Aus dem Schattenreich
Kommentar
Heute erster Gang durch die Stadt und in die Vororte hinaus. Im großen und ganzen furchtbarer Eindruck. Andenken- und Devotionalienhändler in beinahe jedem Haus. Sie hocken im Dunkel ihrer Läden zwischen hunderterlei Schnitzwerk aus Olivenholz und perlmutterverzierten Kram. Ab Ende des Monats werden die Gläubigen einkaufen kommen, scharenweise, zehn- oder fünfzehntausend christliche Pilger aus aller Welt. Die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit. Im den Straßen große Mengen vom Umrat. On marche sur des merdes! Knöcheltief mancherorts der pudrige Kalkstaub. Die wenigen Pflanzen nach der seit Mai andauernden Dürre von diesem Steinmehl überzogen wie von einer bösen Krankheit. Une malédiction semble planer sur la ville. Kein Anzeichen von irgendeiner Betriebsamkeit oder Industrie. Nur an einer Unschlitt- und Seifenfabrik und einem Knochen- und Häutelager kommen wir vorbei. Daneben auf einem weiten Karree der Schindanger der Abdeckerei. In der Mitte ein großes Loch. Geronnenes Blut, Haufen von Eingeweiden, schwärzlich braunes Gekröse, an der Sonne vertrocknet und verbrannt. Sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nach Norden liegen die russische Kathedrale, das russische Männer- und Frauenhospiz, das französische Hospital de St. Louis, das jüdische Blindenheim, die Kirche und das Hospiz des hl. Augustinus, die deutsche Schule, das deutsche Waisenhaus, das deutsche Taubstummenasyl, the School of the London Mission of the Jews, die Abessinische Kirche, the Anglican Church, College and Bishop’s House, das Dominikanerkloster, das Seminar und Kirche St. Stephan, das Rothschildsche Institut für Mädchen, die Gewerbeschule der Alliance Israélite, die Kirche Notre Dame de France und am Teich von Bethesda der St. Anna Convent, daneben ein Haus, unter dessen Portal zwei Männer, sie scheinen ganz willkürlich angezogen, das meiste, was sie anhaben sind Lumpen, schmutzig, zerrissen, in Fransen, aber einzelnes ist wieder sehr gut erhalten, der eine hat einen neuen hohen Kragen mit seidener Kravatte, der andere eine feine Nankinghose, breit geschnitten, nach unten schmaler, über den Stiefeln zart umgekrempelt. Sie unterhalten sich und versperren die Tür. Es kommt ein Mann, scheinbar ein Landgeistlicher, in mittleren Jahren, groß, fest, starkhalsig, gerade hin und her schwankend auf seinen steifen Beinen. Er will eintreten, es ist eine dringende Angelegenheit, wegen der er kommt. Aber die beiden bewachen den Eingang, der eine zieht aus seiner Hose eine Uhr an langer Goldkette – es scheinen einige an einander befestigte Ketten zu sein – es ist noch nicht neun Uhr, vor zehn darf aber niemand eingelassen werden. Dem Geistlichen ist das sehr ungelegen, aber die zwei Männer unterhalten sich schon wieder weiter. Der Geistliche sieht sie ein Weilchen an, scheint die Nutzlosigkeit weitern Bittens zu erkennen, geht auch schon ein paar Schritte weiter, da bekommt er einen Einfall und kehrt wieder zurück. Ob die Herren denn eigentlich wüßten, zu wem er gehen wolle? Zu seiner Schwester Rebekka Zoufal, einer alten Dame, die mit ihrer Bedienerin im zweiten Stock wohnt. Das hatten die Wächter allerdings nicht gewußt, jetzt haben sie nichts mehr dagegen, daß der Geistliche eintritt, sie machen sogar eine Art förmlicher Verbeugung, als er zwischen ihnen durchgeht. Als der Geistliche im Flur ist, muß er unwillkürlich lächeln, daß es so leicht war, die zwei zu überlisten. Flüchtig blickt er noch einmal zurück, zu seinem Staunen sieht er, daß die Wächter eben Arm in Arm fortgehn. Sollten sie nur seinetwegen dagestanden haben? Es wäre, soweit der Überblick des Geistlichen reicht, nicht ausgeschlossen. Er dreht sich völlig um, die Straße ist ein wenig belebter geworden, oft blickt einer der Passanten in den Flur herein, geradezu aufreizend scheint es dem Geistlichen, wie weit die Haustür mit ihren beiden Flügeln offensteht, es liegt eine Gespanntheit in diesem Offenstehn, als nehme die Tür damit einen Anlauf zu einem wütenden endgültigen Zuklappen. Da hört er seinen Namen rufen. Arnold, ruft es durch das Treppenhaus, eine dünne, sich überanstrengende Stimme, und gleich darauf klopft ihm ein Finger leicht auf den Rücken. Eine alte gebückte Frau steht da, ganz eingehüllt in ein dunkelgrünes, großmaschiges Gewebe und blickt ihn förmlich nicht mit den Augen, sondern mit einem langen schmalen Zahn an, der öde vereinzelt in ihrem Munde steht.