Mittwoch, 9. März 2011

Weisheit

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Je ne lirai plus les sages

Auf dem Grabenbrückchen, auf dem wir noch eine Weile gestanden sind, erzählte Garrad mir von seiner Vorliebe für die Enten, von denen jetzt ein paar still auf dem Wasser herumruderten und das Futter auffischten, das er ab und zu aus seinem Hosensack holte und hinabstreute für sie. Immer habe er Enten gehalten, schon als Kind, und immer sei ihm die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzig möglich Antwort erschienen auf die Fragen, die ihn seit jeher bewegten. Auf die Weisheit der Weisen, mit der er bei seiner schon Jahre andauernden Arbeit am Modell des Jerusalemer Tempels naturgemäß vielfach in Berührung gekommen sei, sei demgegenüber nur wenig Verlaß. Viele beklagten sich zu Recht, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: Gehe hinüber, so meint er nicht, daß man auf die andere Straßenseite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas was wir nicht kennen, was auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und was uns also hier gar nicht helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt. Aber das womit wir und eigentlich jeden Tag abmühn, seien andere Dinge. Ich fragte, warum er sich wehre. Würde er den Gleichnissen folgen, dann wäre er selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Und sei nicht genau das die Wahrheit über ihn, es vergehe doch kaum ein Tag, an dem er nicht zumindest ein paar Stunden an dem Tempelmodell arbeite. Fast den gesamten letzten Monat habe er nach seinen eigenen Worten damit zugebracht, an die hundert der nicht einmal einen Zentimeter großen Figuren zu bemalen, von denen weit über zweitausend inzwischen das Tempelgelände bevölkerten. Und was ein Tempelmodell anderes als ein Gleichnis. Er möchte wetten, daß auch das nur ein Gleichnis sei, so er, und ich darauf: Sie haben gewonnen, und er: Aber leider nur im Gleichnis. Nach kurzem Überlegen sagte ich: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis haben Sie verloren. Über das was wir hatten sagen wollen, hätten wir wohl beide keine Auskunft geben können, die in ihrer Klarheit die des Entengefieders übertroffen hätte.

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