Mittwoch, 19. Januar 2011

Gregor

Aus dem Schattenreich
Kommentar
So stand ich dann an die Glasscheibe gelehnt und mußte unwillkürlich an die Szene denken, in der der arme Gregor, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung, wie es heißt, an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Und genau wie Gregor mit seinen trübe gewordenen Augen die stille Charlottenstraße, in der er mit den Seinen seit Jahren wohnte, nicht mehr erkannte und sie für eine graue Einöde hielt, so schien auch mir die vertraute Stadt, die sich von den Vorhöfen bis weit gegen den Horizont erstreckte, vollkommen fremd. Ich konnte mir nicht denken, daß in dem ineinanderverschobenen Gemäuer dort unten noch irgend etwas sich regte, sondern glaubte, von einer Klippe aus hinabzublicken auf ein steinernes Meer oder ein Schotterfeld, aus dem wie riesige Findlingsblöcke die finsteren Massen der Parkhäuser hervorragten. Passanten waren zu dieser fahlen Abendstunde im näheren Umkreis keine zu sehen. Ich war in der Höhe, in der ich mich befand, von einer beinahe völligen, sozusagen künstlichen Lautlosigkeit. Nur die Luftströmung, die über das Land hinwegstrich, hörte man auflaufen draußen am Fenster und manchmal, wenn auch dieses Geräusch sich legte, das nie ganz nachlassende Geräusch in den eigenen Ohren. Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehn müssen, daß man sich abscheulich findet. Jeder Maßstab des Guten – mögen die Meinungen darüber noch so verschieden sein – wird zu groß erscheinen. Man wird einsehn, daß man nichts anderes ist als ein Rattenloch elender Hintergedanken. Nicht die geringste Handlung wird von diesen Hintergedanken frei sein. Diese Hintergedanken werden so schmutzig sein, daß man sie im Zustand der Selbstbeobachtung nicht einmal wird durchdenken wollen, sondern sich von der Ferne mit ihrem Anblick begnügen wird. Es wird sich bei diesen Hintergedanken nicht etwa bloß um Eigennützigkeit handeln, Eigennützigkeit wird ihnen gegenüber als ein Ideal des Guten und Schönen erscheinen. Der Schmutz, den man finden wird, wird um seiner selbst willen dasein, man wird erkennen, daß man triefend von dieser Belastung auf die Welt gekommen ist und durch sie unkenntlich oder allzu gut erkennbar wieder abgehn wird. Dieser Schmutz wird der unterste Boden sein, den man finden wird, der unterste Boden wird nicht etwa Lava enthalten, sondern Schmutz. Er wird das Unterste und das Oberste sein, und selbst die Zweifel der Selbstbeobachtung werden bald so schwach und selbstgefällig werden wie das Schaukeln eines Schweines in der Jauche.

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