Montag, 7. Februar 2011

Straßenkreuzung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Kurz nach der Rückkehr des Weltreisenden aus dem Heiligen Land brach der Krieg aus und je weiter er um sich griff und je mehr das Ausmaß der Verwüstungen in unserer abgelegenen Gegend bekannt wurde, desto weniger gelang es ihm, in unserem doch so gut wie unveränderten Leben wieder Fuß zu fassen, Für seinen ehemaligen Freundeskreis wurde er ein Fremder, seine Stadtwohnung verwaiste, und auch draußen auf dem Landsitz zog er sich bald völlig auf sein eigenes Quartier und letztendlich ein entlegenes Gartenhaus zurück. Von einem der alten Gärtner konnte man erfahren, daß er tagsüber oft in tiefem Trübsinn verharrte, wohingegen er in der Nacht in dem ungeheizten Gartenhaus leise klagend hin- und widerging. In irrer Aufgeregtheit soll er bisweilen auch irgendwie mit den Kriegshandlungen in Zusammenhang stehende Wörter aneinandergereiht haben, und bei der Aneinanderreihung solcher Kriegswörter hat er sich anscheinend, als ärgere er sich über seine Begriffsstutzigkeit oder als gelte es, das Gesagte auf ewig auswendig zu lernen, mit der Hand immer wieder vor die Stirn geschlagen. Mehrfach geriet er darüber so außer sich, daß er nicht einmal die engsten Freunde zu erkennen vermochte, so als habe er sie vergessen. Wiederholt war er für längere Zeit verschwunden. Einmal haben wir ihn, ich weiß nicht, wo überall und wie lang nach ihm gesucht wurde, um ihn nach zwei, drei Tagen endlich im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer zu entdecken. Nun saß er schon seit langen Wochen an der großen Straßenkreuzung, mit nichts hatten wir ihn zur Rückkehr bewegen können, aber morgen, weil der neue Regent einzieht, soll er seinen Platz verlassen. Er mischt sich sowohl grundsätzlich als auch aus Abneigung in nichts ein, was um ihn vorgeht. Längst schon hat er auch aufgehört zu betteln, und das nicht wegen seiner unermeßlichen Reichtümer. Die welche schon seit langem vorübergehen, beschenken ihn aus Gewohnheit, aus Treue, aus Bekanntschaft, die neuen aber folgen dem Beispiel. Er hat ein Körbchen neben sich stehn und in das wirft jeder soviel als er für gut hält. Eben darum aber, so sagt er, weil er sich um niemanden kümmert und in dem Lärm und dem Unsinn der Straße den ruhigen Blick und die ruhige Seele bewahrt, verstehe er alles, was ihn, seine Stellung, seine berechtigten Ansprüche betrifft, besser als irgendwer. Über diese Fragen kann es keinen Streit geben, hier kann nur seine Meinung gelten. Als daher heute morgens ein Polizist, der ihn natürlich gut kennt, den er aber ebenso natürlich noch niemals bemerkt hat, bei ihm stehn blieb und sagte: Morgen ist der Einzug des Regenten; daß Du nicht wagst morgen herzukommen, antwortete er mit der Frage: Wie alt bist Du.

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