Samstag, 24. September 2011

Dichter im Hotel

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen. Nicht wenige dieser Ereignisse hatten mit ihm zu tun, den ich, so schien mir, nur wenige Tisch entfernt sitzen sah, gerade so wie ich an dem meinen saß. Trotzdem es regnete, war er ganz allein, nur sein Unglück ihm immer gegenwärtig. Im Speisesaal nebenan wurden Gesellschaftsspiele gespielt, an denen er sich wegen Unfähigkeit, wie er sich sagte, nicht beteiligte. Ja trotzdem er endlich, nach seinen unerbittlichen Maßstäben, nur Schlechtes schrieb, fühlte er doch weder das Häßliche noch das Entehrende weder das Traurige noch das Schmerzliche dieses übrigens organischen Alleinseins, wie wenn er nur aus Knochen bestünde. Die Dame die sich in einem Zinngeschirr Milch holte, kam zurück und fragte ihn, ehe sie sich in ihre Karten wieder einarbeitete: Was schreiben Sie eigentlich? Beobachtungen? Tagebuch? und da sie wußte, daß sie seine Antwort nicht verstehen würde, fragte sie gleich weiter: Sind Sie Student? Er antwortete ohne an ihre Schwerhörigkeit zu denken: Nein, aber er habe studiert, während sie schon wieder Karten legte, er mit diesem Satz allein blieb und durch sein Gewicht gezwungen, sie noch eine Weile ansah. Mir selbst ging, gerade auch, nachdem diese ebenso nebelhafte wie eindringliche Erscheinung wieder verflogen war, das Schreiben mit einer mich selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Zeile um Zeile füllte ich die Bogen des linierten Schreibblocks, den ich von zu Hause mitgenommen hatte. Luciana, die hinter mir an der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir herüber, als wolle sie sich vergewissern, daß mir der Faden nicht abgerissen sei. Sie brachte mir auch, wie ich er mir erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Ab und zu auch ein in eine Papierserviette gewickeltes Toastbrot. Meistens blieb sie dann eine Weile bei mir stehen und knüpfte, gerade wie es dem geisterhaften Gefährten mit der Zinngeschirrdame geschehen war, eine kleine Unterhaltung an, in deren Verlauf sie ihre Augen stets über die beschriebenen Blätter gleiten ließ. Und auch sie fragte einmal, was ich sei, ein Journalist vielleicht oder ein Schriftsteller, für einen Studenten war ich denn doch zu alt bereits. Als ich ihr sagte, daß weder das eine noch das andere ganz zutreffe, wollte sie wissen, was ich gerade zu Papier bringe, worauf ich ihr wahrheitsgemäß sagte, daß ich in zunehmenden Maße das Gefühl habe, es handle sich um einen Kriminalroman, der in Oberitalien, in Venedig, Verona und Riva spiele und nicht wenig mit dem Herrn zu tun habe, der eben noch nur einige Tische weiter gesessen habe. Daher käme naturgemäß auch Limone und das Hotel in der Geschichte vor und sogar sie selber. Es ließ sich nicht entscheiden, ob sie der Hinweis auf den nur geisterhaft vorhandenen Nachbarn oder die Einbeziehung ihrer eigenen Person mehr verstörte, jedenfalls ging sie geschwind hinter die Theke zurück, wo sie ihre Arbeit mit der ihr eigenen zerstreuten Genauigkeit erledigte. Immer öfter mußte ich zu ihr herüberschauen, und wenn unsere Blicke sich trafen, lachte sie jedesmal wie über ein dummes Versehen. 

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