben, unsere armen roten Füßchen für zartes Mitleid emporgestreckt.

Mittwoch, 4. Januar 2012

Kommentar Sommerzeit

Es scheint sich um den Bericht über ein sich vom Früh- bis zum Spätsommer erstreckenden Aufstehen zu handeln, daß naturgemäß den rechten Augenblick verpaßt. Als der Berichterstatter endlich das Bett verlassen hat, kann er sich, nicht zuletzt wohl wegen Muskelschwunds, nur noch mühsam an der Fensterbrüstung emporziehen. Das Erwachen und die erste Zeit danach sind voller Munterkeit und Tatenkraft, aber dann verzettelt er sich auch schon. Die verheißene Lustigkeit hat man sich anders vorgestellt. Schon das Eindringen von orientalisch Merkwürdigem in der Erwartungshorizont verheißt nicht unbedingt Gutes, und bei als baumelnd eingestufter Rede verwundert es nicht, wenn bei ohnehin schon fortgeschrittenem Vormittag auch gleich an den Abend gedacht wird, und unversehens ist der erste Tag verstrichen. Die Hand sinkt und die Tage vergehen, als hätten wir es mit Oblomow zu tun. Diese offensichtliche und geradezu klassische Schuld des Verliegens wurde bislang verschwiegen, es hieß nur bündig: Als er eines Morgens zur Zeit der Hundstage aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. 
28.08.04 
Sommerzeit