Dienstag, 29. März 2016

Schwindelgefühllesungen

Buch der Bücher 

Je voudrais respirer un air plus pur, la tête me tourne 

 

Freitag, 25. März 2016

Abschenkung

Hammerwerfen

Ende September erhielt ich aus dem Verkauf der Liegenschaft Oelling einen größeren Geldbetrag, von dem ich selbst keinen Gebrauch machen, den ich aber sogleich einem guten Zweck zuführen wollte: als Kaskade geht der noch lange andauernde Eingangssatz über uns hinweg, und schon ist die Summe - ein und eine halbe Million, allerdings in dem Groschen näher als der Mark stehenden Schillingen - zum Zwecke der Versorgung entlassener Strafhäftlinge beim Dr. Undt angelangt, der den Spender seinerseits bittet, ihm über mehrere Stunden andauernde Wahrnehmungen des Tages zu berichten, der dem Tag, an welchem er diese Zeilen in die Hand bekommt, vorausgegangen ist. Von der Schenkung - deren Sinn nach Umfang und Zielgruppe niemand in Frage stellt - ist im weiteren nicht mehr die Rede, sondern nur noch vom Watten und den damit verbundenen Fragen. Die Schenkung samt der Bitte um Auskunft ist wie die beschleunigende Drehung im Wurfkäfig, und dann fliegt die Prosa als Hammer und fliegt, bis sie ihm seinen Kopf zertrümmert, mein Herr.

In der Auslöschung steht die Abschenkung nicht am Anfang, sondern am Ende, der Hammerwurfeffekt bleibt aus. Die Schenkung leitet sich einigermaßen folgerichtig aus dem bis dahin Verhandelten ab: Empfänger ist die Israelitische Kultusgemeinde zu Wien. Für einmal hat Bernhard versucht, politisch korrekt zu sein, und doch ist die Abschenkung von Wolfsegg nicht von allen Kritikerinnen beifällig aufgenommen worden. Das Wegschenken des Anwesens sei nichts anderes als eine explizite Verweigerung, die Last der österreichischen Geschichte zu tragen - unwillkürlich tritt das Bild einer langen Reihe österreichischer Lastenträger vor Augen, einer von ihnen Murau-Bernhard. Und nicht genug mit der verweigerten Last, im Grunde, heißt es weiter, würden die Ermordeten durch das Geschenk beleidigt und ein zweites Mal ermordet, Liquidation überall. Während einige der Meinung sind, mit der Evidenz eines literarischen Werkes lasse sich nicht streiten, gewinnen andere starken Tobak daraus und wissen alles besser.

Beim Stiften und Schenken kann man nicht umsichtig genug sein, mag sich auch Wittgenstein gesagt haben. Daß er seinen ihn beim Leben und Denken störenden Reichtum, um ihn bloß loszuwerden, einfach den nicht weniger reichen Verwandten überschrieben hatte, war aber auch nicht allen recht. Hätte er nun wiederum nicht besser Gutes getan, etwa für Strafgefangene oder andere Bedürftige? Der Major Le Strange ist noch vorsichtiger, er verschenkt, stiftet oder überträgt gar nichts. Vielleicht hatte er gehofft, sein großes Vermögen, das er in keiner Weise nutzt, würde verwahrlosen und vergehen wie der große Garten. Tatsächlich aber erbt die Haushälterin (57) bei seinem Tod mehrere Millionen Pfund. Niemand wird die Stirn haben und Florence Barnes, die ihrerseits nach dem Kauf eines Bungalows kaum noch weitere Einfälle zum Geldausgeben hat, das Erbrecht absprechen, allenfalls die Frage einer gerechten Erbschaftssteuer könnte neu aufflammen.

Montag, 21. März 2016

Bull Inn

Rieselnder Verputz

Beim ersten Einnachten auf der englischen Wanderung, im Viktoriahotel Lowestoft, schließt Selysses vollumfänglich an die Erfahrungen der italienischen Reise an. Die verschreckte junge Frau, auf die er stößt, nachdem er längere Zeit durch die völlig verlassenen Räume gewandert war, und die ihm nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reicht, ist gebenedeit unter dem Empfangsdamen, und der gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch, den sie ihm später als Abendbrot reicht und an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer er sich dann die Zinken seiner Gabel verbiegt, erfüllt alle denkbaren Anforderungen an ein unbekömmliches Essen in trostloser Umgebung. Dieser anfängliche Gleichklang den Schwindel.Gefühlen hat dann keine Fortsetzung. Dort hatten wir eine von den Hotelübernachtungen rhythmisierte relativ großräumige reale Bewegung durch Oberitalien und die Alpengegend, Wien, Venedig, Riva, Mailand, Verona, Großvenediger, Allgäu. In den Ringen des Saturn ist eine kleinräumige reale Bewegung im Südosten Englands verschlungen mit sehr großräumigen, nahezu erdballumspannenden mentalen Bewegungen. Detaillierter geschildete Hotelaufenthalte in England könnten die enge reale Bewegung gliedern, nicht aber die schrankenlosen Ausflüge im Geiste.

In Southwold sitzt Selysses in einem Hotelzimmer, ohne daß wir im einzelnen sagen könnten, wie er dahin gekommen ist. Dann ist er auch schon mit Conrad in Polen, Rußland und Afrika. Das unverzügliche Einschlafen vor dem im Rahmen des Werkes ohnehin auffälligen Fernsehgerät verschafft der kurzen Szene gleichwohl einen hohen Erinnerungswert. Auch das Personal des Bull Inn in Woodbridge bleibt uns weitgehend verborgen. Der Wirt habe dem Wanderer ein Zimmer unter dem Dach angewiesen, heißt es lediglich, von Verköstigung ist nicht die Rede. Nach der Sperrstunde wurde es nach und nach still im Gasthof. Ich hörte, wie das alte Fachwerk in den Fugen knackte und ächzte. Meine Augen suchten den Riß, der die niedrige Decke entlanglaufen mochte, die Stelle, wo der Kalk abblätterte von der Wand oder der Mörtel rieselte hinter der Täfelung. Eingeschlafen bin ich erst am Morgen und bald darauf wieder erwacht aus einem Traum, in dem ich Fitzgerald gegenüber saß und mit ihm eine Partie Domino spielte. Jenseits des Blumengartens erstreckte sich bis an den Weltrand ein gleichmäßig grüner und vollkommen leerer Park. Es war aber nicht der Park der FitzGeralds in Boulge, sondern der eines am Fuß der Slieve Mountains in Irland gelegenen Landsitzes.

Die Augen suchen den Riß, als ob er notwendig dasein müßte, als ob es immer einen Riß geben müßte, und tatsächlich haben wir ihn zumindest einmal schon gesehen bei einer ähnlicher Begebenheit, als Kafka in einem Hotel in Triest übernachtet: Die kreisenden Lichtreflexe an der Zimmerdecke zeigten an, daß etwas sogleich sich auftun wird. Schon rieselte der Verputz.

Ausgehend vom Bull Inn werden zwei Verbindungen hergestellt, eine nach Triest und eine nach Irland. Die kurze Episode im Bull Inn wird in Dienst genommen für die Überleitung von der Episode Fitzgerald zur Episode Ashbury. Die Verbindung nach Triest, ein ferner Zuruf Kafkas, befreit die Episode des Bull Inn aus der syntagmatischen Fron und bewahrt ihr die eigene Würde. Auch für die Episoden gilt, daß den Hauptdarstellern, wie der Episode FitzGerald, und den Komparsen, wie der Episode Bull Inn, dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird.

Donnerstag, 17. März 2016

Brackwassersee

ScharzerVogel

Südlich von Lowestoft schaut Selysses hinaus aufs Meer und als ob seine Augen nicht ausreichen würden, nimmt er die der Fischersleute hinzu, die ihre Unterstände in langer Reihe entlang des Ufersaums aufgebaut haben. Die See vor, die Welt hinter sich und weiter voraus nichts mehr als die Leere. Vom Ufer aus läßt sich kaum noch ein Fisch fangen, draußen auf hoher See bislang noch. Der Glaube an die Unerschöpflichkeit des Fischvorrats ist aber inzwischen schwer erschüttert ebenso wie die Doktrin der Schmerzunempfindlichkeit der Meeresbewohner. Das skurrile Projekt, die anfallenden Berge von Schuppen zu einer Art Weltbeleuchtung zu nutzen ist gescheitert, ohne daß daraus aber ein nennenswerter Rückschlag in der unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis sich ergeben hätte. Das sind einige der Gedanken, die Selysses im Voranschreiten durch den Sinn gehen. Ausgehend von der Annahme, er habe ähnlich viel Zeit gebraucht, diese Gedanken zu denken, wie wir Zeit brauchen von ihnen zu lesen, hätten wir ein ungefähres Maß für die zu durchmessende Wegstrecke vom Meeresufer bis zum hinter einer Kiesbank gelegenen Brackwassersee Benacre Broad und bis zum Ende der Fischereiepisode in den Ringen des Saturn. An dem Tag konnte man am See glauben, man schaue hinein in die Ewigkeit. Das Himmelsgewölbe war leer und blau, kein Hauch regte sich in der Luft, wie gemalt standen die Bäume, und nicht ein einziger Vogel flog über das samtbraune Wasser.

Auf den Brackwassersee schaut der Dichter allein ohne die Mithilfe der Fischer. Wer sonst noch sollte sich hierher verirren. Er erlebt eine Augenblicksewigkeit, die zwei Schüben der Gefährdung ausgesetzt ist. Die eine wirkt mittelfristig geologisch-ozeanologisch, die andere, für den Erzählablauf entscheidend, wirkt kurzfristig meteorologisch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Kiesbank in einer Sturmnacht durchbrochen wird und die ganze Gegend ihr Ansehen verändert. Schon jetzt ist es im Grunde eine tote Landschaft. Im Giardino Giusti wurde die Stille hörbar durch das türkische Taubenpaar, das sich mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel erhob und dann eine kleine Ewigkeit stillstand in der blauen Himmelshöhe. Flöge ein Vogel über dem Brackwassersee, so wäre es ein schwarzer Vogel, aderyn du, und er würde mit unheilvollem Krächzen Stille und Frieden zerstören. Bevor aber der schwarze Vogel einfliegt, setzt die meteorologische Verdüsterung ein. Mächtige Quellwolken kamen herauf, zogen langsam einen grauen Schatten über die Erde und schlossen die kurze Ewigkeit für immer.

Dienstag, 8. März 2016

Fischersleute

Nichts als Leere

Auf dem von flachen Kiesbänken durchzogenen Strand sind zu allen Tages- und Jahreszeiten in ziemlich gleichen Abständen voneinander entlang dem Saum des Meeres allerlei zeltartige Unterstände aufgeschlagen. Es ist, als hätten sich die letzten Überreste eines wandernden Volkes hier am äußersten Rand der Erde niedergelassen. In Wirklichkeit aber handelt es sich um Leute aus der engeren Umgebung, die nach alter Gewohnheit von ihren Angelplätzen aus hinausschauen auf die See. Ihre Zahl bleibt trotz fortwährendem Wechsels seltsamerweise immer mehr oder weniger dieselbe. Nur selten soll es geschehen, daß einer der Fischer Kontakt aufnimmt mit seinem Nebenmann. Tatsächlich wird heute vom Ufer aus kaum noch etwas gefangen, sie wollen sich einfach aufhalten an einem Ort, an dem sie die Welt hinter sich haben und voraus nichts mehr als Leere.

Welcher umfassenderen, uns aus dem Werk bekannten Menschenkategorie sind die Fischer an der Küste südlich vom Lowestoft zuzuordnen? Es sind offenbar keine Berufsfischer, eine Zuordnung zum Ferienvolk wäre daher möglich. Sie erfüllen aber nicht die an anderer Stelle des Werkes für diesen Bevölkerungssektor gesetzten Maßstäbe. Die besichtigungserprobten Ferienleute fahren auf einem Miniaturbähnchen durch die Felder, verkleideten Hunde ähnlich oder Seehunden im Zirkus. Um Mitternacht noch sind sie paar- und familienweise unterwegs, eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen, lauter Lemurengesichter, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske. In Bahnhofshallen lagern sie hingestreckt wie von einer schweren Krankheit, ein wahres Heer in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch wenn sie sich vielleicht nicht viel zu sagen haben, sind Ferienleute doch immer in Gruppen oder Horden dichtgedrängt beieinander, das krasse Gegenteil der Einsiedler am Meer.

Rechnen wir die Fischersleute zur Gruppe der Einsiedler, so wäre diese, was die Zahl anbelangt, erheblich erweitert. Aber eignen sich die aus Stangen und Strichwerk, Segeltuch und Ölzeug aufgeschlagenen Unterstände für Eremiten, und vor allem, sind die Abstände groß genug? Wieder orientieren wir uns nicht an objektiven Maßstäben des Einsiedlerlebens, sondern an denen, die das Werk vorgibt, und hier reicht vielleicht, ohne in die Breite zu gehen, der Hinweis, daß der führende Einsiedler, der Eremit strengster Observanz, der Major George Wyndham Le Strange nämlich, den wir nur wenige Seiten später, gleich nach den Fischersleuten, treffen, ein großes steinernes Herrenhaus inmitten eines weitläufigen Gartens bewohnt.

Die Schwierigkeiten bei der Einordnung der Fischersleute beruht nicht zuletzt darauf, daß wir kein Bild von ihnen haben, sie nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Gesichtslosigkeit begünstigt denn auch die träumerische Vorstellung, die letzten Überreste eines wandernden Volkes hätten sich hier am äußersten Rand der Welt niedergelassen. Wandernde Volksstämme begegnen uns immer wieder mit ihren Karawanen, sei es als Gegenstand von Bildwerken, wie in Aurachs Wadi Halfa, sei es als Halluzination, wie in der Pariser Bibliothek. Hier nun sind die Wüstenmenschen buchstäblich und endgültig gestrandet, ein Weiter gibt es nicht, der Sand unter ihren Füßen mag ihnen einen Rest von Heimatgefühl geben. Haben wir es überhaupt mit lebenden Menschen zu tun? Auf dem Bild der Strandkolonie ist kein lebendes Wesen zu entdecken, von hinten sind die Unterstände nicht einsehbar und vorn, zwischen den Verschlägen und dem Meeresufer, traut niemand sich zwischen den aufgestellten Angeln hindurchzugehen. Fände sich ein Verwegener, so stieße er womöglich auf vom Salzwind mumifizierte Körper, leere Augenhöhlen in die Leere gerichtet.

Montag, 7. März 2016

Dieses fromme Weib

Namenlos

Wozu dient dieser Unrat? singt der Chor der Jünger vierstimmig im Anfang von Bachs Matthäuspassion. Eine namenlose Frau begießt Jesus in Haus Simons zu Bethanien mit einem kostbaren Duftwasser, und nicht wenige unter den Jüngern vertreten die Ansicht, die für das Luxusprodukt drangegebene Summe wäre besser den sozial Schwachen zugute gekommen. Andere und auch der Herr selbst halten die Aktion dagegen für angemessen - die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit - und dieser Fraktion gesellt sich naturgemäß auch Bach zu: So lasse mir inzwischen zu, von meiner Augen Tränenflüsse ein Wasser auf dein Haupt zu gießen. Die Inkonsequenz der Matthäuspassion, so Blumenberg, ist die ihres Evangelisten: sie gibt Ruhm und Recht an das Duft spendende Weib, erfüllt aber die Bedingung allen Rühmens nicht, die Namensnennung. Sie bleibt anonym dieses fromme Weib.

Was ist Rühmen anderes als ein Superlativ des Erinnerns. Sebald scheint von der Sorge getrieben, den Fehler des Evangelisten zu wiederholen und setzt in seinen Lebensgeschichten den Namen des zu Erinnernden und in gewisser Weise zu Rühmenden vorsorglich gleich in den Titel: Selwyn, Bereyter, Adelwarth, Aurach, Austerlitz. In dem Buch, das Sebalds Erinnerungsmodus am nächsten kommt, verfährt Modiano gleichermaßen: Dora Bruder. Bei Modiano, der immer nur le peu de choses qu'il sait erzählt, ist der genannte Name bereits ein beträchtlicher Teilbetrag des Erreichbaren.

Auch sonst scheint Sebald von einer gewissen Ungeduld der Namensnennung getrieben. Selysses habe sich mit Salvatore Altamura verabredet, heißt es, ohne daß wir zuvor von Salvatore Altamura gehört hätten. Alec Garrard, der Name geht allem voraus, was wir über Garrard noch erfahren &c. Schwer ist es, die Namenlosen zu würdigen, würde Selysses längere Zeit sinnend am Mahnmal im Engen Plätt verharren, wenn es unbekannten Soldaten gewidmet wäre? Geehrt sind Alois Thimet von Rosenheim, Erich Daimler von Stuttgart, Rudolf Leitenstorfer von unbekanntem Heimatort und der aus Börneke stammende Werner Hempel, gefallen für das Vaterland, wie es heißt, und zwar im April 1945.

Namenlosigkeit ist das Verderben, Prominenz nahe dem ewigen Heil, so will es scheinen, und doch sind uns, wenn wir durch eine Stadt gehen, so gut wie alle Passanten unbekannt und namenlos. Wir können uns Namen für sie ausdenken, sie können Gestalt und Namen bekannter Persönlichkeiten annehmen, Dante, König Ludwig. Gern gewußt hätte Selysses die Namen des jungen Mädchens und der Franziskanerin im Zug nach Mailand, auch wenn der Ordensname immer ein Gefühl des Unmaßgeblichen, ja Unrichtigen zurückläßt, so als sei er nur wenig entfernt von der Sammelbezeichnung der frommen Weiber.

Dienstag, 1. März 2016

Phototermin

Schlieren

Man unterstellt, daß die Schwarzweißaufnahmen wie die des Eingangsbillets zum Giardino Giusti, der Verlustanzeige für den Paß, des Ersatzdokumentes &c. aus der Kamera des Erzählers stammen. Allerdings ist er, wie man dann erfährt, ohne Kamera unterwegs, er muß die Dokumente also für die spätere Ablichtung verwahrt haben. Eine Schwierigkeit ergibt sich beim Rechnungsbeleg der Pizzeria VERONA. Er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber: kein Wort über die in all der Eile noch mitgenommene Rechnung, warum auch, das Verfassen der Schwindel.Gefühle, bei dem sie ihm von Nutzen sein wird, stand noch in den Sternen. Selbst wenn er mit einer Kamera ausgestattet gewesen sein sollte - ausdrücklich bestätigt wird das Fehlen nur für die zweite Reise, nicht für die erste, die mit der Flucht aus der Pizzeria schließt -, hätte er sie in seiner Panik wohl kaum noch zum Einsatz gebracht. Oft schon haben wir den Verzehrbeleg studiert, jeden Quadratzoll durchforscht und fragen uns erst jetzt, wie das möglich war, wie der Beleg uns unter die Augen kommen konnte.

Gravierend werden die Schwierigkeiten, wenn es sich um nicht mitnehmbare Photoobjekte handelt, sondern um frei bewegliche Menschen oder um Immobilien, die sich nicht vom Fleck rühren. Eine geradezu niederdrückende Erfahrung macht Selysses, als er sich im Bus zum Gardasee auf Gedeih und Verderb aber ohne Erfolg ein Photo der kafkaesken Zwillinge beschaffen will. Man muß sich fragen, warum er nicht klug wird aus dem Schaden und sich für die weitere Reise eine preiswerte Minox zulegt. Sofern in Riva dazu keine Gelegenheit bestand, dann doch in jedem Fall wenige Tage später in Mailand, aber auch in Verona ist er noch ohne Photoausrüstung. Die Buchstaben über dem Restaurant des Carlo Cadavero, das er vor sieben Jahren fluchtartig verlassen hatte, waren noch dieselben, aber die Eingangstür war mit einer Spanplatte vernagelt und auch die Läden in den oberen Stockwerken waren sämtlich verschlossen. Im Laden des Photographen nebenan hält Selysses nicht etwa nach einer Minox oder Canon Ausschau, sondern versucht den Inhaber zu überreden, ein Bild von der Vorderfront des Hauses für ihn aufzunehmen. Der aber schüttelt auf seine Bitte hin wie auch auf Fragen zu den Gründen der Geschäftsaufgabe der Pizzeria nur stumm den Kopf. Wieder auf der Straße, gelingt es Selysses, ein junges, aus der Erlanger Gegend stammendes Paar auf Hochzeitsreise zu einem Photo der Pizzeria sowie der Zusage einer späteren Übersendung nach England zu überreden. Ein erbetenes zweites Photo verhindert die Braut durch ungeduldiges Zupfen am Ärmel frisch Vermählten.

Wir wollen uns bescheiden und die Bedenklichkeiten einstellen. Hätte Selysses rational gehandelt und ein Photographiergerät erstanden, wäre uns eine nicht nur schöne, sondern auch unverzichtbare Erzählpassage abhanden gekommen. Wir wären dem anscheinend taubstummen Photographen nicht in der Dunkelkammer seines Ladens begegnet, hätten beim Gehen nicht seine plötzlichen wüsten Verwünschungen gehört. Aus dem Dunkel wäre nicht aufs neue ein altes Bild von seltsamen Schlieren durchzogen aufgetaucht mit zwei Männern in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen, die aus einem Hinterhaus eine Bahre hinaustrugen, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag. Und wir wären nicht den Erlanger Jungvermählten begegnet, die uns an die aus Franken stammenden Eheleute Härdtl denken lassen, deren mediterranes Elend uns Thomas Bernhard vor Augen geführt hat. Möge den Hochzeitsreisenden ein ähnliches Schicksal erspart bleiben.

Askese

Lebensreize

Sebalds Erzählwelt ist mehrheitlich von Asketen unterschiedlich strenger Observanz bewohnt. Unter anderem sind Selwyn und Bereyter zu nennen, Aurach, Austerlitz, die Ashburys, der Major Le Strange und die Mathild Seelos. Krieg und Vernichtung sind bei einigen als möglicher Grund ihrer Lebensweise angedeutet. Wenn es eine Frage war, ob Poesie nach Auschwitz noch möglich sei, beantwortet sich die Frage, ob nach Auschwitz ein hedonistisches Konsumentenleben angemessen ist, von selbst und sie wird so gut wie immer falsch beantwortet. Michael Parkinson hält dagegen, in einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Benn generalisiert diese vereinzelte Erfahrung, wenn er die menschliche Gattung einigermaßen radikal auf zwei Subspezies beschränkt, Verbrecher und Mönche. Als Mönche sah er weniger Benediktiner und Franziskaner als vielmehr Leute wie sich selbst, Künstler strenger Observanz.

Während in der Alltagserfahrung bei dieser Definition die Verbrecher in erdrückender Überzahl sind, ist Sebalds Welt, eingeschlossen von Horizonten gewaltiger Verbrechen, in ihrem Inneren verbrecherfrei. Es fehlen nicht nur die Aktiven, die im Leben ihren Mann stehen, es fehlen so gut wie vollständig auch, so kann man Benn verstehen, die Verbrecher im Guten, Aktivisten und Rechtler, die sich gegen das Kapital und für die Menschenrechte und den Regenwald engagieren. Le Strange stiftet sein ebenso beträchtliches wie ungenutztes Vermögen nicht für gute Zwecke, er läßt es brach liegen und setzt die Haushälterin Florence Barnes als Alleinerbin ein, die, nachdem sie einen bescheidenen Bungalow erworben hat, auch nicht weiß, was weiter damit anzufangen.

Kein Wunder, wenn wir uns in dieser verbrechensfreien Welt wohlfühlen, aber warum stimmen und zumindest einige der Asketen obendrein so frohgemut? Die Art wie die Mathild Seelos Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Auch Le Strange, wie er herumgegangen ist in einem kanarienfarbenen Gehrock oder in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft, ständig umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln, versetzt in eine heitere Stimmung. Mrs. Ashbury schließlich muß unweigerlich stillen Frohsinn hervorrufen, beschäftigt wie sie ist mit dem Sammeln von Blumensamen in Papiertüten, die schließlich in solcher Zahl unter dem Bibliotheksplafond hingen, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der sie, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand.

Benns strenger Ansatz reicht für die Erklärung der Heiterkeit nicht aus, eher schon der mildere Erklärungsansatz, den Blumenberg im Verein mit Nietzsche vertritt. Die Philosophen halten sich an die Definition des Menschen als eines sich langweilenden Wesen. Die ausgehende Antike konnte mit der Steigerung und Übersteigerung ihrer zirzensischen Reize der Langeweile nicht mehr Herr werden. Den Römern wurde es fad im Verlauf der Orgien. Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden: da erfand die Christen mit dem Heilige und dem Asketen eine neue Gattung von Lebensreizen. In Antonionis Film La notte wiederholt der neuzeitliche Latiner Marcello Mastroianni die römische Erfahrung. An der Seite von Jeanne Moreau in einer Nachtbar mit Entertainement äußert er: Das Leben wäre soweit erträglich, wenn man sich nicht vergnügen müßte. Le Strange nimmt sein Klausnerdasein nicht unmittelbar nach Bergen Belsen auf, erst nach aktiven zehn weiteren Jahren in der Gutsverwaltung wurde ihm fad.

Bei Benn scheint es sich um ein stabiles Verhältnis von, in seiner Diktion, Verbrechern und Mönchen zu handeln, bei Nietzsche und Blumenberg um ein Art Staffellauf: wenn das eine Prinzip an seine Grenze kommt, übernimmt das andere den Stab. Sebald richtet seinen Blick ungeachtet der Dominanz der Käufer allein auf die, die praktisch nie zum Einkaufen gehen, Lebemänner anderer Art.