Freitag, 12. November 2010

Vestalin der Versenkung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Ich hatte mich, von den Bergen herabkommend, in einem kleinen dämmrigen Laden nach einer Unterkunftsmöglichkeit erkundigt und war von dem Ladeninhaber, der einen seltsamen zimtfarbenen Übermantel aus dünnem Kattunstoff trug, in ein langes Gespräch verwickelt worden, das sich, wie ich mich noch entsinne, um die Gravitationslehre Newtons drehte. Auch was mein Nachtquartier anbelangte, wußte er Rat und konnte mich sogar einen Teil der Wegstrecke. in seinem Lieferwagen mitnehmen zu den Achenbachs, die nach seinen Worten B&B anboten. Nur eine geringe Strecke hatte ich noch zu laufen und kam doch atemlos an. Eine Stange war ein wenig schief in den Boden gerammt und trug eine Tafel mit der Aufschrift Versenkung. Ich dürfte am Ziel sein, sagte ich mir und blickte mich um; die Frage der Unterkunft war vergessen und kümmerte mich schon nicht mehr. Nur ein paar Schritte weit war eine unscheinbare, dicht mit Grün überwachsene Gartenlaube, aus der ich leichtes Tellerklappern hörte. Ich ging hin, steckte den Kopf durch die niedrige Öffnung, sah kaum etwas in dem dunklen Innern, grüßte aber doch und fragte: Wissen Sie nicht, wer die Versenkung besorgt? Ich selbst, Ihnen zu dienen, sagte eine freundliche Stimme, ich komme sofort. Nun erkannte ich langsam die kleine Gesellschaft, es war ein junges Ehepaar, drei kleine Kinder, die mit der Stirn kaum die Tischplatte erreichten, und ein Säugling, noch in den Armen der Mutter, die ein verblaßtes rotes Sommerkleid trug und so eigenartig steif da stand, als sei sie über dem Anblick des unangemeldet erschienenen Fremden aus der Bewegung heraus erstarrt. Mit weit offenen Augen sah sie mich an oder sah vielmehr durch mich hindurch. Der Mann, der in der Tiefe der Laube saß, wollte gleich aufstehn und sich hinausdrängen, die Frau aber bat ihn herzlich, zuerst das Essen zu beenden, er jedoch zeigte auf mich, sie wiederum sagte, ich werde so freundlich sein und ein wenig warten und ihnen die Ehre erweisen, an ihrem armen Mittagessen teilzunehmen, ich schließlich, äußerst ärgerlich über mich selbst, der ich hier die Sonntagsfreude so häßlich störte, mußte sagen: Leider leider, liebe Frau, kann ich der Einladung nicht entsprechen, denn ich muß mich augenblicklich, ja wirklich augenblicklich versenken lassen. Ach, sagte die Frau, gerade am Sonntag und noch beim Mittagessen. Ach die Launen der Leute. Die ewige Sklaverei. Zanken Sie doch nicht so, sagte ich, ich verlange es ja von Ihrem Mann nicht aus Mutwillen, und wüßte ich, wie man es macht, hätte ich es schon längst allein getan. Hören Sie nicht auf die Frau, sagte der Mann, der schon neben mir war und mich fortzog. Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen. Als sie daraufhin ohne ein Wort davonging über die steinernen Fliesen, fiel mir auf, daß sie barfuß war. Lautlos verschwand sie im Dunkel des Hintergrunds, und ebenso lautlos kam sie nach ein paar Minuten, die mir mit keinem Maß zu messen schienen, aus dem Dunkel als eine Vestalin der Versenkung wieder hervor.

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