Montag, 28. Februar 2011

Semiramis

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Der Abend bricht an, die Dunkelheit zieht von den umliegenden Hängen herein über die niedrigen Dächer, wächst empor aus den Abgründen der Stadt über die bleigrauen Kuppeln der Gotteshäuser und reicht schließlich herauf bis zu den vor dem Erlöschen besonders hell noch einmal aufleuchtenden Turmspitzen. Niemand wird eine solche Stadt sich vorstellen können. So viel Bauwerk, so viel verschiedenes Grün. Pinienkronen hoch in der Luft. Akazien, Korkeichen, Sykomoren, Eukalyptus, Wacholder, Lorbeer, wahre Baumparadiese und Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. Jeder Spaziergang voller Überraschungen, ja Schrecken. Wie von Szene zu Szene in einem Schauspiel wechseln die Prospekte. Eine Straße mit einem palastartigen Gebäude endet in einer Schlucht. Man besucht ein Theater und gelangt durch eine Tür im Vorraum hinaus in ein Wäldchen; ein anders Mal biegt man in eine dustere, immer enger werdende Gasse, glaubt sich bereits gefangen, macht einen letzten Verzweiflungsschritt um eine Ecke und überblickt unmittelbar von einer Kanzel aus das ausgedehnteste Panorama. Man steigt ewig einen kahlen Hügel hinan und findet sich wieder in einem beschatteten Tal, tritt in ein Haustor und steht auf einer Straße, tritt wieder zurück und steht vor einem Garteneinlaß. Es wurde mir erlaubt, in diesen Garten einzutreten. Beim Eingang waren einige Schwierigkeiten zu überwinden, aber schließlich stand hinter einem Tischchen ein Mann halb auf und steckte mir eine dunkelgrüne Marke, die von einer Stecknadel durchstochen war, ins Knopfloch. Durch einen Blick verständigten wir uns darüber, daß ich jetzt eintreten könne. Aber nach ein paar Schritten erinnerte ich mich, daß ich noch nicht gezahlt hatte. Ich wollte umkehren, aber da sah ich eine große Dame in einem Gewand aus gelblichgrauem Stoff eben bei dem Tischchen stehn und eine Anzahl winziger Münzen auf den Tisch zählen. Das ist für Sie, rief der Mann, der meine Unruhe wahrscheinlich bemerkt hatte, über den Kopf der tief hinabgebeugten Dame zu. Für mich? fragte ich ungläubig und sah hinter mich, ob nicht jemand anderer gemeint war. Immer diese Kleinlichkeit, sagte ein Herr, der vom Rasen herkam, langsam den Weg vor mir querte und wieder im Rasen weiterging. Für Sie, für wen denn sonst? Hier zahlt einer für den anderen. Ich dankte für die allerdings unwillig gegebene Auskunft, machte aber den Herrn darauf aufmerksam, daß ich für niemanden gezahlt hatte. Für wen wollen Sie denn zahlen? Sagte der Mann im Weggehn. Jedenfalls wollte ich auf die Dame warten und mich mit ihr zu verständigen suchen, aber sie nahm einen anderen Weg, mit ihrem Gewand rauschte sie dahin, zart flatterte hinter der mächtigen Gestalt ein bläulicher Hutschleier. Sie bewundern Semiramis, sagte ein Spaziergänger neben mir und sah gleichfalls der Dame nach. Nach einer Weile sagte er: Das ist Semiramis.

Keine Kommentare: