Samstag, 19. Februar 2011

London

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Langsam bewegte sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, vorbei an den rußigen Ziegelmauern die mir wegen der in sie eingelassenen Nischen immer wie Teile eines weitläufigen und hier an die Oberfläche tretenden Katakombensystems vorgekommen sind. Aus den Fugen und Ritzen des im letzten Jahrhunderts fertiggestellten Mauerwerks sind im Verlauf der Zeit zahlreiche Schmetterlingssträucher gewachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen. Als er im Sommer zuletzt an diesen schwarzen Wänden vorbeigefahren war, standen die spärlichen Gewächse gerade ein bißchen in Blüte. Und beinahe hätte er seinen Augen nicht trauen wollen, wie er, während der Zug vor dem Signal wartete, von einer Stunde zur anderen, bald oben, bald unten, bald links, immer in Bewegung, einen Zitronenfalter sich herumtreiben sah. Aber das war schon wieder Monate her, und die Erinnerung daran entsprang, wie er sich nun sagte, möglicherweise nur seinem Wunschdenken. Hingegen war nicht zu zweifeln an der Wirklichkeit seiner armen Mitreisenden, die am frühen Morgen alle frisch und gestriegelt aufgebrochen waren, jetzt aber gleich einer geschlagenen Armee in ihren Sitzen hingen und, ehe sie ihren Zeitungen sich zuwandten, mit blind bewegungslosen Augen auf die Vorhöfe der Metropole hinausstarrten. Wo die Häuserwüste weiter sich auftat, erhoben sich in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete, von wabernden grünen Blachen umgebene Wohntürme, und noch viel weiter draußen, vor dem lichterlohen Himmelstreifen am westlichen Horizont, wallte aus der die gesamte Stadt überziehenden blauschwarzen Wolkendecke wie eine ungeheure Trauerfahne ein Regenschauer herab. Es muß diese Regenwand gewesen sein, die in ihm die Erinnerung an ein Gegenbild aus seiner Jugendzeit hervorrief, an einen Sommersonntag an der Themse. Der Fluß war in seiner ganzen Breite weithin angefüllt mit Booten, die auf das Öffnen einer Schleuse warteten. In allen Booten waren fröhliche junge Menschen mit leichter heller Kleidung, sie lagen fast, frei hingegeben der warmen Luft und der Wasserkühle. Aufgrund alles dieses Gemeinsamen war ihre Geselligkeit nicht auf die einzelnen Boote eingeschränkt, von Boot zu Boot teilte sich Scherz und Lachen mit. Verstohlen sah er sich um im Zug, ob er vielleicht gar einen der Bootsfahrer wiedererkennen würde unter den Mitreisenden. Er selbst hatte damals auf einer Wiese am Ufer gestanden. Er betrachtete das Fest, das ja kein Fest war, das man aber so nennen konnte. Er hatte natürlich große Lust, sich daran zu beteiligen, er langte förmlich danach, aber er mußte sich offen sagen, daß er davon ausgeschlossen war, es war für ihn unmöglich, sich dort einzufügen, das hätte eine so große Vorbereitung verlangt, daß darüber nicht nur dieser Sonntag, sondern viele Jahre und er selbst dahingegangen wären, und selbst wenn die Zeit hier hätte stillstehn wollen, es hätte sich doch kein anderes Ergebnis mehr erzielen lassen, seine ganze Abstammung, Erziehung, körperliche Ausbildung hätte anders geführt werden müssen. So weit war er also von diesen Ausflüglern, aber damit doch auch wieder sehr nahe und das war das schwer Begreifliche. Sie waren doch auch Menschen wie er, nichts Menschliches konnte ihnen völlig fremd sein, würde man sie also durchforschen müßte man finden, daß das Gefühl, das ihn beherrschte und von der Wasserfahrt ausschloß, auch in ihnen lebte, nur das es allerdings weit davon entfernt war sie zu beherrschen, sondern nur irgendwo in dunklen Winkeln geisterte.

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