Kommentar
Die Straße, in der das Verbrechen geschehen ist, liegt ziemlich weit draußen am Rande der Stadt. Unweit einer großen Kreuzung, an der immer der Verkehr sich staut und wo auf den Gehwegen an Samstagen die Kleider- und Stoffhändler ihre Stände aufschlagen und Hunderte von Menschen sich drängen, verläuft sie, eine auffallend stille Gasse parallel zu der breiten Ausfallstraße. Gleich an der Ecke ein niedriger festungsartiger Wohnblock, dann ein grasgrüner Kiosk, in dem, obwohl die Waren offen ausliegen, kaum je ein Verkäufer zu sehen ist, ein von einem gußeisernen Zaun umgebener und, wie man meinen konnte, von niemandem je betretener Rasenplatz und schließlich eine mannshohe, zirka fünfzig Meter lange Ziegelmauer auf der rechten Seite, an deren Ende sich das Haus mit der Wohnung des Advokaten Monderry und seiner Frau befand. In der sehr geräumig wirkenden Wohnung gab es nur das Nötigste an Mobiliar und weder Vorhänge noch Teppiche. Die Wände waren in einem hellen, die Dielen in einem dunkleren Mattgrau gestrichen. In dem Vorderzimmer stand, außer einer alten Ottomane, einzig ein großer, gleichfalls mattgrau lasierter Tisch. Der Tatbestand, der rücksichtlich des plötzlichen Todes des Advokaten Monderry zunächst festgestellt wurde, war folgender: Eines Morgens gegen halb fünf Uhr, es war ein schöner Junimorgen und schon ganz hell, lief Frau Monderry aus ihrer Wohnung im dritten Stockwerk, beugte sich über das Treppengeländer und rief mit ausgebreiteten Armen, offenbar in der Absicht, das ganze Haus zu Hilfe zu rufen: Mein Mann ist ermordet worden! Gnade! Gnade! Mein guter Mann ist ermordet worden! Der erste, der Frau Monderry sah und hörte, war ein Bäckerjunge, der gerade zu dieser Zeit, in beiden Händen einen großen Korb mit Semmeln, die letzten Stufen zum dritten Stockwerk erstieg. Er war es auch, der beim ersten Verhör behauptete, den Anruf der Frau Monderry wortgetreu im Gedächtnis behalten zu haben. Später jedoch, als er Frau Monderry gegenübergestellt wurde, nahm er diese Aussage zurück und erklärte, er könne sich doch getäuscht haben, da er im ersten Augenblick allzusehr über die Erscheinung der Frau erschrocken sei. Das war allerdings sehr wahrscheinlich, denn noch nach Wochen war er, wenn er den Vorfall darstellte, so erregt, daß er seine Erzählung mit übertriebenen Bewegungen der Hände und Füße begleitete, um beim Zuhörer wenigstens einen Eindruck zu erzeugen, der annähernd an jenen heranreichte, den er in sich bewahrte. Nach seiner Erzählung war Frau Monderry aus der Tür, deren Öffnen er gar nicht bemerkt hatte und von der er daher glaubte, daß sie schon vorher offen gewesen war, mit einem Schrei herausgeflogen, habe ihre über dem Kopf ineinandergekrampften Hände auseinandergerissen und war zum Geländer geeilt. Sie war mit nichts anderem bekleidet gewesen als mit dem Nachthemd und einem kleinen grauen Tuch, das aber nicht einmal ihren Oberkörper vollständig verhüllte. Ihr Haar war aufgelöst und hing ihr zum Teil über das Gesicht herab, was auch dazu beitrug, ihren Ausruf undeutlich zu machen. Kaum erblickte sie den Bäckerjungen, als sie zur Treppe lief, ihn mit zitternden Händen zu sich emporzog, hinter ihn trat und ihn als eine Art Schutz vor sich her schob, während sie seine Schultern umklammert hielt. In der Eile dachte der Junge nicht daran, daß er den Korb mit Semmeln irgendwo hinstellen könne und ließ ihn die ganze Zeit über nicht aus den Händen. So gingen sie – die Frau preßte in steigender Angst den Jungen immer fester an sich – mit schnellen, aber ganz kurzen Schritten der Wohnungstüre zu, überschritten die Schwelle und rückten im dunklen schmalen Vorderzimmer vor. Immer war das Gesicht der Frau rechts oder links vom Jungen vorgebeugt, sie schien auf etwas zu lauern, das sich gleich zeigen müsse, manchmal riß sie den Jungen zurück, als wäre es unmöglich weiter vorzugehn, dann aber drückte sie ihn doch wieder mit ganzem Körper vorwärts. Die erste Zimmertür, die auf ihrem Wege lag, öffnete die Frau mit einer Hand, mit der andern hielt sie sich hinten am Halse des Jungen fest. Sie überblickte den Boden, die Wände und die Zimmerdecke, fand nichts, ließ die Tür offen und ging nun entschlossener, immer noch mit dem Jungen, zur nächsten Tür. Diese stand schon weit offen. Beim Eintritt sah man nicht viel mehr als zwei nebeneinander stehende Betten. Das Zimmer war dunkel, nur ein Schimmer des noch schwachen Tageslichtes drang herein. Auf dem Nachttischchen bei dem der Tür zunächst stehenden Bett brannte ein kleiner Kerzenstumpf. An diesem Bett war auch nichts Ungewöhnliches zu sehn, in dem andern aber mußte etwas geschehen sein. Jetzt war es der Junge, der nicht vorwärts wollte, aber die Frau stieß ihn mit Fäusten und Knien vor. Bei einem Verhöre wurde er gefragt, warum er gezögert habe, ob vielleicht aus Furcht vor dem, was er in dem Bett etwa zu sehen erwartet hatte. Darauf antwortete er, er fürchte sich überhaupt nicht und habe sich auch damals nicht gefürchtet, aber er habe damals das Gefühl gehabt, als halte sich etwas irgendwo im Zimmer versteckt und könne plötzlich hervorspringen. Dieses Etwas, das er nicht näher beschreiben konnte, habe er zunächst erwarten wollen, ehe er vorwärtsging. Da aber der Frau so viel daran zu liegen schien, zum zweiten Bett zu kommen, gab er schließlich nach.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen