Donnerstag, 8. September 2011

Domm de Milan

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Ich bin die Via Moscova hinabgegangen, über die Via Palestro in die Via Marina hinein; über die Via Gesù, ein Stück die Via Monte Napoleone entlang und auf die Via Alessandro Manzoni, über die ich schließlich auf die Piazza della Scala gelangte, von der ich auf den Domplatz hinüberging. Staunend und benommen bin ich in den Dom eingetreten zwischen Portieren, braun wie in Cadenabbia. Im Inneren des Doms setzte ich mich eine Zeit nieder, machte die Schuhbänder auf und wußte, wie ich mich mit unverminderter Deutlichkeit erinnere, auf einen Schlag nicht mehr, wo ich mich befand. Trotz des angestrengtesten Versuchs, mir Rechenschaft zu geben über den Verlauf der letzten Tage, die mich hierher gebracht hatten, wußte ich nicht einmal zu sagen, ob ich noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weilte. Ein seltsames Verlangen stieg in mir auf, ein Architekturbild des Doms zu liefern, weil der Dom rund herum eine reine Darstellung der Architektur ist, im größten Teil keine Bänke, wenig Standbilder an den fernen Wänden hat und die einzelnen Besucher auf den Bodenplatten als Maßstäbe seiner Ausdehnung aufgestellt sind oder als Maßstäbe seiner Ausdehnung sich bewegen. Erhaben war der Dom, erinnerte aber viel zu schnell an die Galerie. Unverantwortlich schien es mir in diesem Augenblick, ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben. Das tödliche Gefühl des gleichförmigen Vergehens der Tage war unmöglich länger noch zu ertragen. An der Lähmung meines Erinnerungsvermögens änderte sich auch dann nichts, als ich auf die oberste Galerie des Doms hinaufstieg. Ein vorausgehender junger Italiener erleichtert den Aufstieg, indem er eine Melodie summte, den Rock auszuziehn versuchte, durch Ritzen schaute, durch die nur Sonnendunst zu sehen war, und immer auf die Ziffern tippte, welche die Stufenzahl anzeigten. Unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen nahm ich das vom Dunst über der mir nun vollends fremd gewordenen Stadt verdüsterte Panorama in Augenschein. Wo das Wort Mailand hätte auftauchen sollen, rührte sich nichts als ein schmerzhafter Reflex des Unvermögens. Der Mechanismus der Elektrischen unten schien wie verdorben, ramponiert, so schwach rollten sie, nur durch die Biegung der Geleise geführt. Ein Schaffner eilte, von meinem Standpunkt aus gesehen, schief und niedergedrückt zu einer Elektrischen und sprang auf. Von der Hinterfront des Doms schaute man, hinweg über einen Wasserspeier in Mannsgestalt, dem Wirbelsäule und Gehirn herausgenommen sind, damit das Regenwasser einen Weg hat, einer großen Dachuhr gerade ins Gesicht. Ein starker Wind erhob sich und ich mußte mich einhalten, um herabschauen zu können, wo jetzt nicht allein nur der Schaffner, sondern viele Menschen sich in seltsamer Neigung über die Piazza bewegten, als stürze ein jeder einzelner seinem Ende entgegen. Laufet eilends vor dem Wind, ging es mir durch den Kopf, und zugleich kam mir der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Keine Kommentare: