In den Schwindel.Gefühlen regiert die Dreizehn, in den Ringen des Saturn, schon im Titel nicht verheimlicht, der Sternenhimmel. Was aber können die Sterne, was können die Zahlenspiele denn schon bewegen, wenn wir nur allen Aberglauben abschütteln. Kafka zentriert die Bewegungen der Gestirne um eine Figur, die ruhig an einem Tisch sitzt und um die herum er selbst oder vielmehr Selysses in einem ersten Kreis sich bewegt. Bei Kreisbewegungen, die, wenn sie auch in die größte Ferne reichen, doch in so unmittelbarer Nähe einsetzen, kann Kants Begeisterung für den über uns sich wölbenden gestirnten Himmel nicht aufkommen. Wer mag die Figur im Zentrum der Drehbewegungen sein: am ehesten der unbewegte Beweger der alten Philosophie. Die auf die Halspartie einwirkenden Zentripetalkräfte werden als Würgen empfunden. Wie nur soll unter so ungünstigen physikalischen Bedingungen der Ausgang aus der vorgeblich selbstverschuldeten Unmündigkeit samt Emanzipation vonstatten gehen.
Wehrlos
Dienstag, 31. Mai 2011
Montag, 30. Mai 2011
Wehrlos
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es erscheint mir jetzt so, als ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers sich mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat. Jedenfalls beschäftigt mich in der letzten Zeit die Erinnerung an das lähmende Grauen, das mich verschiedentlich überfallen hat bis hin zu einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit. Dieser Figur gegenüber war ich in jenen Tagen wehrlos, ruhig saß sie beim Tisch und blickte auf die Tischplatte. Ich gieng im Kreis um sie herum, so gut ich konnte, und fühlte mich von ihr gewürgt. Um mich ging ein dritter herum und fühlte sich von mir gewürgt. Um den dritten ging ein vierter herum und fühlte sich von ihm gewürgt. Und so setzte es sich fort bis zu den Bewegungen der Gestirne und darüber hinaus. Alles spürte den Griff am Hals.
Kommentar
Es erscheint mir jetzt so, als ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers sich mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat. Jedenfalls beschäftigt mich in der letzten Zeit die Erinnerung an das lähmende Grauen, das mich verschiedentlich überfallen hat bis hin zu einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit. Dieser Figur gegenüber war ich in jenen Tagen wehrlos, ruhig saß sie beim Tisch und blickte auf die Tischplatte. Ich gieng im Kreis um sie herum, so gut ich konnte, und fühlte mich von ihr gewürgt. Um mich ging ein dritter herum und fühlte sich von mir gewürgt. Um den dritten ging ein vierter herum und fühlte sich von ihm gewürgt. Und so setzte es sich fort bis zu den Bewegungen der Gestirne und darüber hinaus. Alles spürte den Griff am Hals.
Kommentar Geier und Jäger
An unerwarteter Stelle, am Rande der Erzählung eines rätselhaften Geierangriffs, erfahren wir nähere Einzelheiten vom Ableben des Jägers Hans Schlag alias Gracchus, die dem Verfasser der Schwindel.Gefühle so nicht bekannt waren. Der Jäger verliert sein Leben, als er einem seltsamen Prometheus, den es aus dem Kaukasus ins Allgäu verschlagen hat, zu Hilfe eilen will. Da er tot mit seinem Gewehr aufgefunden wurde, war er offenbar schon auf dem Rückweg und ist bei der zweiten Überquerung des Tobels verunglückt. Verschiedene Fragen bleiben gleichwohl unbeantwortet, so ist es schwer verständlich, daß der Jäger zunächst ohne sein Gewehr unterwegs war und es herbeiholen mußte. Auch passen die Zeitangaben hier nicht ohne weiteres zu denen der Schwindel.Gefühle. Aber wann hat es schon zwei Berichte über den gleichen Vorfall gegeben, die sich nicht an der einen oder anderen Stelle widersprochen hätten. Anders als sein Vorgänger im Kaukasus hat der Prometheus des Allgäu keine vorwerfbare Schuld vor den Göttern, nur die amorphe Daseinsschuld aller Bewohner von Kafkas Reich. Ohne daß er etwas Böses getan hätte, stößt der Geier wie ein Speerwerfer den Schnabel durch den Mund tief in ihn hinein. Er läßt sich im Tode befreit zurückfallen. Nach menschlichem Ermessen – aber was können wir schon ermessen - hat er gegenüber Gracchus, der so lange Jahre auf der Suche nach seinem Tod verbringen mußte, das bessere Los gezogen.
Geier und Jäger
Geier und Jäger
Freitag, 27. Mai 2011
Geier und Jäger
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Mann vorüber, stattlich, mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden, überschatteten Augen. Am linken Handgelenk war eine kleine Barke eintätowiert. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. An den Rucksack war mit einer Leine ein Dachshund gebunden. Er sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. Ich bin ja wehrlos, sagte ich, er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen. Daß Sie sich so quälen lassen, sagte der Mann, ein Schuß und der Geier ist erledigt. Ist das so? fragte ich, und wollen Sie das besorgen? Gern, sagte der Mann, ich bin ja Jäger, habe mein Gewehr aber leider nicht dabei, ich muß nur nach Hause gehn und es holen, eine viertel Stunde von hier, es gilt nur den allerdings sogar im Sommer gefahrvollen Tobel zu überqueren. Können Sie noch eine halbe Stunde warten? Das weiß ich nicht, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall. Gut, sagte der Jäger, ich werde mich beeilen. Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Jäger wandern lassen. Jetzt sah ich, daß er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.
Kommentar
Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Mann vorüber, stattlich, mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden, überschatteten Augen. Am linken Handgelenk war eine kleine Barke eintätowiert. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. An den Rucksack war mit einer Leine ein Dachshund gebunden. Er sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. Ich bin ja wehrlos, sagte ich, er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen. Daß Sie sich so quälen lassen, sagte der Mann, ein Schuß und der Geier ist erledigt. Ist das so? fragte ich, und wollen Sie das besorgen? Gern, sagte der Mann, ich bin ja Jäger, habe mein Gewehr aber leider nicht dabei, ich muß nur nach Hause gehn und es holen, eine viertel Stunde von hier, es gilt nur den allerdings sogar im Sommer gefahrvollen Tobel zu überqueren. Können Sie noch eine halbe Stunde warten? Das weiß ich nicht, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall. Gut, sagte der Jäger, ich werde mich beeilen. Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Jäger wandern lassen. Jetzt sah ich, daß er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.
Donnerstag, 26. Mai 2011
Wetterschau
Er hatte mich, wie er mir gleich sagte, schon mehrfach aus dem Engelwirt herauskommen sehen, aber nicht gewußt, wo er mich hintun sollte. Wenn er es sich jetzt recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus einer Haustür so wie ich stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. Der Großvater habe ja einen sehr feinen Blick für das Wetter gehabt. Auch ohne erst auf den bewölkten Himmel zu schauen, habe er schon aus der Färbung der Landschaft fühlen können, daß zwar das Sonnenlicht noch nicht hervorgebrochen war, daß aber förmlich das Trübe sich loslöst und zum Wegziehn bereit macht, daß also aus diesem Grunde und ohne weitere Beweise gleich überall die Sonne scheinen wird.
Kommentar Wetterschau
Außerhalb Englands sind längere Gespräche über das Wetter verpönt, sie gelten als Zeichen geringer gesellschaftlicher Gewandtheit. Überall geachtet ist aber, wer sich wortlos auskennt in den Geheimnissen des Wetters. Der Großvater des Selysses verfügt über eine Kunst des
Wetterverständnisses, mit der kein professioneller Wetterbericht und keine professionelle Wettervoraussage konkurrieren kann. An feinsten Zeichen sieht er den Sonnenschein, bevor andere ihn auch nur ahnen, geschweige denn sehen können. Der Wetterseher ist eingewoben und dabei ein freier Mensch. Die Grenze des Gesellschaftlichen, die sich als letzte Grenze ausgibt, ist niedergetreten und wir betreten an der Seite des Wettersehers beglückt die Weite der Welt.
Wetterschau
Wetterschau
Mittwoch, 25. Mai 2011
Kommentar Glitten Boote
Daß er – Selysses allem Anschein nach – die junge Frau des Bootsführers zuvor schon an Land, in einer Gaststube, als bucklige Rentnerin gesehen habe, ist für die Kafkainterpreten neu und daher bislang nicht gedeutet, die Geschichte ist aber ohnedies schon vertrackt genug. Offenbar sind wir in vormoderne Verhältnisse zurückversetzt. Freiheit, unser höchstes Gut, und auch Gleichheit, kaum weniger wichtig, erfordern eine Entpersönlichung und Professionalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen. Daß die Brüderlichkeit dabei ein wenig schrumpft, läßt sich nicht ändern, alles Paternalistische aber, das ist die erste Regel, müssen wir von Grund auf meiden. Hier nun wird dem längst schon gut eingestandenen und monetarisierten Berufsverhältnis von Bootsführer und Passagier ohne Not das verwandtschaftliche Vater-Kind-Verhältnis unterschoben. Aber das heißt naturgemäß nur, für eine kurze Zeit die Rechnung ohne die Frau zu machen, die die unklare Situation ohne Verzug in ihrem Sinne nutzt. Der Vater wird als Großvater beiseitegeschoben, die Maske der buckligen Rentnerin fällt, und die Mutter bietet sich dem Kind als Gattin an, unter welchen Umständen auch immer, der Trauschein ist allem Anschein nicht das Entscheidende. Was hätte wohl Freud zu dieser Geschichte gesagt, wie zerbrechlich sind unsere Regeln. Selysses flüchtet sich in eine ausweichende, verlegene Bemerkung über das Wundersame der weiblichen Erscheinung im allgemeinen und insbesondere zur Nacht in einem Boot.
Es glitten die Boote vorüber
Es glitten die Boote vorüber
Es glitten die Boote vorüber
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Vor der Rückfahrt wärmte ich mich in der Gaststube der Herberge ein wenig auf. Am anderen Ende der Stube saß eine bucklige Rentnerin in dem trüben, durch die Butzenscheiben einfallenden Licht. Sie trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Die Bedienerin brachte ihr einen Teller mit einem großen Stück Fleisch. Die Alte schaute es eine Weile an, dann holte sie aus ihrer Handtasche ein scharfes Messerchen mit einem Holzgriff und begann, es aufzuschneiden. Ein paar Schritte entfernt nur lag der kleine Hafen, es war schon gegen Abend. Es glitten die Boote vorüber. Ich rief eines. Ein alter großer weißbärtiger Mann war der Bootsführer. Ich zögerte ein wenig auf der Landungsstufe. Er lächelte, ihn anschauend stieg ich ein. Er zeigte auf das äußerste Ende des Bootes, dort setzte ich mich. Gleich aber sprang ich auf und sagte: Große Fledermäuse habt ihr hier, denn große Flügel waren mir um den Kopf gerauscht. Sei ruhig, sagte er schon mit der Bootsstange beschäftigt und wir stießen vom Lande, daß ich auf mein Bänkchen fast hinschlug. Statt dem Führer zu sagen, wohin ich fahren wolle, fragte ich nur, ob er es wisse; nach seinem Kopfnicken zu schließen wußte er es. Das war mir eine ungemeine Erleichterung, ich streckte die Beine aus und lehnte den Kopf zurück, aber immer behielt ich den Führer im Auge und sagte mir: Er weiß, wohin Du fährst; hinter dieser Stirn weiß er es. Und seine Ruderstange stößt er nur deshalb ins Meer um Dich dorthin zu bringen. Und zufällig riefst Du gerade ihn aus der Menge und zögertest noch einzusteigen. Ich schloß ein wenig die Augen vor lauter Zufriedenheit, wollte den Mann aber wenigstens hören, wenn ich ihn nicht sah, und fragte: In Deinem Alter solltest Du wohl nicht mehr arbeiten. Hast Du denn keine Kinder? Nur Dich, sagte er, Du bist mein einziges Kind. Nur für Dich mache ich noch diese Fahrt, dann verkaufe ich das Boot, dann höre ich zu arbeiten auf. Ihr nennt hier die Passagiere Kinder, fragte ich. Ja, sagte er, das ist hier Sitte. Und die Passagiere sagen uns Vater. Das ist merkwürdig, sagte ich, und wo ist die Mutter? Dort, sagte er, im Verschlag. Ich richtete mich auf und sah, wie aus dem rundbogigen kleinen Fenster des Verschlags, der in der Mitte des Bootes aufgebaut war, eine Hand grüßend sich ausstreckte und das starke Gesicht einer Frau, von einem schwarzen Spitzentuch eingerahmt, dort erschien. Sie glich auf versteckte Art der buckligen Alten aus der Gaststube und war doch schön wie durch einen Jungbrunnen gegangen. Mutter? fragte ich lächelnd. Wenn Du willst – , sagte sie. Du bist aber viel jünger als der Vater? sagte ich. Ja, sagte sie, viel jünger, er könnte mein Großvater sein und Du mein Mann. Weißt Du, sagte ich, es ist so erstaunlich, wenn man allein in der Nacht im Boot fährt und plötzlich ist eine Frau da.
Kommentar
Dienstag, 24. Mai 2011
Mit festen Quaimauern
Aus dem Schattenreich
Kommentar
An schönen Tagen ruderte er weit in den stillen See hinaus. Da streckte er sich dann in dem Kahne aus, schaut zum Himmel hinauf, läßt sich gehen und langsam vom Wasser abtreiben, oft mehrere Stunden lang. Kein Lüftchen, kaum eine Bewegung. Die Vorberge am Ufer des Sees sind so halb und halb grün und so hoch, so dumm, so duftig. Er hört Lachen von Frauen vom Ufer her. Das Boot macht träge Bewegungen im grünlich-bläulichen Wasser. Die Natur ist wie eine einzige große Liebkosung. Am Abend ruderte er stehend das Boot in den kleinen Hafen, er war fast leer, in einer Ecke waren zwei Segelbarken, sonst nur kleine Boote hie und da. Er fand leicht einen Platz für sein Boot und stieg aus. Ein kleiner Hafen war es nur, aber mit festen Quaimauern und gut im Stand gehalten.
Kommentar
An schönen Tagen ruderte er weit in den stillen See hinaus. Da streckte er sich dann in dem Kahne aus, schaut zum Himmel hinauf, läßt sich gehen und langsam vom Wasser abtreiben, oft mehrere Stunden lang. Kein Lüftchen, kaum eine Bewegung. Die Vorberge am Ufer des Sees sind so halb und halb grün und so hoch, so dumm, so duftig. Er hört Lachen von Frauen vom Ufer her. Das Boot macht träge Bewegungen im grünlich-bläulichen Wasser. Die Natur ist wie eine einzige große Liebkosung. Am Abend ruderte er stehend das Boot in den kleinen Hafen, er war fast leer, in einer Ecke waren zwei Segelbarken, sonst nur kleine Boote hie und da. Er fand leicht einen Platz für sein Boot und stieg aus. Ein kleiner Hafen war es nur, aber mit festen Quaimauern und gut im Stand gehalten.
Kommentar Quaimauern
J’aurais volu que ce lac eut été l’Océan – auf der St. Peterinsel im Bieler See hofft Rousseau, die ersehnte Ruhe und den ersehnten Frieden zu finden. Wie für Stendhal, Kafka oder auch Selysses an anderer Stelle in Sebalds Werk scheint ein Nachen weit draußen auf dem See Gefäß der erfüllten Sehnsucht zu sein. Die Idee stammt wohl von Robert Walser, der Kleist auf dem Thuner See rudern läßt und hier einige Sätze beisteuert, die man gelinde überarbeitet auch bei Sebald wiederfinden kann. Kafka versucht, dem Augenblick Dauer zu verleihen, indem er das Glücksboot in einen stillen kleinen Hafen mit festen Quaimauern einfahren läßt; ein klug ersonnenes Unterfangen und doch zum Scheitern verurteilt, wie wir wissen.
Mit festen Quaimauern
Mit festen Quaimauern
Montag, 23. Mai 2011
Kommentar Steuermann
Viele Fragen können sich stellen. Die Frage etwa, ob tatsächlich zu der damaligen Zeit ein derartiges Schiff zwischen Buenos Aires und Valparaiso für mehrere Jahre regelmäßig verkehrte, oder die Frage, ob es hinreichend Interessenten gab für diese lange Seereise, um ein Mehrfaches länger als der Landweges. Eine Eisenbahnverbindung, auch das andererseits ist zu bedenken, gab es freilich nicht, ganz zu schweigen von ausgebauten Straßen für Automobile, die noch auf sich warten ließen. Man könnte sich auch fragen, wie die Fahrt auf dieser Route zunächst für lange Zeit von schweren Stürmen verschont bleiben konnte. All das sind aber Fragen am Rande, Nebensächlichkeiten. Die eigentlichen Fragen entzünden sich allein am unplanmäßigen Austausch des Steuermanns. Für die Deutung erschwerend kommt hinzu, daß der bisherige Steuermann beiseite geschoben wird, nachdem er das Schiff erfolgreich durch den Sturm und in ruhige Gewässer geleitet hat. Bisherige Kafkainterpreten gehen auf diesen Umstand nicht ein, da er ihnen nicht bekannt war. Und was ist mit der Mannschaft, den Seeleuten, denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde, wissen sie mehr, verschweigt der abgelöste Steuermann vielleicht eine Schuld, ist die Rettung des Schiffes eher einer glücklichen Fügung als dem Steuermann zu verdanken.
Steuermann
Steuermann
Mittwoch, 18. Mai 2011
Steuermann
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Zwischen Juli 1980 und Anfang September 1883 machte ich als Steuermann auf einem zwischen Buenos Aires und Valparaiso hin- und herfahrenden Frachter, der auch für die Beförderung einer gewissen Zahl von Passagieren ausgerüstet war, ein halbes Dutzend Touren. An die letzte Fahrt entsinne ich mich deutlicher als an alle anderen, obwohl ich sie lieber als jede andere vergessen hätte. Schon kurze Zeit, nachdem wir das Mündungsgebiet des Plataflusses verlassen hatten, kamen Sturm und hoher Seegang auf, wie wir es die Jahre zuvor nicht erlebt hatten. Die Tage darauf ist es zum Fürchten gewesen, wie die Wellen sich aus der Tiefe hervorhoben und wieder zurückgerollt kamen. Nur schwarzes Wasser, tagaus und tagein, und das Schiff, wie es schien, die ganze Zeit auf demselben Fleck. Die Reisenden waren jetzt größtenteils seekrank. Erschöpft, mit glasigem Blich oder halbgeschlossenen Augen lagen sie in ihren Kojen. Andere hockten am Boden, standen stundenlang an eine Wand gelehnt oder wankten wie Schlafwandlern in den Gängen herum. Wohler wurde ihnen allen erst wieder, als wir in die Magellanstraße hineinfuhren. Das Schiff war langsamer geworden. Man spürte eine schwache Brise an der Stirn, und indem sie der Küste sich annäherten, wuchs eine von Schnee bedeckte Gebirgskette vor ihnen aus den jetzt von der Morgensonne durchdrungenen Nebeln heraus. Für eine kurze Zeit hatte ich das Steuer einem der Matrosen überlassen. Als ich zurückkam, fand ich aber nicht ihn, sondern einen Fremden vor. Was machst Du, bin ich nicht Steuermann? rief ich. Du? fragte der dunkle hoch gewachsene Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben! Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. Bin ich der Steuermann? fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend sagte: Stört mich nicht, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?
Kommentar
Zwischen Juli 1980 und Anfang September 1883 machte ich als Steuermann auf einem zwischen Buenos Aires und Valparaiso hin- und herfahrenden Frachter, der auch für die Beförderung einer gewissen Zahl von Passagieren ausgerüstet war, ein halbes Dutzend Touren. An die letzte Fahrt entsinne ich mich deutlicher als an alle anderen, obwohl ich sie lieber als jede andere vergessen hätte. Schon kurze Zeit, nachdem wir das Mündungsgebiet des Plataflusses verlassen hatten, kamen Sturm und hoher Seegang auf, wie wir es die Jahre zuvor nicht erlebt hatten. Die Tage darauf ist es zum Fürchten gewesen, wie die Wellen sich aus der Tiefe hervorhoben und wieder zurückgerollt kamen. Nur schwarzes Wasser, tagaus und tagein, und das Schiff, wie es schien, die ganze Zeit auf demselben Fleck. Die Reisenden waren jetzt größtenteils seekrank. Erschöpft, mit glasigem Blich oder halbgeschlossenen Augen lagen sie in ihren Kojen. Andere hockten am Boden, standen stundenlang an eine Wand gelehnt oder wankten wie Schlafwandlern in den Gängen herum. Wohler wurde ihnen allen erst wieder, als wir in die Magellanstraße hineinfuhren. Das Schiff war langsamer geworden. Man spürte eine schwache Brise an der Stirn, und indem sie der Küste sich annäherten, wuchs eine von Schnee bedeckte Gebirgskette vor ihnen aus den jetzt von der Morgensonne durchdrungenen Nebeln heraus. Für eine kurze Zeit hatte ich das Steuer einem der Matrosen überlassen. Als ich zurückkam, fand ich aber nicht ihn, sondern einen Fremden vor. Was machst Du, bin ich nicht Steuermann? rief ich. Du? fragte der dunkle hoch gewachsene Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben! Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. Bin ich der Steuermann? fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend sagte: Stört mich nicht, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?
Kommentar Babel
Zu einer Reihe von Fragen, für die es, abgesehen von Deutungsvarianten, nur eine Antwort zu geben schien, hat Kafka überraschende und völlig neuartige Vorschläge gemacht. Hinzuweisen wäre etwa auf das wahrhaft revolutionäre Verständnis der Beziehung von Don Quijote und Sancho Pansa oder auf die Frage des Gesangs der Sirenen. Auch zu den vielleicht bedeutendsten Bauwerke der Geschichte, der Chinesischen Mauer und dem Turm zu Babel, hat Kafka eigenständige Ansichten. Nicht frevelhafter Übermut sei Anlaß gewesen für den Bau, sondern der Gedanke eines großen, die Menschheit einenden und Gott näherbringenden Werks. Letztlich sei der Bau dem Fortschrittsgedanken zum Opfer gefallen. Angesichts der ständig und rapide anwachsenden Kenntnisse und Fähigkeiten in der Baukunst schien es ratsam, den Baubeginn immer wieder auf die nächste, noch besser für die Ausführung des Plans gerüstete Generation zu verschieben. Mit dem vergehen der Zeit war wohl eine gewisse Unlust aufgekommen, wie Sebald eindrücklich an einem mißlungenen Probebau demonstriert. Überraschenderweise gehen beide Dichter nicht auf die großen Kathedralen der Christenheit ein, bislang wohl die gelungenste Umsetzung des Ausgangsgedankens. Streitigkeiten machen sich breit im Umfeld der brachliegenden Bauidee, jeder denkt nur noch an seinen Vorteil, alle Kräfte, die auf den Turm gewandt sein sollten gehen schließlich in den Festungsbau. Beim Bau der chinesichen Mauer, einem Festungsbau, wird denn auch die Umkehrung der Verhältnisse betont. Hier sei zum ersten Mal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen Babelturm geschaffen worden. Das ist zweifellos eine gänzlich ungesicherte Annahme, und gesehen hat den fertiggestellten Turm auch in China noch niemand.
Babel
Babel
Dienstag, 17. Mai 2011
Babel
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung, ja die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht also muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühn? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generation mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebaute niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Zwar wurden versuchsweise immer wieder vorbereitende Bauten hochgezogen, die aber den Erwartungen in keiner Weise entsprechen konnten. Viele Stunden konnte man durch steinerne Gebirge irren, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß je ein Mensch nach dem Begehren gefragt hätte, über Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführen, mit den türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. In diesen Palästen hätten sich, aufgrund seiner tatsächlichen Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank sich einrichten können, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein, nicht das, was man vom Turmbau zu Babel erwarten durfte und mußte. Solche Gedanken und Fehlschläge lähmten die Kräfte und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Schon bald ging alle Kraft, die in die Errichtung des Turms hätte gehen sollen, in die Errichtung von Befestigungsanlagen zur Sicherung der Arbeiterstädte. Dabei haben Generationen an dem von Grund auf verkehrten Gedanken festgehalten, daß man durch die Ausarbeitung eines idealen Tracé mit stumpfen Bollwerken und weit vorspringenden Ravelins eine Stadt so sichern könne, wie überhaupt auf der Welt etwas zu sichern sei. In der Praxis der Kriegsführung allerdings haben auch die weiterentwickelten Sternfestungen ihren Zweck nicht erfüllt. Wiederholt ist es vorgekommen, daß man sich gerade durch das Ergreifen von Befestigungsmaßnahmen, die ja grundsätzlich geprägt sind von einer Tendenz zu paranoider Elaboration, die entscheidende, dem Feind Tür und Tor öffnende Blöße gegeben hat, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mit den immer komplizierter werdenden Bauplänen auch die Zeit ihrer Realisierung und somit die Wahrscheinlichkeit zunahm, daß die Festungen bereits bei ihrer Fertigstellung überholt waren, durch die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung der Artillerie und der strategischen Konzepte – im Grunde eine Bestätigung der Bedenken, die den Turmbau bislang verhindert haben.
Kommentar
Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung, ja die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht also muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühn? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generation mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebaute niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Zwar wurden versuchsweise immer wieder vorbereitende Bauten hochgezogen, die aber den Erwartungen in keiner Weise entsprechen konnten. Viele Stunden konnte man durch steinerne Gebirge irren, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß je ein Mensch nach dem Begehren gefragt hätte, über Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführen, mit den türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. In diesen Palästen hätten sich, aufgrund seiner tatsächlichen Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank sich einrichten können, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein, nicht das, was man vom Turmbau zu Babel erwarten durfte und mußte. Solche Gedanken und Fehlschläge lähmten die Kräfte und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Schon bald ging alle Kraft, die in die Errichtung des Turms hätte gehen sollen, in die Errichtung von Befestigungsanlagen zur Sicherung der Arbeiterstädte. Dabei haben Generationen an dem von Grund auf verkehrten Gedanken festgehalten, daß man durch die Ausarbeitung eines idealen Tracé mit stumpfen Bollwerken und weit vorspringenden Ravelins eine Stadt so sichern könne, wie überhaupt auf der Welt etwas zu sichern sei. In der Praxis der Kriegsführung allerdings haben auch die weiterentwickelten Sternfestungen ihren Zweck nicht erfüllt. Wiederholt ist es vorgekommen, daß man sich gerade durch das Ergreifen von Befestigungsmaßnahmen, die ja grundsätzlich geprägt sind von einer Tendenz zu paranoider Elaboration, die entscheidende, dem Feind Tür und Tor öffnende Blöße gegeben hat, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mit den immer komplizierter werdenden Bauplänen auch die Zeit ihrer Realisierung und somit die Wahrscheinlichkeit zunahm, daß die Festungen bereits bei ihrer Fertigstellung überholt waren, durch die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung der Artillerie und der strategischen Konzepte – im Grunde eine Bestätigung der Bedenken, die den Turmbau bislang verhindert haben.
Sonntag, 15. Mai 2011
Kommentar Hindernis
Die sogenannte Non-Book-Abteilung der Buchhandlungen bietet verschiedene Ziermagneten an – anzubringen an Kühlschränken oder anderen Metallflächen -, die positive Sichtweisen fördern und uns helfen sollen, das Leben freundlicher zu gestalten. Auf einem dieser Täfelchen mahnt Kafka, nicht nach Hindernissen zu suchen, die vielleicht gar nicht da sind. Kafka als zupackenden, zukunftsfrohen Mensch zu sehen, darauf war man bislang nicht eingestellt. Zwar sind die Protagonisten seiner Romane durchweg betont munter und gleichsam nicht unterzukriegen, an jedem Satz aber, der sie trägt, zerrt offen oder verdeckt ein Hindernis, das sich am Ende als unüberwindlich erweist. Um seine frohe Botschaft zu überbringen, muß der Ziermagnet den Kontext denn auch hart beschneiden. Es ist zuvor von einer ungeheueren Aufgabe die Rede, zu der sich jemand aufraffen will oder soll. So wie Sebald ihn im über Kafka hinaus erweiterten Kontext zeichnet, nahezu bewegungsunfähig in eine rückwärtsgewandte Denkarbeit verstrickt, wird er dazu aber nicht fähig sein.
Hindernis
Hindernis
Aus dem Schattenreich
Kommentar
An hour has gone by and he has not moved his hand
Manchmal sitze ich hier stundenlang und lege diese Photographien, oder andere, die ich aus dem Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben aus, ähnlich wie bei einer Partie Patience und wende sie dann, jedesmal von neuem erstaunt über das, was ich sehe, nach und nach um, schiebe die Bilder hin und her und übereinander, in eine aus Familienähnlichkeiten sich ergebende Ordnung, oder ziehe sie auch aus dem Spiel, bis nichts mehr übrig ist als die graue Fläche des Tischs, oder bis ich mich, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, niederlegen muß auf der Ottomane. Ich sage mir: Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern. Ich sage mir: Du hast eine Aufgabe, hast zu ihrer Ausführung soviel Kräfte als nötig sind – nicht zu viel, nicht zu wenig, Du mußt sie zwar zusammenhalten, aber nicht ängstlich sein -, Zeit ist Dir genügend frei gelassen, den guten Willen zur Arbeit hast Du auch. Wo ist das Hindernis für das Gelingen der ungeheueren Aufgabe? Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach Hindernissen, vielleicht ist keines da. Dinge dieser Art sage ich mir, aber ich glaube mir nicht.
An hour has gone by and he has not moved his hand
Manchmal sitze ich hier stundenlang und lege diese Photographien, oder andere, die ich aus dem Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben aus, ähnlich wie bei einer Partie Patience und wende sie dann, jedesmal von neuem erstaunt über das, was ich sehe, nach und nach um, schiebe die Bilder hin und her und übereinander, in eine aus Familienähnlichkeiten sich ergebende Ordnung, oder ziehe sie auch aus dem Spiel, bis nichts mehr übrig ist als die graue Fläche des Tischs, oder bis ich mich, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, niederlegen muß auf der Ottomane. Ich sage mir: Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern. Ich sage mir: Du hast eine Aufgabe, hast zu ihrer Ausführung soviel Kräfte als nötig sind – nicht zu viel, nicht zu wenig, Du mußt sie zwar zusammenhalten, aber nicht ängstlich sein -, Zeit ist Dir genügend frei gelassen, den guten Willen zur Arbeit hast Du auch. Wo ist das Hindernis für das Gelingen der ungeheueren Aufgabe? Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach Hindernissen, vielleicht ist keines da. Dinge dieser Art sage ich mir, aber ich glaube mir nicht.
Samstag, 14. Mai 2011
Kommentar Levitation
Die Bemerkung über Thomas Browne lesen wir als poetologische Schlüsselszene, was Browne zugesprochen wird, strebt Sebald an, eine die Erdenschwere überwindende Prosa. Eilfertig kommt unterstützend Kafka zu Hilfe, richtet aber, wie es scheint, eher argumentativen Schaden an. Unter allen erdenschweren Tatmenschen wählt er Alexander, den mazedonischen König, der aufgrund seiner Erdenschwere den Hellespont eher nicht hätte überschreiten sollen, ihn tatsächlich aber sehr wohl überschritten hat. Keineswegs verlegen ob seines verwinkelten Gedankengangs lenkt Kafka einen Furor der Verachtung auf spätere Möchtegernalexander, die dem Mazedonier zwar ohne weiteres gleichkommen in seinen Untaten, im entferntesten aber nicht in seinem Glanz. So recht bekommen wir beim Lesen die Füße nicht auf den Boden und merken zu unserem Erstaunen, wir benötigen die Füße auch gar nicht, wir schweben. Mit ganz anderen Mitteln und auf ganz andere Weise als Browne abgelesen, fern aufwendiger Satzgebilde hat Kafka uns in den Zustand der Levitation versetzt, eine Argumentationshilfe wahrlich, wie sie eines Dichters würdig ist.
Levitation
Levitation
Freitag, 13. Mai 2011
Levitation
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Oh see the men of action falling back
Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine gesamte Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Ganz allgemein sind die Menschen des Geistes und der Kunst für das Erlebnis der Levitation empfänglicher als die Männer der Tat. Nehmen wir Alexander den Großen, es wäre denkbar, daß er trotz der kriegerischen Erfolge seiner Jugend, trotz der auf Veränderung der Welt gerichteten Kräfte, die er in sich fühlte, am Hellespont stehn und ihn nie überschritten hätte, und zwar nicht aus Furcht, nicht aus Unentschlossenheit, nicht aus Willenschwäche, sondern aus Erdenschwere. Er war Alexander der Große und hat den Hellespont überschritten. Heute aber – das kann niemand leugnen – heute gibt es keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht; und vielen ist Macedonien zu eng, so daß sie Philipp, den Vater verfluchen – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich.
Kommentar
Oh see the men of action falling back
Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine gesamte Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Ganz allgemein sind die Menschen des Geistes und der Kunst für das Erlebnis der Levitation empfänglicher als die Männer der Tat. Nehmen wir Alexander den Großen, es wäre denkbar, daß er trotz der kriegerischen Erfolge seiner Jugend, trotz der auf Veränderung der Welt gerichteten Kräfte, die er in sich fühlte, am Hellespont stehn und ihn nie überschritten hätte, und zwar nicht aus Furcht, nicht aus Unentschlossenheit, nicht aus Willenschwäche, sondern aus Erdenschwere. Er war Alexander der Große und hat den Hellespont überschritten. Heute aber – das kann niemand leugnen – heute gibt es keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht; und vielen ist Macedonien zu eng, so daß sie Philipp, den Vater verfluchen – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich.
Wir bauen eine Stadt
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Man könne gut sehen, wie wir, im Gegensatz etwa zu den Vögeln, die Jahrtausende hindurch immer dasselbe Nest bauen, dazu neigen, unsere Unternehmungen voranzutreiben, weit über jede Vernunftgrenze hinaus. Man müßte einmal einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauwerke es sind - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle. Die Kindervilla im Garten: schon den Kleinsten wird das Bauen als unerläßliche Voraussetzung unseres Heimischwerdens in der Welt spielerisch und musikalisch nahegebracht, Wir bauen eine Stadt. Nur wenige Jahre weiter, in der Schule, lernen sie dann das Leben zu lieben als Leben in Unserer kleinen Stadt. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, und doch heißt es, bereits einem amerikanischen Baumeister der Pionierzeit seien erste Bedenken gekommen, Bedenken, die sich als Müdigkeit äußerten oder die er als Müdigkeit ausgab. Es kamen einige Leute zu ihm, so wird berichtet, und baten ihn eine Stadt für sie zu bauen. Er sagte, sie wären viel zu wenige, sie hätten Raum in einem Haus, für sie würde ich keine Stadt bauen. Sie aber sagten, es würden noch andere nachkommen und es seien doch Eheleute unter ihnen, die Kinder zu erwarten hätten, auch müßte die Stadt nicht auf einmal gebaut, sondern nur im Umriß festgelegt und nach und nach ausgeführt werden. Er fragte, wo sie die Stadt aufgebaut haben wollten, sie sagten, sie würden ihm den Ort gleich zeigen. Sie giengen mit ihm den Fluß entlang, bis sie zu einer genug hohen, zum Fluß hin steilen, sonst aber sanft sich abflachenden und sehr breiten Erhebung kamen. Sie sagten, dort oben wollten sie die Stadt gebaut haben. Es war dort nur schütterer Graswuchs, keine Bäume, das gefiel ihm, der Abfall zum Fluß schien ihm aber zu steil und er machte sie darauf aufmerksam. Sie aber sagten, das sei kein Schaden, die Stadt werde sich ja auf den andern Abhängen ausdehnen und genug andere Zugänge zum Wasser haben, auch würden sich vielleicht im Laufe der Zeiten Mittel finden, den steilen Abhang irgendwie zu überwinden, jedenfalls solle das kein Hindernis für die Gründung der Stadt an diesem Orte sein. Auch seien sie jung und stark und könnten mit Leichtigkeit den Abhang erklettern, was sie ihm gleich zeigen wollten. Sie taten es; wie Eidechsen schwangen sich ihre Körper zwischen den Rissen des Felsens hinauf, bald waren sie oben. Er ging auch hinauf und fragte sie, warum sie gerade hier die Stadt gebaut haben wollten. Zur Verteidigung schien ja der Ort nicht besonders geeignet, von der Natur geschützt war er nur gegenüber dem Fluß und gerade hier war ja der Schutz am wenigsten notwendig, eher wäre hier freie und leichte Ausfahrtmöglichkeit zu wünschen gewesen; von allen andern Seiten her war aber die Hochebene ohne Mühe zugänglich, deshalb also und auch wegen ihrer großen Ausdehnung schwer zu verteidigen. Außerdem war der Boden dort oben auf seine Ertragfähigkeit hin noch nicht untersucht und vom Unterland abhängig bleiben und auf Fuhrwerkverkehr angewiesen sein, war für eine Stadt immer gefährlich, gar in unruhigen Zeiten. Auch ob genügendes Trinkwasser oben zu finden war, war noch nicht festgestellt, die kleine Quelle die man ihm zeigte, schien nicht zuverlässig. Du bist müde, sagte einer von ihnen, Du willst die Stadt nicht bauen. Müde bin ich, sagte er und setzte sich auf einen Stein neben die Quelle. Sie tauchten ein Tuch in das Wasser und erfrischten damit sein Gesicht, er dankte ihnen. Dann sagte er, daß er einmal allein die Hochebene umgehen wolle und verließ sie; der Weg dauerte lang; als er zurückkam, war es schon dunkel; alle lagen um die Quelle und schliefen; ein leichter Regen fiel. Er beschloß fortzugehn und kletterte den Abhang zum Fluß hinab. Aber einer von ihnen war erwacht und hatte die andern geweckt und nun standen sie oben am Rand und er war erst in der Mitte und sie baten und riefen ihn. Da kehrte er zurück, sie halfen ihm und zogen ihn hinauf: Er versprach ihnen jetzt, die Stadt zu bauen. Sie waren sehr dankbar, hielten Reden an ihn, küßten ihn. So also ist Unsere kleine Stadt entstanden und erbaut worden. Auf die vom Baumeister aufgeworfene Frage der Verteidigung sind die Stadtbauer erst gar nicht eingegangen. Das mochte in Amerika zu der damaligen Zeit angehen, anrückende feindliche Heere waren nicht zu erwarten und die wilden Stämme oder marodierende Banden fühlten sich einer veritablen Stadt nicht gewachsen. In der Alten Welt dagegen war eine Stadt vor allem ein befestigter Platz, der Bau der Städte wurde fortwährend vom Festungsbau übertrumpft. Um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, war man gezwungen, in sukzessiven Phasen sich stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen stieß. Das durch die rapide industrielle und kommerzielle Entwicklung eingeleitete Wachstum einer Stadt wie etwa Antwerpen hätte über das alte Stadtgebiet hinaus hätte es erfordert, die Linie der Forts um drei Meilen weiter noch hinauszulegen, wodurch sie freilich mehr als dreißig Meilen lang geworden wäre, mit der Folge daß die gesamte Armee des Landes nicht ausgereicht hätte, um eine adäquate Besatzung für diese Anlage zu stellen. Wen mag da, wenn er es vorausahnte, nicht Müdigkeit überkommen haben. So gleichsam auf natürliche Weise dem sinnlos gewordenen Festungsbau entronnen konnten sich die Stadtagglomerationen wie fahle Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, bis zum Horizont auswachsen, nun freilich den Luftangriffen schutzlos ausgeliefert. Es bleibt nichts, als das Weltall zur Festung auszubauen.
Man könne gut sehen, wie wir, im Gegensatz etwa zu den Vögeln, die Jahrtausende hindurch immer dasselbe Nest bauen, dazu neigen, unsere Unternehmungen voranzutreiben, weit über jede Vernunftgrenze hinaus. Man müßte einmal einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauwerke es sind - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle. Die Kindervilla im Garten: schon den Kleinsten wird das Bauen als unerläßliche Voraussetzung unseres Heimischwerdens in der Welt spielerisch und musikalisch nahegebracht, Wir bauen eine Stadt. Nur wenige Jahre weiter, in der Schule, lernen sie dann das Leben zu lieben als Leben in Unserer kleinen Stadt. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, und doch heißt es, bereits einem amerikanischen Baumeister der Pionierzeit seien erste Bedenken gekommen, Bedenken, die sich als Müdigkeit äußerten oder die er als Müdigkeit ausgab. Es kamen einige Leute zu ihm, so wird berichtet, und baten ihn eine Stadt für sie zu bauen. Er sagte, sie wären viel zu wenige, sie hätten Raum in einem Haus, für sie würde ich keine Stadt bauen. Sie aber sagten, es würden noch andere nachkommen und es seien doch Eheleute unter ihnen, die Kinder zu erwarten hätten, auch müßte die Stadt nicht auf einmal gebaut, sondern nur im Umriß festgelegt und nach und nach ausgeführt werden. Er fragte, wo sie die Stadt aufgebaut haben wollten, sie sagten, sie würden ihm den Ort gleich zeigen. Sie giengen mit ihm den Fluß entlang, bis sie zu einer genug hohen, zum Fluß hin steilen, sonst aber sanft sich abflachenden und sehr breiten Erhebung kamen. Sie sagten, dort oben wollten sie die Stadt gebaut haben. Es war dort nur schütterer Graswuchs, keine Bäume, das gefiel ihm, der Abfall zum Fluß schien ihm aber zu steil und er machte sie darauf aufmerksam. Sie aber sagten, das sei kein Schaden, die Stadt werde sich ja auf den andern Abhängen ausdehnen und genug andere Zugänge zum Wasser haben, auch würden sich vielleicht im Laufe der Zeiten Mittel finden, den steilen Abhang irgendwie zu überwinden, jedenfalls solle das kein Hindernis für die Gründung der Stadt an diesem Orte sein. Auch seien sie jung und stark und könnten mit Leichtigkeit den Abhang erklettern, was sie ihm gleich zeigen wollten. Sie taten es; wie Eidechsen schwangen sich ihre Körper zwischen den Rissen des Felsens hinauf, bald waren sie oben. Er ging auch hinauf und fragte sie, warum sie gerade hier die Stadt gebaut haben wollten. Zur Verteidigung schien ja der Ort nicht besonders geeignet, von der Natur geschützt war er nur gegenüber dem Fluß und gerade hier war ja der Schutz am wenigsten notwendig, eher wäre hier freie und leichte Ausfahrtmöglichkeit zu wünschen gewesen; von allen andern Seiten her war aber die Hochebene ohne Mühe zugänglich, deshalb also und auch wegen ihrer großen Ausdehnung schwer zu verteidigen. Außerdem war der Boden dort oben auf seine Ertragfähigkeit hin noch nicht untersucht und vom Unterland abhängig bleiben und auf Fuhrwerkverkehr angewiesen sein, war für eine Stadt immer gefährlich, gar in unruhigen Zeiten. Auch ob genügendes Trinkwasser oben zu finden war, war noch nicht festgestellt, die kleine Quelle die man ihm zeigte, schien nicht zuverlässig. Du bist müde, sagte einer von ihnen, Du willst die Stadt nicht bauen. Müde bin ich, sagte er und setzte sich auf einen Stein neben die Quelle. Sie tauchten ein Tuch in das Wasser und erfrischten damit sein Gesicht, er dankte ihnen. Dann sagte er, daß er einmal allein die Hochebene umgehen wolle und verließ sie; der Weg dauerte lang; als er zurückkam, war es schon dunkel; alle lagen um die Quelle und schliefen; ein leichter Regen fiel. Er beschloß fortzugehn und kletterte den Abhang zum Fluß hinab. Aber einer von ihnen war erwacht und hatte die andern geweckt und nun standen sie oben am Rand und er war erst in der Mitte und sie baten und riefen ihn. Da kehrte er zurück, sie halfen ihm und zogen ihn hinauf: Er versprach ihnen jetzt, die Stadt zu bauen. Sie waren sehr dankbar, hielten Reden an ihn, küßten ihn. So also ist Unsere kleine Stadt entstanden und erbaut worden. Auf die vom Baumeister aufgeworfene Frage der Verteidigung sind die Stadtbauer erst gar nicht eingegangen. Das mochte in Amerika zu der damaligen Zeit angehen, anrückende feindliche Heere waren nicht zu erwarten und die wilden Stämme oder marodierende Banden fühlten sich einer veritablen Stadt nicht gewachsen. In der Alten Welt dagegen war eine Stadt vor allem ein befestigter Platz, der Bau der Städte wurde fortwährend vom Festungsbau übertrumpft. Um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, war man gezwungen, in sukzessiven Phasen sich stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen stieß. Das durch die rapide industrielle und kommerzielle Entwicklung eingeleitete Wachstum einer Stadt wie etwa Antwerpen hätte über das alte Stadtgebiet hinaus hätte es erfordert, die Linie der Forts um drei Meilen weiter noch hinauszulegen, wodurch sie freilich mehr als dreißig Meilen lang geworden wäre, mit der Folge daß die gesamte Armee des Landes nicht ausgereicht hätte, um eine adäquate Besatzung für diese Anlage zu stellen. Wen mag da, wenn er es vorausahnte, nicht Müdigkeit überkommen haben. So gleichsam auf natürliche Weise dem sinnlos gewordenen Festungsbau entronnen konnten sich die Stadtagglomerationen wie fahle Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, bis zum Horizont auswachsen, nun freilich den Luftangriffen schutzlos ausgeliefert. Es bleibt nichts, als das Weltall zur Festung auszubauen.
Kommentar Bauen Stadt
Wir treiben unsere Unternehmungen voran, weit über jede Vernunftgrenze hinaus. Schon lange wissen wir um die geringe Bedeutung der Vernunft im menschlichen Leben, und doch müssen wir uns an sie halten. Was anderes vor allem hätten wir unseren Kindern sonst anzubieten. Wir bauen ihnen eine Kindervilla, lassen sie den Takt schlagen zur Kinderoper vom Bau der kleinen Stadt und zeigen ihnen auf der Bühne die Behaglichkeit des Lebens in der kleinen Stadt. Kafkas Städtebauer scheinen sich dieses kindliche Gemüt mehr oder weniger bewahrt zu haben, der Baumeister aber weiß mehr und ist von seinem Wissen müde. Auf seine Einwände gehen die Bauherren kaum ein, am wenigsten auf den Hinweis der Verteidigungsnotwendigkeit. Dabei ist, wie der Blick in die Geschichte zeigt, Städtebau immer auch Festungsbau gewesen. Der Roman Austerlitz lest sich lesen als Erzählung von Vernichtung und Zerstörung mit der Kehrseite des Bauens, oder als Erzählung vom Bauen mit der Kehrseite von Zerstörung und Vernichtung. Im Plan und der Errichtung des Lagers Theresienstadt ist dann beides unmittelbar eins. Sebald hat 9/11 noch erlebt, der Roman war aber bereits abgeschlossen. Der Plan eines Umbaus des Weltalls zur Festung erscheint uns nachträglich als Krönung seiner Überlegungen.
Wir bauen eine Stadt
Wir bauen eine Stadt
Mittwoch, 11. Mai 2011
Stadt unter Städten
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es ist eine Stadt unter den Städten, ihre Vergangenheit war größer als ihre Gegenwart, aber auch diese ist noch ansehnlich genug. Zu ihren Glanzeiten war sie nicht nur einer der bedeutendsten Fischereihäfen, sondern auch ein über die Grenzen des Landes hinaus gepriesenes Seebad gewesen. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, entstand auf der anderen Seite des Flusses die sogenannte Südstadt mit einer Reihe von Hotels, die den Ansprüchen der vornehmen Kreise gerecht werden konnten, und neben den Hotels errichtete man Wandelhallen und Pavillons, Kirchen und Kapellen für jede Denomination, baute eine Leihbibliothek, einen Billardsaal, ein tempelartiges Teehaus und eine Straßenbahn mit einem prunkvollen Terminus. Eine breite Esplanade, Alleen, botanische Gärten und See- und Süßwasserbäder wurden angelegt und Verschönerungs- und Fördervereine gegründet. Ein etwas zurückgebliebener aber ansonsten freundlicher Ort, dachte ich jetzt, als ich in die Stadt hineinging. Der Bürgermeister, zu dem ich eingeladen war, hatte gerade einige Schriftstücke unterschrieben und lehnte sich zurück, nahm spielend eine Schere in die Hand, horchte auf das Mittagsläuten draußen auf dem alten Platz und sagte, halb zu mir und halb zu dem Sekretär, der steif vor Ehrerbietung, fast hochmütig vor Ehrerbietung neben den Schreibtisch stand: Haben sie auch bemerkt, daß sich etwas Besonderes in der Stadt vorbereitet? Sie sind jung, Sie müssen doch den Blick dafür haben. - So jung war ich ja nun nicht mehr.
Kommentar
Es ist eine Stadt unter den Städten, ihre Vergangenheit war größer als ihre Gegenwart, aber auch diese ist noch ansehnlich genug. Zu ihren Glanzeiten war sie nicht nur einer der bedeutendsten Fischereihäfen, sondern auch ein über die Grenzen des Landes hinaus gepriesenes Seebad gewesen. Damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, entstand auf der anderen Seite des Flusses die sogenannte Südstadt mit einer Reihe von Hotels, die den Ansprüchen der vornehmen Kreise gerecht werden konnten, und neben den Hotels errichtete man Wandelhallen und Pavillons, Kirchen und Kapellen für jede Denomination, baute eine Leihbibliothek, einen Billardsaal, ein tempelartiges Teehaus und eine Straßenbahn mit einem prunkvollen Terminus. Eine breite Esplanade, Alleen, botanische Gärten und See- und Süßwasserbäder wurden angelegt und Verschönerungs- und Fördervereine gegründet. Ein etwas zurückgebliebener aber ansonsten freundlicher Ort, dachte ich jetzt, als ich in die Stadt hineinging. Der Bürgermeister, zu dem ich eingeladen war, hatte gerade einige Schriftstücke unterschrieben und lehnte sich zurück, nahm spielend eine Schere in die Hand, horchte auf das Mittagsläuten draußen auf dem alten Platz und sagte, halb zu mir und halb zu dem Sekretär, der steif vor Ehrerbietung, fast hochmütig vor Ehrerbietung neben den Schreibtisch stand: Haben sie auch bemerkt, daß sich etwas Besonderes in der Stadt vorbereitet? Sie sind jung, Sie müssen doch den Blick dafür haben. - So jung war ich ja nun nicht mehr.
Kommentar Unter Städten
Beide Dichter haben ein ausgeprägtes, sich in ihrem Werk immer wieder manifestierendes Interesse an Fragen des Städtebaus und der Stadtentwicklung. Hier geht es um eine Stadt, die ihre Glanzzeit hinter sich hat, aber auch jetzt noch ansehnlich ist. Selysses allerdings, ließe man ihn ausreden, würde den Niedergang deutlich stärker betonen. Es verwundert, daß er einen Gesprächstermin beim Bürgermeister hat, gemeinhin kommt er auf seinen Wanderungen nur mit nachgeordneten Amtspersonen in Berührung, Brigadieri, Konsularbeamte der mittleren Laufbahnebene, und auch das nur notgedrungen. Der Bürgermeister ist voller Hoffnung, was die Zukunft der Stadt anbelangt, Selysses aber bleibt skeptisch. Zum einen teilt er nicht den Jugendwahn des Bürgermeisters, und zum anderen stört er sich an dem wenig neuzeitlichen Verhältnis zwischen Sekretär und Bürgermeister. Das zukunftsweisende Konzept der flachen Hierarchie scheint in dieser Stadt noch unbekannt.
Stadt unter Städten
Stadt unter Städten
Dienstag, 10. Mai 2011
Kommentar Das Pferd stolperte
Zu Kafkas Lebens- und Schreibzeit waren Pferde noch allgegenwärtig, zur Zeit der Wanderungen des Selysses dagegen schon so gut wie verschwunden aus dem Alltagsleben. Das macht die Zusammenführung der Dichter bei diesem Thema schwierig. Kafkas zahlreichen Pferden hält Sebald nur recht wenige entgegen. Ob Stendhal durch Oberitalien reitet, ist nicht klar, Pferde, sei es nun unterm Sattel oder vor einer Kutsche, waren aber wohl involviert. Kafka findet wenig Gefallen an der fortdauernden Betrachtung des hingebreiteten Landschaftsbildes, er braucht die spitze Klinge eines Vorfalls, also stolpert das Pferd. Zwei Männer treten aus dem Baumschatten, ein Anflug von Promessi Sposi und Bravi breitet sich aus, vielleicht heißen die beiden Grignapoco und Tanabuso. Entscheidend ist aber offenbar, daß sie völlig unabhängig voneinander sind und auch, anders als es für einen Augenblick scheinen mag, tatsächlich nur zwei, der Mann gegenüber ist kein Dritter, sondern für einen der beiden der jeweils andere. Werden sie jeder für sich bleiben, werden sie in Streit geraten, werden sie sich verbünden, um dem Gestürzten zu helfen oder werden sie sich verbünden, um über ihn herzufallen. Der Erinnerungsfaden des Reiters reißt an dieser Stelle. Als sich später das erinnerte Landschaftsbild als Täuschung erweist, fällt ein Verdacht auch auf die Episode des stolperndes Pferdes. Die erinnerte Wirklichkeit ist nicht verläßlicher als ein Traum und durchsetzt von Täuschungen und Erträumtem.
Das Pferd stolperte
Das Pferd stolperte
Montag, 9. Mai 2011
Das Pferd stolperte
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Lange Zeit habe er in dem Glauben gelebt, sich an diesen Ritt in allen Einzelheiten erinnern zu können, aber nichts traf weniger zu als das. Deutlich sah er das Bild, in dem sich, bei schon abnehmenden Licht, die Stadt Ivrea aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile ihm zum ersten Mal dargeboten hatte. Wo es aus dem breiter werdenden Tal langsam in die Ebene hinausgeht, lag sie, etwas zur Rechten, während links, in die Tiefe der Entfernung hinein, sich die Berge erhoben, der Resegone di Lecco, der ihm später noch soviel bedeuten sollte, und ganz im Hintergrund wohl der Monte Rosa. Aber das Pferd stolperte, fiel auf die Vorderbeine nieder, er wurde abgeworfen. Zwei Männer, die jeder für sich irgendwo im Baumschatten gelungert hatten, kamen hervor und besahen den Abgestürzten. Alles war jedem von ihnen, so schien es, irgendwie verdächtig, das Pferd, das wieder aufrecht stand, der Reiter, der Mann gegenüber, der plötzlich gelockt von dem Unfall hervorgekommen war. Sie näherten sich langsam, die Lippen mürrisch aufgeworfen und mit der Hand, die sie in das vorn offene Hemd geschoben hatten, fuhren sie unschlüssig an Brust und Hals herum. Diese Einzelheiten sah er, der Reiter, in der Erinnerung mit äußerster Klarheit, wie aufgezeichnet, vor sich, mit noch so großer Anstrengung aber gelang es ihm nicht, sich des Fortgangs der Episode oder des weiteren Ritts zu entsinnen. Jahre später, bei der Durchsicht alter Papiere, sei er dann auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestoßen und habe sich eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von eben dieser Gravure. Nun, nach dem ihm diese so sichere Erinnerung genommen war, konnte er sich auch schon in keiner Weise mehr sicher sein, ob der Sturz vom Pferd bei dieser Reise stattgefunden hatte oder bei einer anderen, ob er überhaupt stattgefunden hatte und nicht vielmehr nur ein Traumbild war.
Kommentar
Sonntag, 8. Mai 2011
Auf schmalem Rand
Aus dem Schattenreich
Walser, Vogl, Sebald, Kinbote
Laut einer Notiz im SPIEGEL hat Martin Walser, als junger Mensch noch, sich aus der vollkommenen Innerlichkeit der kurzen Texte in die vergleichsweise greifbarere Welt der Romane Kafkas gerettet. Wollte man unter Innerlichkeit nach üblicher Weise das Verlassen einer unfreundlichen Außenwelt zugunsten der gepolsterte Geborgenheit eigenen Innenlebens verstehen, würde naturgemäß kaum eine Vokabel weniger zu Kafka passen als diese. Vermutlich kommt Joseph Vogl dem was Walser sagen will mit dem Bild des schmalen Randes gleich im ersten Satz seines Kafkabuchs näher: Kafkas Literatur hat die Lektüre auf deren unruhiges und ungeduldiges Element verpflichtet und den Raum des Lesens eingeengt und totalisiert zugleich. Die innere Weite des Erzählens, die Spannung zwischen Erfahrung und Sinn, in der die Zeit aufgehoben scheint, als Zeit der Erinnerung, des Eingedenkens und der Kontemplation wiederkehren mag und das Lesen selbst noch als gelassenen Aufschub des Wirklichen begünstigt – diese innere Weite des Erzählens ist bei Kafka auf einen schmalen Rand zusammengedrängt, auf dem die Wörter nie vom Bedeuten erlöst sind und nicht in einem gemeinsamen Horizont des Sinns zusammenfließen.
Halten wir uns aber Walsers Unterscheidung zwischen Kafkas Romanen und Kurztexten. Ein unbestreitbares Unterscheidungsmerkmal, neben der Länge, ist, daß die kürzeren Texte zum Teil abgeschlossen wurden, die Romane, es sind nur drei, dagegen nicht. Es kann kaum verwundern, wenn Kafka, balancierend auf seinem schmalen Rand, Schwierigkeiten mit der großen Form hat, keine dagegen mit der noch so winzigen Miniatur. Liest man den Landarzt, ein Text von atemberaubender Makellosigkeit und ungefähr zehn Seiten Umfang, als die Erzählung von einer verfehlten Ausfahrt, so kann das Nächste Dorf, ein nicht weniger perfekter Text von weniger als zehn Zeilen als ein Remake gelten, das von einem Ausrücken oder Ausritt jeglicher Art abrät. Aber auch die kleinformatige Prosa Kafkas ist in der Überzahl unabgeschlossen. Unüberschaubar ist die Zahl der Prosafragmente in den Tagebüchern und auf anderen Papieren, die die Welt schmerzhaft anreißen, eine große Weite ahnen lassen, sie aber nicht betreten.
Auch Sebald kommt in einem gewissen Sinne auf Kafkas Innerlichkeit zu sprechen, wenn er dessen geringes Interesse an der Außenwelt während der Italien- und Badereise nach Riva moniert. Die Schwindel.Gefühle wurden bereits gedeutet als Versuch, Kafka aufzuheitern, man mag man sie auch als eine Einladung an Kafka verstehen, den schmalen Rand zu verlassen, um sich in der üppigen Weite von Sebalds Satzlandschaft zu ergehen. Von den Schwindelgefühlen, die Kafka auf seinem schmalen Sims befallen haben mögen, kann ihn das allerdings nicht erretten, vielmehr verstärkt er sie für uns alle erheblich. Auch müssen wir fragen, wie Kafka, der so wenig Augen für die Außenwelt zu haben scheint, uns immer wieder mühe- und aufwandlos mit betörende Bilder der Außenwelt sprachlos machen kann, so beim Anblick der Barke des Jägers Gracchus, die auch Sebald in ihren Bann geschlagen hat: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. - In Riva wird er, auch bei aufmerksamen Blick, ein solches Schiff wohl nicht gesehen haben.
Auch in China, das er nie besucht hat, dessen Weite er aber liebte, kennt Kafka sich bestens aus und kann uns bei der Hand nehmen, wie der Vater einen Sohn: Der Vater hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes. Als wir endlich zum Ufer am Flußdelta kamen, hielt die Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen.
Die Dingwelt hat unbestreitbar einen tief eindrücklichen Platz in Kafkas Prosa. Wenn Walser schreibt, die Texte würden sich auf die Wirklichkeit des Jahrhunderts nicht mehr einlassen als die Evangelien, so hat er natürlich die soziale Welt im Auge. Abgesehen von der Frage der Richtigkeit dieser Einschätzung – die Wirklichkeit der Kaufmannswelt etwa dringt auch in viele der kürzesten Texte ein – kann dieser Vergleich nur als Ehrung verstanden werden. Wittgenstein schreibt den Evangelien eine Stillosigkeit nicht diesseits, sondern jenseits allen Stils zu und erklärt damit ihre ewige Jugend. Auf eine untergründige Weise scheint das so verstandene Merkmal der Stillosigkeit dem des schmalen Randes verwandt, und in der Tat deuten die ersten hundert Jahre Kafka auf einen extrem hohen Halbzeitwert dieser Prosa hin.
Es mag unüblich sein, aus einem Leseerlebnis ein mangels Alternative dann als Roman bezeichnetes Buch wie die Schwindel.Gefühle abzuleiten, und doch liegt ein höchst gewöhnliches Verhältnis zugrunde liegt. Bei vergrößertem Blickwinkel zeigt sich, daß jeder Autor, bei noch so großer innerer Weite des Erzählens, angesichts der überwältigenden Komplexität der realen Welt letztlich auf einem schmalen Rand nur existiert, so daß die Leser zu seiner Befreiung aufgerufen sind. Lesen ist ein Vorgang mit zwei Seiten, wir versuchen, in der Welt des Dichters heimisch zu werden und kommen nicht umhin, ihn auch in die unsrige einzuladen. Naturgemäß hat nicht jeder ein so komfortables Heim wie Sebald. Allerdings, wenn man es recht bedenkt, lädt er ein ins Landhaus, in Hotels und Pensionen, nie aber zu sich nach Haus. Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns eingeschlichen in die Unterkünfte, im Schatten der Vorhänge gelauscht und nicht genutzte Gesprächsfetzen aufgezeichnet.
Ein auf seine Art kaum weniger genialer Leser als Sebald ist der uns aus Nabokows Pale Fire bekannte Charles Kinbote. Mit traumwandlerischer Sicherheit und äußerster Zuverlässigkeit verfehlt er in seiner Lesung und seinem Kommentar zu John Shades Versepos für jeden Satz jeden auch nur irgend denkbaren Sinn, oder würde ihn verfehlen, wenn denn der größte Unfug nicht doch noch seinen Sinn hätte. Kinbote erfüllt uns durchschnittliche Leser dabei mit Resignation und Übermut zugleich, Resination wegen der möglichen Willkür und Übermut wegen der zu genießenden Freiheit des Lesens. Während wir uns bei der Lektüre Kafkas vorsichtig von Sebald bei der Hand nehmen lassen, lassen wir uns bei der Kommentierung der entstandenen Hybridgebilde mit unklarer Existenzberechtigung ein wenig von der Art Kinbotes verleiten.
Walser, Vogl, Sebald, Kinbote
Laut einer Notiz im SPIEGEL hat Martin Walser, als junger Mensch noch, sich aus der vollkommenen Innerlichkeit der kurzen Texte in die vergleichsweise greifbarere Welt der Romane Kafkas gerettet. Wollte man unter Innerlichkeit nach üblicher Weise das Verlassen einer unfreundlichen Außenwelt zugunsten der gepolsterte Geborgenheit eigenen Innenlebens verstehen, würde naturgemäß kaum eine Vokabel weniger zu Kafka passen als diese. Vermutlich kommt Joseph Vogl dem was Walser sagen will mit dem Bild des schmalen Randes gleich im ersten Satz seines Kafkabuchs näher: Kafkas Literatur hat die Lektüre auf deren unruhiges und ungeduldiges Element verpflichtet und den Raum des Lesens eingeengt und totalisiert zugleich. Die innere Weite des Erzählens, die Spannung zwischen Erfahrung und Sinn, in der die Zeit aufgehoben scheint, als Zeit der Erinnerung, des Eingedenkens und der Kontemplation wiederkehren mag und das Lesen selbst noch als gelassenen Aufschub des Wirklichen begünstigt – diese innere Weite des Erzählens ist bei Kafka auf einen schmalen Rand zusammengedrängt, auf dem die Wörter nie vom Bedeuten erlöst sind und nicht in einem gemeinsamen Horizont des Sinns zusammenfließen.
Halten wir uns aber Walsers Unterscheidung zwischen Kafkas Romanen und Kurztexten. Ein unbestreitbares Unterscheidungsmerkmal, neben der Länge, ist, daß die kürzeren Texte zum Teil abgeschlossen wurden, die Romane, es sind nur drei, dagegen nicht. Es kann kaum verwundern, wenn Kafka, balancierend auf seinem schmalen Rand, Schwierigkeiten mit der großen Form hat, keine dagegen mit der noch so winzigen Miniatur. Liest man den Landarzt, ein Text von atemberaubender Makellosigkeit und ungefähr zehn Seiten Umfang, als die Erzählung von einer verfehlten Ausfahrt, so kann das Nächste Dorf, ein nicht weniger perfekter Text von weniger als zehn Zeilen als ein Remake gelten, das von einem Ausrücken oder Ausritt jeglicher Art abrät. Aber auch die kleinformatige Prosa Kafkas ist in der Überzahl unabgeschlossen. Unüberschaubar ist die Zahl der Prosafragmente in den Tagebüchern und auf anderen Papieren, die die Welt schmerzhaft anreißen, eine große Weite ahnen lassen, sie aber nicht betreten.
Auch Sebald kommt in einem gewissen Sinne auf Kafkas Innerlichkeit zu sprechen, wenn er dessen geringes Interesse an der Außenwelt während der Italien- und Badereise nach Riva moniert. Die Schwindel.Gefühle wurden bereits gedeutet als Versuch, Kafka aufzuheitern, man mag man sie auch als eine Einladung an Kafka verstehen, den schmalen Rand zu verlassen, um sich in der üppigen Weite von Sebalds Satzlandschaft zu ergehen. Von den Schwindelgefühlen, die Kafka auf seinem schmalen Sims befallen haben mögen, kann ihn das allerdings nicht erretten, vielmehr verstärkt er sie für uns alle erheblich. Auch müssen wir fragen, wie Kafka, der so wenig Augen für die Außenwelt zu haben scheint, uns immer wieder mühe- und aufwandlos mit betörende Bilder der Außenwelt sprachlos machen kann, so beim Anblick der Barke des Jägers Gracchus, die auch Sebald in ihren Bann geschlagen hat: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen. - In Riva wird er, auch bei aufmerksamen Blick, ein solches Schiff wohl nicht gesehen haben.
Auch in China, das er nie besucht hat, dessen Weite er aber liebte, kennt Kafka sich bestens aus und kann uns bei der Hand nehmen, wie der Vater einen Sohn: Der Vater hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes. Als wir endlich zum Ufer am Flußdelta kamen, hielt die Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen.
Die Dingwelt hat unbestreitbar einen tief eindrücklichen Platz in Kafkas Prosa. Wenn Walser schreibt, die Texte würden sich auf die Wirklichkeit des Jahrhunderts nicht mehr einlassen als die Evangelien, so hat er natürlich die soziale Welt im Auge. Abgesehen von der Frage der Richtigkeit dieser Einschätzung – die Wirklichkeit der Kaufmannswelt etwa dringt auch in viele der kürzesten Texte ein – kann dieser Vergleich nur als Ehrung verstanden werden. Wittgenstein schreibt den Evangelien eine Stillosigkeit nicht diesseits, sondern jenseits allen Stils zu und erklärt damit ihre ewige Jugend. Auf eine untergründige Weise scheint das so verstandene Merkmal der Stillosigkeit dem des schmalen Randes verwandt, und in der Tat deuten die ersten hundert Jahre Kafka auf einen extrem hohen Halbzeitwert dieser Prosa hin.
Es mag unüblich sein, aus einem Leseerlebnis ein mangels Alternative dann als Roman bezeichnetes Buch wie die Schwindel.Gefühle abzuleiten, und doch liegt ein höchst gewöhnliches Verhältnis zugrunde liegt. Bei vergrößertem Blickwinkel zeigt sich, daß jeder Autor, bei noch so großer innerer Weite des Erzählens, angesichts der überwältigenden Komplexität der realen Welt letztlich auf einem schmalen Rand nur existiert, so daß die Leser zu seiner Befreiung aufgerufen sind. Lesen ist ein Vorgang mit zwei Seiten, wir versuchen, in der Welt des Dichters heimisch zu werden und kommen nicht umhin, ihn auch in die unsrige einzuladen. Naturgemäß hat nicht jeder ein so komfortables Heim wie Sebald. Allerdings, wenn man es recht bedenkt, lädt er ein ins Landhaus, in Hotels und Pensionen, nie aber zu sich nach Haus. Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns eingeschlichen in die Unterkünfte, im Schatten der Vorhänge gelauscht und nicht genutzte Gesprächsfetzen aufgezeichnet.
Ein auf seine Art kaum weniger genialer Leser als Sebald ist der uns aus Nabokows Pale Fire bekannte Charles Kinbote. Mit traumwandlerischer Sicherheit und äußerster Zuverlässigkeit verfehlt er in seiner Lesung und seinem Kommentar zu John Shades Versepos für jeden Satz jeden auch nur irgend denkbaren Sinn, oder würde ihn verfehlen, wenn denn der größte Unfug nicht doch noch seinen Sinn hätte. Kinbote erfüllt uns durchschnittliche Leser dabei mit Resignation und Übermut zugleich, Resination wegen der möglichen Willkür und Übermut wegen der zu genießenden Freiheit des Lesens. Während wir uns bei der Lektüre Kafkas vorsichtig von Sebald bei der Hand nehmen lassen, lassen wir uns bei der Kommentierung der entstandenen Hybridgebilde mit unklarer Existenzberechtigung ein wenig von der Art Kinbotes verleiten.
Mittwoch, 4. Mai 2011
Kommentar Land unter
Une giboulée qui se fit de plus en plus violente
Zum Wetter während seines Aufenthalts in Wien macht Selysses keine genaueren Angaben, angesichts seiner täglichen langen Gänge durch die Stadt, offenbar ohne Regenschirm oder Wettermantel, Gänge, die ihn in verschiedenster Hinsicht erschöpfen, ohne daß er aber über Nässe zu klagen hätte, sind wir bislang von einem ruhigen Herbstwetter, einem goldenen Oktober ausgegangen. Nun erfahren wir zu unserem Erstaunen, es regnet schon seit längerer Zeit anhaltend. Aber halt, sieht man aus dem Fenster, ist es unten trocken. Im Hotelzimmer aber steigt das Wasser unaufhörlich, der Sessel schwimmt bereits. Ist aber das Schwimmen tatsächlich auf das Wasser oder doch auf die Schwindelgefühle zurückzuführen? Wir haben es nicht mit einer Meteorologie der Außenwelt, sondern mit einer Meteorologie des Inneren zu tun. Das aufschwemmende Wasser ist ohnehin nicht das Problem, was er nicht ertragen kann, ist das Schlagen der Tropfen auf den Kopf. Ein Entkommen davor gibt es nicht. Ploc! eccolo ancora l’odioso suono. È la cisterna, non c’è niente da fare. Tutti si lamentano, ma non si è potuto far niente. Das ständige Klopfgeräusch gilt nach weltweiter Übereinkunft als Folter. Wie aber, wenn es von innen kommt, non c’è niente da fare.
Land unter
Zum Wetter während seines Aufenthalts in Wien macht Selysses keine genaueren Angaben, angesichts seiner täglichen langen Gänge durch die Stadt, offenbar ohne Regenschirm oder Wettermantel, Gänge, die ihn in verschiedenster Hinsicht erschöpfen, ohne daß er aber über Nässe zu klagen hätte, sind wir bislang von einem ruhigen Herbstwetter, einem goldenen Oktober ausgegangen. Nun erfahren wir zu unserem Erstaunen, es regnet schon seit längerer Zeit anhaltend. Aber halt, sieht man aus dem Fenster, ist es unten trocken. Im Hotelzimmer aber steigt das Wasser unaufhörlich, der Sessel schwimmt bereits. Ist aber das Schwimmen tatsächlich auf das Wasser oder doch auf die Schwindelgefühle zurückzuführen? Wir haben es nicht mit einer Meteorologie der Außenwelt, sondern mit einer Meteorologie des Inneren zu tun. Das aufschwemmende Wasser ist ohnehin nicht das Problem, was er nicht ertragen kann, ist das Schlagen der Tropfen auf den Kopf. Ein Entkommen davor gibt es nicht. Ploc! eccolo ancora l’odioso suono. È la cisterna, non c’è niente da fare. Tutti si lamentano, ma non si è potuto far niente. Das ständige Klopfgeräusch gilt nach weltweiter Übereinkunft als Folter. Wie aber, wenn es von innen kommt, non c’è niente da fare.
Land unter
Montag, 2. Mai 2011
Land unter
Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgesehen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. Öfters kam es mir dabei vor, wahrscheinlich aufgrund meiner Übermüdung als ob ich irgend jemand mir Bekannten vor mir hergehen sähe. Bei diesen Halluzinationen, denn etwas anderes war es ja nicht, handelte es sich ausschließlich um Menschen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte, um Abgeschiedene gewissermaßen. Außer mit Kellnern und Serviererinnen habe ich mit niemandem ein Wort gewechselt. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus habe ich, wenn mir recht ist, einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, die mit den Dolen um meine Weintrauben kam und die ich bei mir den Sennavogel nannte. Zu später Stunde von meinen Exkursionen zurückkehrend, spürte ich, während ich im Hotelfoyer auf den Lift wartete, den fragenden Blick des Nachtportiers in meinem Rücken. In meinem Zimmer, am Bettrand sitzend, langsam mich auskleidend, war ich über den Anblick meines inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks geradezu entsetzt. Es würgte mich im Hals und die Augen trübten sich mir. Seit gestern regnete es unaufhörlich, etwa um fünf Uhr nachmittags hatte es gestern zu regnen angefangen und heute, am Abend, regnete es noch immer. Das konnte einem doch wohl zu denken geben. Während es aber sonst nur auf der Gasse regnet und in den Zimmern nicht, schien es diesmal umgekehrt zu sein. Sieh aus dem Fenster, bitte, es ist unten doch trocken, nicht wahr? Nun also. Hier aber stieg das Wasser unaufhörlich. Mag es, mag es steigen. Es ist schlimm, ich ertrag es doch. Ein wenig guten Willen und man erträgt es, man schwimmt eben mit seinem Sessel etwas höher, die Verhältnisse ändern sich ja nicht sehr, alles schwimmt eben und man schwimmt etwas höher. Aber dieses Schlagen der Regentropfen auf meinem Kopf, das ertrag ich nicht. Es scheint eine Kleinigkeit, aber eben diese Kleinigkeit ertrage ich nicht oder vielleicht würde ich sogar das ertragen, ich ertrage es nur nicht, dagegen wehrlos zu sein. Und ich bin wehrlos, ich setze einen Hut auf, ich spanne den Schirm aus, ich halte ein Brett über den Kopf, nichts hilft, entweder dringt der Regen durch alles durch oder es fängt unter dem Hut, dem Schirm, dem Brett ein neuer Regen mit der gleichen Schlagkraft an.
Kommentar
Es wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgesehen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. Öfters kam es mir dabei vor, wahrscheinlich aufgrund meiner Übermüdung als ob ich irgend jemand mir Bekannten vor mir hergehen sähe. Bei diesen Halluzinationen, denn etwas anderes war es ja nicht, handelte es sich ausschließlich um Menschen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte, um Abgeschiedene gewissermaßen. Außer mit Kellnern und Serviererinnen habe ich mit niemandem ein Wort gewechselt. Bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus habe ich, wenn mir recht ist, einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, die mit den Dolen um meine Weintrauben kam und die ich bei mir den Sennavogel nannte. Zu später Stunde von meinen Exkursionen zurückkehrend, spürte ich, während ich im Hotelfoyer auf den Lift wartete, den fragenden Blick des Nachtportiers in meinem Rücken. In meinem Zimmer, am Bettrand sitzend, langsam mich auskleidend, war ich über den Anblick meines inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks geradezu entsetzt. Es würgte mich im Hals und die Augen trübten sich mir. Seit gestern regnete es unaufhörlich, etwa um fünf Uhr nachmittags hatte es gestern zu regnen angefangen und heute, am Abend, regnete es noch immer. Das konnte einem doch wohl zu denken geben. Während es aber sonst nur auf der Gasse regnet und in den Zimmern nicht, schien es diesmal umgekehrt zu sein. Sieh aus dem Fenster, bitte, es ist unten doch trocken, nicht wahr? Nun also. Hier aber stieg das Wasser unaufhörlich. Mag es, mag es steigen. Es ist schlimm, ich ertrag es doch. Ein wenig guten Willen und man erträgt es, man schwimmt eben mit seinem Sessel etwas höher, die Verhältnisse ändern sich ja nicht sehr, alles schwimmt eben und man schwimmt etwas höher. Aber dieses Schlagen der Regentropfen auf meinem Kopf, das ertrag ich nicht. Es scheint eine Kleinigkeit, aber eben diese Kleinigkeit ertrage ich nicht oder vielleicht würde ich sogar das ertragen, ich ertrage es nur nicht, dagegen wehrlos zu sein. Und ich bin wehrlos, ich setze einen Hut auf, ich spanne den Schirm aus, ich halte ein Brett über den Kopf, nichts hilft, entweder dringt der Regen durch alles durch oder es fängt unter dem Hut, dem Schirm, dem Brett ein neuer Regen mit der gleichen Schlagkraft an.
Sonntag, 1. Mai 2011
Kommentar Kämpferherz
polemos pantôn men patêr
Von einem seltsam verdeckten Kämpfen im Verborgenen erzählt Kafka, niemand weiß davon, mancher ahnt es, das ist nicht zu vermeiden, aber niemand weiß es. Geheimhaltung scheint wichtig zu sein, so als sei es ehrenrührig zu kämpfen, aber es mag andere Gründe geben. Dabei ist der Kampf gar nichts besonderes, naturgemäß, so lernen wir, kämpft jeder, aber nicht mit letzter Entschlossenheit, mehr wie im Schlaf, dieser eine hier aber kämpft mehr als andere. Schon ist er ein wenig ins Licht gerückt, vorgetreten, aber erst Sebald bringt in ganz ins Rampenlicht, indem er in den Ringen des Saturn seine Identität offenbart, es ist die eines irischen Freiheitshelden. An dieser Stelle ist die Gefahr des Mißverstehens groß. Man würde fehlgehen in der Annahme, daß dieser hier, der mit dem Kämpferherz, im Kampf für die Freiheit Irlands zu seinem wahren Ich gefunden habe. So sehr es ihm auch um die Sache gehen mag, seine Neigung zum Kampf ist grund- und bodenlos, und sein Kampf zweckfrei. Wie viele Kämpfer für Freiheit und Recht sind wohl ähnlich gestrickt. Dieser hier aber dreht die Schraube weiter. Es geht ihm nicht um den Kampf als solchen und schon gar nicht um den Sieg. Die letzte Drehung der Schraube führt in ein dunkles Verstehensloch: Er kämpft, so heißt es, und hat Freude am Kampf, weil es anderes nicht zu tun gibt. Das ist wohl ein Anlaß, die schon so oft bedachte uralte Einschätzung, wonach der Kampf der Vater aller Dinge ist, ein weiteres Mal zu bedenken. Die Einschätzung hätte ihr Recht und ihren Grund nicht in einer Zwiespältigkeit der Welt, sondern in deren Bodenlosigkeit. Das Leben wäre ein Tanz über dem Nichts, und nur der Kampf bewahrt vor dem Absturz. Der Kampf – alle kämpfen – ist unser Leben, und das Leben ist die Freude, an der wir früher oder später zugrunde gehen werden.
Kämpferherz
Von einem seltsam verdeckten Kämpfen im Verborgenen erzählt Kafka, niemand weiß davon, mancher ahnt es, das ist nicht zu vermeiden, aber niemand weiß es. Geheimhaltung scheint wichtig zu sein, so als sei es ehrenrührig zu kämpfen, aber es mag andere Gründe geben. Dabei ist der Kampf gar nichts besonderes, naturgemäß, so lernen wir, kämpft jeder, aber nicht mit letzter Entschlossenheit, mehr wie im Schlaf, dieser eine hier aber kämpft mehr als andere. Schon ist er ein wenig ins Licht gerückt, vorgetreten, aber erst Sebald bringt in ganz ins Rampenlicht, indem er in den Ringen des Saturn seine Identität offenbart, es ist die eines irischen Freiheitshelden. An dieser Stelle ist die Gefahr des Mißverstehens groß. Man würde fehlgehen in der Annahme, daß dieser hier, der mit dem Kämpferherz, im Kampf für die Freiheit Irlands zu seinem wahren Ich gefunden habe. So sehr es ihm auch um die Sache gehen mag, seine Neigung zum Kampf ist grund- und bodenlos, und sein Kampf zweckfrei. Wie viele Kämpfer für Freiheit und Recht sind wohl ähnlich gestrickt. Dieser hier aber dreht die Schraube weiter. Es geht ihm nicht um den Kampf als solchen und schon gar nicht um den Sieg. Die letzte Drehung der Schraube führt in ein dunkles Verstehensloch: Er kämpft, so heißt es, und hat Freude am Kampf, weil es anderes nicht zu tun gibt. Das ist wohl ein Anlaß, die schon so oft bedachte uralte Einschätzung, wonach der Kampf der Vater aller Dinge ist, ein weiteres Mal zu bedenken. Die Einschätzung hätte ihr Recht und ihren Grund nicht in einer Zwiespältigkeit der Welt, sondern in deren Bodenlosigkeit. Das Leben wäre ein Tanz über dem Nichts, und nur der Kampf bewahrt vor dem Absturz. Der Kampf – alle kämpfen – ist unser Leben, und das Leben ist die Freude, an der wir früher oder später zugrunde gehen werden.
Kämpferherz
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