Dienstag, 9. November 2010

Wandermusikanten

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es gab in unserer Gegend am Nordrand der Alpen in jener Zeit außer den gelegentlichen Darbietungen einer durch die Kriegseinwirkung stark dezimierten Jodlergruppe und dem feierlichen Spiel der gleichfalls nur mehr aus ein paar älteren Gesellen bestehenden Blaskapelle bei der Flurumgangs- und Fronleichnamsprozession so gut wie überhaupt keine Musik. Am Sonntag aber hörte ich schon frühmorgens aus dem neuen Rundfunkgerät die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen, denn der Vater, der nur zum Wochenende zu Hause war, hatte eine besondere Vorliebe für die altbayerische Volksmusik, die für mich in der Rückerinnerung den Charakter von etwas Schauderhaften angenommen hat, von dem ich weiß, daß es mich verfolgen wird bis ins Grab. Wenn sich mein musikalischer Horizont dann doch nach und nach, wenn zunächst auch nur langsam und unvollkommen, zu erweitern begann, so nicht zuletzt wegen der fahrenden Musikanten, die in der schlechten Zeit in nicht geringer Zahl durch das Land zogen. Oft kamen sie von weit her und sangen mit einer hohen, aus dem Kehlkopf hervorgepreßten Stimme in einer Weise, wie sie wohl im Mittelmeerraum, auf Korsika und Sardinien nicht weniger als in der Türkei, verbreitet ist. Auch an jenem Tag hörten wir, zunächst von weit her, musikalische Laute und ein Lied dieser Art, das dann urplötzlich abbrach. Wir liefen vor das Haus. Es stand dort ein Wandermusikant mit einer Harmonika. Sein Kleid, eine Art Talar, war unten so in Fetzen, wie wenn der Stoff ursprünglich von einem Tuchstück nicht abgeschnitten, sondern roh mit Gewalt abgerissen worden wäre. Und es stimmte dazu irgendwie die verwirrte Miene des Mannes, der aus einem tiefen Schlaf geweckt zu sein schien und sich mit aller Anstrengung nicht zurechtfinden konnte. Es war, wie wenn er immer von neuem einschliefe und immer von neuem geweckt würde. Wir Kinder wagten nicht ihn anzusprechen und wie sonst Wander- und Bettlermusikanten um ein Lied zu bitten. Auch lief er uns immerfort mit den Augen ab, als bemerke er zwar unsere Anwesenheit, könne uns aber nicht so genau erkennen, wie er wollte. Wir warteten also, bis der Vater kam. Er war hinten in der Werkstatt, es dauerte ein Weilchen, ehe er den langen Flur durchschritt. Wer bist du? fragte er im Nebenzimmer laut und streng, sein Blick war mürrisch, vielleicht war er mit unserem Verhalten dem Musikanten gegenüber unzufrieden, aber wir hatten doch nichts getan und jedenfalls noch nichts verdorben. Wir wurden womöglich noch stiller. Es war überhaupt ganz still, nur die Linde vor unserem Haus rauschte. Ich komme aus Italien, sagte der Musikant, aber nicht wie eine Antwort, sondern wie ein Schuldbekenntnis. Es war, als erkenne er in unserem Vater seinen Herrn. Die Harmonika drückte er an seine Brust, als sei sie sein Schutz.

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