Mittwoch, 23. März 2011

Fremdes Volk

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Man konnte mich nirgends unterbringen, wahrscheinlich, weil ich weder zum Gärtner noch zum Koch noch zum Hausdiener geeignet gewesen bin. Ich habe in der Lower East Side ein Hinterzimmer genommen, das in einen Lichtschacht hinausging. Die Bowery und die ganze Lower East Side war in dieser Zeit das Haupteinwanderungsviertel. Über hunderttausend Juden sind hier alljährlich neu angekommen und in die engen, lichtlosen Wohnungen der fünf- bis sechsstöckigen Mietskasernen eingezogen. Nur der sogenannte parlour hatte in diesen zwei Fenster zur Straße hin, und an dem einen davon führte die Feuerleiter vorbei. Und doch sind die Einwanderer erfüllt gewesen von Hoffnung in jener Zeit, und wenn ich auch ein wenig niedergeschlagen war, so sprach ich mir doch einerseits Mut zu und versuchte andererseits mein Verhalten den Umständen anzupassen. Du bist in die Fremde gegangen, sagte ich mir, und hast Dich bei einem fremden Volk einquartiert. Du hast dort Deinen Mantel an den Nagel gehängt, niemand hat sich um Dich gekümmert. Man läßt Dich gewähren, man weiß, daß keine Gefahr von Dir droht. Was will der Einzelne gegenüber der großen Menge. Du bist gekommen und man läßt Dir für Dein Kommen die Verantwortung. Du hattest wohl kommen müssen, Du hattest eine Zuflucht gebraucht, das ist die stillschweigende Annahme. Die weitere Annahme ist daß Du diese Zuflucht nicht finden wirst oder jedenfalls nicht sogleich, man sieht Dir an, wie wenig Du Dich anzupassen verstehst, die Verhältnisse sind Dir wohl gar zu fremdartig, Du bist nicht am rechten Ort, könnte man meinen. Aber das läßt man Dich kaum fühlen, man ist auch zusehr mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt, vielleicht könntest Du bei diesen Angelegenheiten mit Deinen besonderen Erfahrungen und Fähigkeiten nützlich eingreifen, aber Du wagst Dich nicht einzumischen und man wagt Dich nicht heranzuziehn, die Gefahr, daß Du mit Deiner Fremdheit etwas verderben könntest, ist doch gar noch zu groß.

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