Montag, 21. Februar 2011

Conférence

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Der Napoleonmythos hat die erstaunlichsten, stets auf unumstößliche Wahrheiten sich berufende Geschichten. So erzählt Kafka beispielsweise, daß er am 11. November 1911 auf einer Conférence zum Thema La Légende de Napoléon im Rudolphinum gewesen sei und daß dort ein gewisser Richepin, ein starker Fünfziger mit Taille und einem steif herumwirbelnden und zugleich fest an den Schädel geklebten Daudetfrisur, unter anderem behauptet habe, das Grab Napoleons sei früher jedes Jahr einmal geöffnet worden, damit die vorbeidefilierenden Invaliden den einbalsamierten Kaiser anschauen konnten. Da aber sein Gesicht schon ziemlich aufgedunsen und grünlich gewesen sei, habe man später den Brauch des alljährlichen Graböffnens angeschafft. Richepin selbst sah den toten Kaiser aber noch auf dem Arm seines Großonkels, der in Afrika gedient hatte, und für den der Kommandant das Grab eigens aufmachen ließ. Kafka, der sich bei der Veranstaltung zunehmend unwohl fühlte, war dann für einen Augenblick abgeschweift und sah den Kaiser vollständig lebendig, allerdings nicht in der denkbar besten Lage. Der Kaiser, so das Bild, das sich vor Kafkas innerem Auge auftat, stand beim Fenster einer verfallenen Hütte und blickte mit aufgerissenen, unschließbaren Augen in die Reihen der draußen in Schnee und trübem Mondlicht vorbeimarschierenden Truppen. Hie und da schien es ihm, als mache ein Soldat außerhalb der Reihen beim Fenster halt, drücke das Gesicht an die Scheiben, blicke ihn kurz an und gehe dann weiter. Trotzdem es immer ein anderer Soldat war, schien es immer der gleiche zu sein, ein Gesicht mit starken Knochen, dicken Wangen, runden Augen, rauher gelblicher Haut und immer während er weggieng, brachte er das Riemenzeug in Ordnung, ruckte mit der Schulter und schwang die Beine, um wieder in Taktschritt mit der im Hintergrund unverändert marschierenden Masse zu kommen. Der Kaiser wollte dieses Spiel nicht länger dulden, lauerte auf den nächsten Soldaten, riß vor ihm das Fenster auf und packte den Mann an der Brust. Herein mit Dir, sagte er und ließ ihn durch das Fenster einsteigen. Dort trieb er ihn vor sich in eine Ecke, stellte sich vor ihn und fragte: Wer bist Du? Nichts, sagte ängstlich der Soldat. Das ließ sich erwarten, sagte der Kaiser. Warum hast Du hereingeschaut? Um zu sehen ob Du noch hier bist. – Im übrigen sei die Conférence, so heißt es in der Eintragung Kafkas abschließend, zum Abschluß gebracht worden mit dem Schwur des Vortragenden, daß noch in tausend Jahren jedes Stäubchen seines Leichnams, falls es Bewußtsein hätte, bereit sein würde, dem Ruf Napoleons zu folgen.

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