Donnerstag, 22. September 2011

Paris jetzt und einst

Aus dem Schattenreich
Kommentar

An diesem Tag sei es auch gewesen, daß Marie, die wie er in der Dokumentensammlung arbeitete und seine seltsame Traueranwandlung bemerkt haben mußte, ihm einen Kassiber zuschob, mit dem sie ihn einlud auf einen Kaffee. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab er sich keine Rechenschaft über die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise, deutete vielmehr nur mit wortlosem Kopfnicken sein Einverständnis an und ging mit ihr durch das Stiegenhaus und über den inneren Hof auf die Bibliothek hinaus, durch einige der an diesem frischen Morgen von einer angenehmen Luft durchwehten Gassen bis hinüber zum Palais Royal, wo die beiden dann lange unter den Arkaden gesessen sind, unmittelbar neben einer Schaufenstervitrine, in der Hunderte und Aberhunderte von Zinnsoldaten in den bunten Monturen der Napoleonischen Armee in Marsch- und Schlachtformationen aufgestellt waren. Das Gespräch in dem Arkadencafé drehte sich zunächst hauptsächlich um die Geschichte und das Bild der französischen Hauptstadt in der Vergangenheit. Leicht sei es etwa, so sagte Marie, angeregt zu diesen Überlegungen vermutlich durch die Zinnsoldaten, sich in das Paris vor hundertundfünfzig oder, besser vielleicht noch, hundert Jahren zurückzuversetzen. Ein gewöhnlicher Tag, auf den Boulevards ist es, sonnig und schön, ruhige Spaziergänger, gegen Hotel de Ville verändert es sich, dort ist eine Revolte der Kommunarden mit vielen Toten, Truppen kommen. Am linken Ufer der Seine zischen die preußischen Granaten. Quai und Brücken sind still. Zurück zum Théatre Francais. Das Publikum kommt aus einer Vorstellung der Mariage de Figaro. Die Abendblätter erscheinen gerade, dieses Publikum sammelt sich um die Kioske, in den Champs Elysées spielen Kinder, Sonntagsspaziergänger sehen neugierig einer Kavallerieeskadron zu, welche mit Trompeten vorüberreitet. Eine gar nicht geringe Schar von Zukunftsbewegten auch aus Deutschland und der Schweiz war Teil des historischen Geschehens. Eine erhaltene kolorierte Karikatur, die ein solches Häufchen zeigt, ist allerdings alles andere als ein Dokument des politischen Radikalismus, der ja aus dieser Windrichtung in den Ländern deutscher Sprache nie überschäumend war. Nur zwei der porträtierten währschaften Männer haben eine Waffe dabei, einer hält, wahrscheinlich zur Stärkung des Muts, die Schnapsflasche in der Hand, der mäusegleiche Fähnrich trägt einen Registerband unter dem Arm und auf seine Fahne gestickt ist als Leitmotiv des deutschen Teils der Bewegung ein überschäumender Bierkrug. Der kleine Mann, der in der Mitte die Trommel rührt ist ein nicht unbekannter Schweizer Dichter als seltsamer Tambour mit Zylinderhut. Im einem, wohl zur Betonung der Internationalität des Unternehmens, in französischer Sprache gehaltenen Brief an die deutsche Mutter steht zu lesen: Tu n’imagines pas, comme ce Paris est immense mais les Parisiens sont de droles de gens, ils trompettent toute la jounée. Offenbar hat bei den Allemands vor allem die musikalische Seite der Angelegenheit Eindruck hinterlassen. Vierzehn Tage war kein warmes Wasser in Paris und Ende Jänner war das Ende der viereinhalbmonatigen Belagerung. Marie schwieg für einen Augenblick und wechselte dann das Thema. Das Gespräch wendete sich baugeschichtlichen Dingen zu, so ging es unter anderem um eine Papiermühle in der Charente, die, so Marie zu den geheimnisvollsten Orten gehörte, an denen sie je gewesen sei.

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