Sonntag, 14. November 2010

Dorngebüsch

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Mehr als ein Jahr lang bin ich bei Einbruch der Dunkelheit außer Haus gegangen, immer fort und fort, quer durch alle Stadtteile, auch hinaus auf die Heide, südwärts über den Fluß oder nach Westen in den großen Park. Man kann ja tatsächlich zu Fuß in einer einzigen Nacht fast von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachtgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, daß überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Nun aber war ich, als Strafe dafür, wie mir durch den Sinn schoß, mich nicht an diese Vereinbarung gehalten zu haben, in ein undurchdringliches Dorngebüsch geraten und rief laut den Parkwächter. Obwohl tiefe Nacht, kam er gleich, konnte aber nicht zu mir vordringen. Wie sind Sie denn dort mitten in das Dorngebüsch gekommen, rief er, können Sie nicht auf dem gleichen Weg wieder zurück? Unmöglich, rief ich, ich finde den Weg nicht wieder. Ich bin in Gedanken ruhig spazierengegangen und plötzlich fand ich mich hier, es ist, wie wenn das Gebüsch erst gewachsen wäre, nachdem ich hier war. Ich komme nicht mehr heraus, ich bin verloren. Sie sind wie ein Kind, sagte der Wächter, zuerst drängen Sie sich auf einem verbotenen Weg durch das wildeste Gebüsch und dann jammern Sie. Sie sind doch nicht in einem Urwald, sondern im öffentlichen Park und man wird Sie herausholen. So ein Gebüsch gehört aber nicht in einen Park, sagte ich, und wie will man mich retten, es kann doch niemand herein. Will man es aber versuchen, dann muß man es gleich tun, es ist ja gleich Abend, die Nacht halte ich hier nicht aus, ich bin auch schon ganz zerkratzt von den Dornen, und meine Brille ist mir hinuntergefallen und ich kann ihn nicht finden, ich bin ja halbblind ohne Brille. Das ist alles gut und schön, sagte der Wächter, aber ein Weilchen werden Sie sich noch gedulden müssen, ich muß doch zuerst Arbeiter holen, die den Weg aushacken, und vorher noch die Bewilligung des Herrn Parkdirektors einholen. Also ein wenig Geduld und Männlichkeit, wenn ich bitten darf. Auf der Heimkehr von meiner nächtlichen Exkursion, Stunden später nach der glücklichen Befreiung, begann ich durch eine Art von treibenden Rauch oder Schleier hindurch Farben und Formen verminderter Körperlichkeit zu sehen, Bilder aus einer verblichenen Welt. Zurückgefahren bin ich schließlich mit der Untergrundbahn, zusammen mit all den armen Seelen, die um diese Zeit zurückfluten von der Peripherie in die Mitte.

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