Montag, 8. November 2010

Die Karawanserei

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Ich habe versucht, die Wolkensäule mir vorzustellen, die dem wandernden Volk, wie es in einer seltsamen Wendung hieß, voran des Weges ging, und versenkte mich, alles um mich her vergessend, in eine ganzseitige Illustration der Kinderbibel, in der die Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken und dem grau gestrichelten Hintergrund, den ich manchmal für das Meer und manchmal für den Luftraum gehalten habe, ganz der Gegend glich, in der ich aufgewachsen war. Tatsächlich wußte ich mich unter den winzigen Figuren, die das Lager bevölkerten, an meinem richtigen Ort. Jeden Quadratzoll der mir gerade in ihrer Vertrautheit unheimlich erscheinenden Abbildung habe ich durchforscht. In einer etwas helleren Fläche an der steil abstürzenden Bergseite zur Rechten glaubte ich, einen Steinbruch zu erkennen und in den gleichmäßig geschwungenen Linien darunter die Geleise einer Bahn. Am meisten aber gab mir der umzäumte Platz in der Mitte zu denken und der zeltartige Bau am hinteren Ende, über dem sich eine Rauchwolke erhebt. Dieser Teil des Bildes war in meiner Vorstellung auf eine mich selbst überraschende Weise überlagert von dem von einer unbekannten Hand gemalten Fresko, das eine Karawane zeigte, die aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus über ein Wellengebirge von Dünen hinweg direkt auf den Betrachter zu sich bewegte. Infolge der Ungeschicklichkeit des Malers und der schwierigen Perspektive, die er gewählt hatte, wirkten die menschlichen Figuren sowohl als die Lasttiere in ihren Umrissen leicht verzerrt, so daß es, wenn man die Lider halb senkte, tatsächlich war, als erblicke man eine in der Helligkeit und Hitze zitternde Fata Morgana. Das fragliche Fresko schmückte eine der Wände des ethnischen Lokals Wadi Halfa unweit unserer Wohnung, in das uns der Vater des öfteren einlud zu einem der grauenvollen, halb englischen, halb afrikanischen Gerichte, die vom Koch des Wadi Halfa in einer hinter dem Tresen aufgebauten feldküchenartigen Einrichtung mit einer apathischen Eleganz sondergleichen zubereitet wurden. Der eher abstoßende Charakter des Aufgetischten verdroß mich wenig, gefesselt wie ich war von dem Fresko, das mir die zentralen Anlagen der Bibelillustration unmißverständlich als Karawanserei zu verstehen gab. In dieser Karawanserei, so stellte ich mir vor, war niemals Schlaf, dort schlief niemand; aber wenn man dort nicht schlief, warum ging man hin? Um das Tragvieh ausruhn zu lassen. Es war nur ein kleiner Ort, eine winzige Oase, aber sie war ganz von der Karawanserei ausgefüllt und die war nun allerdings riesenhaft. Es war für einen Fremden, so schien es mir wenigstens, unmöglich, sich dort zurechtzufinden. Die Bauart verschuldete das auch. Man kam zum Beispiel in den ersten Hof, aus dem führten etwa zehn Meter voneinander entfernt zwei Rundbögen in einen zweiten Hof, man ging durch den einen Bogen und kam nun statt in einen neuen großen Hof, wie man erwartet hatte, auf einen kleinen finstern Platz zwischen himmelhohen Mauern, erst weit in der Höhe sah man beleuchtete Loggien. Nun glaubte man sich also geirrt zu haben und wollte in den ersten Hof zurückgehn, man ging aber zufällig nicht durch den Bogen zurück, durch den man gekommen war, sondern durch den zweiten nebenan. Aber nun war man doch nicht auf dem ersten Platz, sondern in einem andern viel größeren Hof voll Lärm, Musik und Viehgebrüll. Man hatte sich also geirrt, ging wieder auf den dunklen Platz zurück und durch den ersten Türbogen. Es half nichts, wieder war man auf dem zweiten Platz und man mußte durch einige Höfe sich durchfragen, ehe man wieder in den ersten Hof kam, den man doch eigentlich mit ein paar Schritten verlassen hatte. Unangenehm war nun, daß der erste Hof immer überfüllt war, dort konnte man kaum ein Unterkommen finden. Es sah fast so aus, als ob die Wohnungen im ersten Hof von ständigen Gästen besetzt seien, aber es konnte doch in Wirklichkeit nicht sein, denn hier wohnten nur Karawanen, wer hätte sonst in diesem Schmutz und Lärm leben wollen oder können, die kleine Oase gab ja nichts her als Wasser und war viele Meilen von größeren Oasen entfernt. Also ständig wohnen, leben wollen, konnte hier niemand, es wäre denn der Besitzer der Karawanserei und seine Angestellten, aber die habe ich, trotzdem ich einigemal dort gewesen bin, nie gesehn, auch nichts von ihnen gehört. Es wäre auch schwer vorzustellen gewesen, daß, wenn ein Besitzer vorhanden war, er solche Unordnung, ja Gewalttaten zugelassen hätte, wie sie dort üblich waren bei Tag und Nacht. Ich hatte vielmehr den Eindruck, daß die jeweilig stärkste Karawane dort herrschte und dann, nach der Stärke abgestuft, die andern. Allerdings alles wird dadurch nicht erklärt. Das große Eingangstor zum Beispiel war gewöhnlich fest verschlossen; es Karawanen zu öffnen, die kamen oder gingen, war immer eine geradezu feierliche Handlung, die man auf umständliche Weise erwirken mußte. Oft standen Karawanen draußen stundenlang im Sonnenbrand, ehe man sie einließ. Das war zwar offene Willkür, aber man kam ihr doch nicht auf den Grund. Man stand also draußen und hatte Zeit, die Umrahmung des alten Tores zu betrachten. Es waren rings um das Tor in zwei, drei Reihen Engel in Hochrelief, die Fanfaren bliesen; eines dieser Instrumente, gerade auf der Höhe der Torwölbung, ragte tief genug in die Toreinfahrt hinab. Die Tiere mußten immer vorsichtig herumgeführt werden, daß sie nicht daran schlugen, es war merkwürdig, insbesondere bei der Verfallenheit des ganzen Baus, daß diese allerdings schöne Arbeit gar nicht beschädigt war, nicht einmal von denen, die solange in ohnmächtigem Zorn vor dem Tor schon gewartet hatten. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß...

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