Aus dem Schattenreich
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Es tue ihm leid, mich nicht sogleich bemerkt zu haben, aber seine Kurzsichtigkeit sowohl als die Vertiefung in seine Notizen hätten ihn von allem, was um ihn her vorging, so gut wie völlig ausgeschlossen. Es habe ihm einige Mühe gekostet, weiteres Licht in die mich interessierende Angelegenheit zu bringen. Letzthin sei er deswegen in Matera gewesen. Es handelte sich um eine Besprechung mit Gracchio, der damals auf die eine oder andere Weise mit dem Prozeß zu tun gehabt hatte. Nun war es eigentliche keine so sehr dringliche Angelegenheit gewesen, sie hätte sich wohl, wenn auch langsamer – aber da sie nicht dringlich war, wäre das kein Schaden gewesen – recht gut schriftlich erledigen lassen, aber es traf sich gerade, daß er freie Zeit hatte und Lust bekam, mit Gracchio, hinsichtlich dessen, was er wußte in der Angelegenheit, ins Reine zu kommen, auch kannte er Matera, dessen Besichtigung ihm einmal empfohlen worden war, noch nicht, so entschloß er sich kurzer Hand hinzufahren, leider – es erübrigte keine Zeit mehr dazu – ohne sich vorher zu vergewissern, ob er Gracchio jetzt in Matera auch antreffen würde. Tatsächlich war Gracchio nicht zuhause. Seine Schwester, ein altes Fräulein, klein, schwach, sehr beweglich, überaus freundlich, teilte ihm dies unter vielfachen Äußerungen des Bedauerns inmitten einer großzimmrigen von Sauberkeit blinkenden Wohnung mit. Während sie den Caffè tranken, den er aus Höflichkeit nicht hatte ausschlagen wollen, zeigte sich, daß sie in der fraglichen Angelegenheit kaum weniger bewandert war als ihr Bruder. Die Geschichte, die sie erzählte, ergab, wie ich - das müsse er einräumen - ganz zu Recht angenommen hatte, eine faszinierende Synopsis der Jahre unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg. Im Zentrum stehe eine gewisse Maria Oggioni, nata Tiepolo, die am 8. November 1912, ihren eigenen Angaben zufolge in Notwehr den Burschen ihres Gemahls, einen Bersagliere namens Quintilio Polimanti, erschossen habe. Der Prozeß, so Gracchios Schwester, habe die Phantasie der Nation wochenlang beschäftigt – entstammte die Angeklagte doch, wie die Presse immer wieder hervorzuheben nicht müde wurde - dem Geschlecht des berühmten venezianischen Malers. Der Prozeß habe zuletzt nichts anderes an den Tag gefördert, als die im Grunde allen bekannte Wahrheit, daß das Gesetz nicht gleich sei für alle und die Gerechtigkeit nicht gerecht. Eigenartig aber, so die Signorina Gracchio, wie in diesem Jahr alles auf einen einzigen Punkt zustrebte, an dem sich, ganz gleich, was es kostete, irgend etwas ereignen mußte. Beim Abschied sagte sie mir, sie habe nun alles erzählt, was sie wisse, ihr Bruder aber werde mir zuverlässig alle ihm bekannten Einzelheiten aufschreiben.
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