Montag, 28. Februar 2011

Kommentar Semiramis

Vom Theater unmittelbar in ein Wäldchen, einen kahlen Hügel immer hinan, und man findet sich doch wieder in einem beschatteten Tal tief unten: man kann sagen, daß Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth Stambul kafkanah erleben. Vor allem aber erleben sie eine Stadt der Bäume und Pflanzen, eine Gartenstadt, wahre Baumparadiese und Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. Den Zugang zu einer der Gärten verschafft Kafka, sogleich ist es aber vorbei mit der Pracht, es geht jetzt um seltsame Rituale des Eintritts und um unverständliche Formen des Zahlungsverkehrs. Damit wird aber glaubhaft, daß wir uns in einer anderen Zeit aufhalten und daß es sich bei der rätselhaften Dame um Semiramis handelt, nachdem wir für einen Augenblick schon geglaubt hatten, es sei Isabella.
Semiramis

Semiramis

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Der Abend bricht an, die Dunkelheit zieht von den umliegenden Hängen herein über die niedrigen Dächer, wächst empor aus den Abgründen der Stadt über die bleigrauen Kuppeln der Gotteshäuser und reicht schließlich herauf bis zu den vor dem Erlöschen besonders hell noch einmal aufleuchtenden Turmspitzen. Niemand wird eine solche Stadt sich vorstellen können. So viel Bauwerk, so viel verschiedenes Grün. Pinienkronen hoch in der Luft. Akazien, Korkeichen, Sykomoren, Eukalyptus, Wacholder, Lorbeer, wahre Baumparadiese und Schattenhalden und Haine mit rauschenden Bächen und Brunnen. Jeder Spaziergang voller Überraschungen, ja Schrecken. Wie von Szene zu Szene in einem Schauspiel wechseln die Prospekte. Eine Straße mit einem palastartigen Gebäude endet in einer Schlucht. Man besucht ein Theater und gelangt durch eine Tür im Vorraum hinaus in ein Wäldchen; ein anders Mal biegt man in eine dustere, immer enger werdende Gasse, glaubt sich bereits gefangen, macht einen letzten Verzweiflungsschritt um eine Ecke und überblickt unmittelbar von einer Kanzel aus das ausgedehnteste Panorama. Man steigt ewig einen kahlen Hügel hinan und findet sich wieder in einem beschatteten Tal, tritt in ein Haustor und steht auf einer Straße, tritt wieder zurück und steht vor einem Garteneinlaß. Es wurde mir erlaubt, in diesen Garten einzutreten. Beim Eingang waren einige Schwierigkeiten zu überwinden, aber schließlich stand hinter einem Tischchen ein Mann halb auf und steckte mir eine dunkelgrüne Marke, die von einer Stecknadel durchstochen war, ins Knopfloch. Durch einen Blick verständigten wir uns darüber, daß ich jetzt eintreten könne. Aber nach ein paar Schritten erinnerte ich mich, daß ich noch nicht gezahlt hatte. Ich wollte umkehren, aber da sah ich eine große Dame in einem Gewand aus gelblichgrauem Stoff eben bei dem Tischchen stehn und eine Anzahl winziger Münzen auf den Tisch zählen. Das ist für Sie, rief der Mann, der meine Unruhe wahrscheinlich bemerkt hatte, über den Kopf der tief hinabgebeugten Dame zu. Für mich? fragte ich ungläubig und sah hinter mich, ob nicht jemand anderer gemeint war. Immer diese Kleinlichkeit, sagte ein Herr, der vom Rasen herkam, langsam den Weg vor mir querte und wieder im Rasen weiterging. Für Sie, für wen denn sonst? Hier zahlt einer für den anderen. Ich dankte für die allerdings unwillig gegebene Auskunft, machte aber den Herrn darauf aufmerksam, daß ich für niemanden gezahlt hatte. Für wen wollen Sie denn zahlen? Sagte der Mann im Weggehn. Jedenfalls wollte ich auf die Dame warten und mich mit ihr zu verständigen suchen, aber sie nahm einen anderen Weg, mit ihrem Gewand rauschte sie dahin, zart flatterte hinter der mächtigen Gestalt ein bläulicher Hutschleier. Sie bewundern Semiramis, sagte ein Spaziergänger neben mir und sah gleichfalls der Dame nach. Nach einer Weile sagte er: Das ist Semiramis.

Sonntag, 27. Februar 2011

Gen Süden

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Los hombres se instalaron en el extrema de la proa y allí, aferrados al bauprés, asistieron a la lenta sustición de las aguas fluviales por un oleaje verde y crecido. Se cruzaron con algunas barcos, el Haghios Nicolaus, el Pan, el Falcon. Un hidroavión los sobrevoló un momento como si los abservara. Después el horizonte se abrió, tenido ya de amarillo y celeste del atardecer, y quedaron solos, se sintieron solos por la prima vez. No habia costa, ni boyas, ni barcas, ni siquiera gaviotas o un oleaje que agitara los brazos. Centro de la inmensa rueda verde, el Malcolm avanzaba hacia el sur. Die Tage darauf ist es zum Fürchten gewesen, wie die Wellen sich aus der Tiefe hervorhoben und wieder zurückgerollt kamen. Nur schwarzes Wasser, tagaus und tagein, und das Schiff, wie es schien, die ganze Zeit auf demselben Fleck. Die Reisenden waren jetzt größtenteils seekrank. Erschöpft, mit glasigem Blich oder halbgeschlossenen Augen lagen sie in ihren Kojen. Andere hockten am Boden, standen stundenlang an eine Wand gelehnt oder wankten wie Schlafwandlern in den Gängen herum. Wem es besser ging, sah sich genauer um auf dem Schiff und fand etwa heraus, daß der allerunterste Raum des Oceandampfers, der das ganze Schiff durchgeht, völlig leer ist, allerdings ist er kaum einen Meter hoch. Die Konstruktion des Schiffes verlangt diesen Raum. Ganz leer ist er freilich nicht, er gehört den Ratten. Wohler wurde ihnen allen erst wieder, als sie in die Magellanstraße hineinfuhren. Das Schiff war langsamer geworden. Man spürte eine schwache Brise an der Stirn, und indem sie der Küste sich annäherten, wuchs eine Stadt vor ihnen aus den jetzt von der Morgensonne durchdrungenen Nebeln heraus.

Kommentar Gen Süden

Drei Meister auf der Worte Wellen stechen gemeinsam in See. Cortázar kümmert sich um die Ausfahrt, und wenn man von Quilmes aus zum La Plata hinausfährt, hat die Richtungsangabe Gen Süden einen anderen Klang, als wenn ein Auswandererschiff Bremerhaven verläßt. Dennoch besorgt Sebald, mit der südlichen Hemisphäre wenig vertraut, Überfahrt und Ankunft. Kafka, immer schon an unterirdischen Bauten und Bergtechnik interessiert, schaut , obwohl offenbar gefeit vor der Seekrankheit, nicht viel aufs Meer und macht sich statt dessen Gedanken über konstruktive Erfordernisse am Schiffsboden, die zum Wohl der Ratten ausschlagen. Bei der Stadt, die nach eher schwerer Reise am Horizont auftaucht, dürfte es sich um Punta Arenas handeln.
Gen Süden

Samstag, 26. Februar 2011

Ritt der Träume

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Unter den Wartenden befand sich eine Aristenfamilie, die, wie mir vorkam, aus einer zumindest ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit hierher verschlagen worden war. Das Oberhaupt der kleinen Truppe trug einen weißen Sommeranzug und überaus elegante steifleinene Schuhe mit Lederbesatz. In den Händen drehte er, einmal links herum, einmal rechts herum, einen wirklich wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Cappella di paglia. Man sah seinen wenigen Bewegungen an, daß das Kochen einer Eierspeise auf einem Hochseil, wie Blondin es bei seinen Auftritten sensationellerweise vollführt hatte, für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre. Eine sehr schöne und wirkungsvolle Aufführung, so erklärte er mir, nachdem wir ins Gespräch gekommen waren, sei immer der Ritt gewesen, den sie den Ritt der Träume genannt hatten. Sie zeigten ihn schon seit langen Jahren, der welcher ihn erfunden hat, ist längst gestorben, an Lungenschwindsucht, aber diese seine Hinterlassenschaft ist geblieben und wir haben noch immer keinen Grund, den Ritt vom Programm abzusetzen, umsoweniger, als er von der Konkurrenz nicht nachgeahmt werden, er ist, obwohl er auf den ersten Blick nicht verständlich ist, unnachahmbar. Wir pflegen ihn an den Schluß der ersten Abteilung zu setzen, als Abschluß des Abends würde er sich nicht eignen, es ist nicht Blendendes, nichts Kostbares, nicht wovon man auf dem Nachhauseweg spricht, zum Schluß muß etwas kommen, was auch dem gröbsten Kopf unvergeßlich bleibt, etwas was den ganzen Abend vor dem Vergessenwerden rettet, etwas derartiges ist dieser Ritt nicht. Nach diesen Worten fiel er in Schweigen, in dem die neben ihm sitzende, nordländisch wirkende Frau die ganze Zeit verharrt hatte, in ihrem maßgeschneiderten Kostüm, auch sie eine Erscheinung aus vergessener Zeit. Unbeweglich saß sie da, sehr aufrecht und die ganze Zeit mit geschlossenen Augen. Zu den beiden, die, wie ich von ihm erfahren hatte, Giorgio und Rosa Santini hießen, gehörten drei nahezu gleichaltrige und einander sehr ähnliche Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist, die einmal still beisammensaßen und dann wieder zwischen den Sesseln und Tischen herumgingen, als hätten sie es darauf angelegt, aus ihren Wegen eine schöne Schleife zu machen. Die eine hatte ein buntes Windrädchen dabei, die andere ein ausziehbares Teleskop und die dritte einen Sonnenschirm. Abgesondert von den Santinis, aber ganz offenbar ihnen doch zugeneigt, saß die Nonna in einem schwarzen Seidenkleid. Sie war mit einer Häkelarbeit beschäftigt, von der sie nur ab und zu aufblickte, um – sorgevoll, wie mir schien, zu dem Paar oder zu den drei Schwestern hinüberzusehen. Schwerelos verging mir in der Gesellschaft dieser Leute die Zeit.

Kommentar Ritt

Etwas herzbewegend Weltliches, so heißt es, geht aus von Erscheinung des Ritters Giorgio unter dem schön gearbeiteten, weitkrempigen Strohhut, San Giorgio con cappella di paglia, und nun sitzt er hier im deutschen Konsulat zu Mailand, Giorgio Santino, obwohl längst gestorben, an Lungenschwindsucht, den Strohhut in Händen, inmitten kleiner Heiliger, Santini, nicht ganz von dieser Welt, sondern aus einer zumindest ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit hierher verschlagen. Von Kafka erfahren wir, daß der Ritt der Träume Erinnerungen an eine noch viel weiter zurückliegende Zeit aufrecht erhält, an den Drachenritt des Ritters, ist anzunehmen, der von keiner Konkurrenz nachgeahmt werden konnte, einen Grund, den Ritt vom Programm abzusetzen, gibt es nicht. Der Männerwelt hat Giorgio inzwischen ganz entsagt und ist ausschließlich umgeben von weiblichen Heiligen, Santine, die offenbar ein Schweigegelübde abgelegt haben. Die drei Töchter heißen nicht Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, sie beschäftigen sich mit Windrädchen, Teleskop und Sonnenschirm, die Nonna aber häkelt und benötigt, wenn nicht die Spindel, so doch Faden und Schere.

Ritt der Träume

Donnerstag, 24. Februar 2011

Korridore

Aus dem Schattenreich
Kommentar

In diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude gab es Korridore und Treppen, die nirgendwo hinführen, und türlose Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis ist aller sanktionierten Gewalt. Die Gänge sind meistens schmal, einfach überwölbt, in langsamen Wendungen geführt, mit sparsam geschmückten hohen Türen, sie scheinen sogar für tiefe Stille geschaffen, als seien es die Gänge eines Museums oder einer Bibliothek. Viele Stunden kann man durch dieses steinerne Gebirge irren, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß je ein Mensch nach dem Begehren fragt. Bisweilen schaut man auf seinen Wegen bei den tief in das Gemäuer eingelassenen Fenster hinaus über die wie Packeis ineinander verschobenen bleigrauen Dächer oder hinunter in die Schluchten der und schachtartigen Innenhöfe, in die nie noch ein Lichtstrahl gedrungen sei. Immer weiter schreitet man durch die Gänge, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. Hat man aber einen Weg begonnen, so setzt man ihn fort, unter allen Umständen, läßt sich auch von Hindernissen dieser Art nicht aufhalten, als könne man nur gewinnen, und laufe keine Gefahr, vielleicht wird man am Ende abstürzen, aber hätte man sich schon nach den ersten Schritten nach den ersten Schritten sich zurückgewendet und wäre die Treppe hinuntergelaufen, wäre man gleich am Anfang angestürzt und nicht vielleicht, sondern ganz gewiß. Findest man also nichts hier auf den Gängen, so öffnet die Türen, findet man nichts hinter diesen Türen, gibt es neue Stockwerke, findet man oben nichts, ist es keine Not, man schwingt sich neue Treppen hinauf, solange man nicht zu steigen aufhört, hören die Stufen nicht auf, unter den steigenden Füßen wachsen sie aufwärts. Befremdlich ist allerdings daß sich in dem Palast, aufgrund seiner tatsächlichen jedes Vorstellungsvermögen übersteigenden Verwinkelung immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank sich haben einrichten können, da schwindet das Vertrauen. Einmal soll es sogar eine privat betriebene Herrentoilette im Souterrain gegeben haben, mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum.

Kommentar Korridore

Bei seiner Schilderung des Brüsseler Justizpalastes hat Sebald es offenbar darauf angelegt, die Assoziation kafkaesk hervorzurufen, das Kafkaeske unterliegt bei ihm aber beträchtlichen Wandlungen. Der Barke des Gracchus hat er bereits den Wind aus dem Segel genommen und als Tattoo auf dem Oberarm des Jägers Hans Schlag untergebracht. Kafkas bevorzugte Bewegungsform ist die des rasenden Stillstands, der Bote rennt los, öffnete sich freies Feld, so würde er fliegen, statt dessen müht er sich nur nutzlos ab; der Wagen des Landarztes wird fortgerissen wie Holz in der Strömung und verfängt sich doch umgehend in der dunklen Watte der Nacht; der Angeklagte wird vom Dichter auf der Suche nach einem Fürsprecher treppauf treppab über die Flure und Stockwerke des Justizpalastes gehetzt. Austerlitz durchwandert den Palast gemächlich als eine von den Menschen verlassene Monstrosität, die Korridore verlaufen sich in schadlose Skurrilitäten, ein Tabakhandel, ein Wettbüro, ein Getränkeausschank, eine privat betriebene Herrentoilette im Souterrain mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum.
Korridore

Mittwoch, 23. Februar 2011

Kommentar Flußufer

In den Schwindel.Gefühlen nutzen Selysses und Kafka gemeinsam die Barke des Gracchus, nun hat eine Barke, die Selysses vor der englischen Küste beobachtet hatte, das chinesische Meer überquert und hat in einem Flußdelta angelegt. In den weiten chinesischen Flußauen besteht ein Verhältnis zwischen Vater und Sohn, wie wir es aus der Enge Prags nicht kennen. Dieser Sohn wird aller Voraussicht nach später keinen endlosen Brief an seinen Vater schreiben. Sähe der Vater nicht so ganz und gar chinesisch aus, könnte man meinen, der Großvater ist wieder mit dem kleinen Selysses unterwegs. Das Gespräch mit dem Schiffer erleben wir als Pantomime. Offenbar kann der Schiffer den Vater überzeugen, wir wissen allerdings nicht wovon.
Am Flußufer

Dienstag, 22. Februar 2011

Am Flußufer

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Draußen auf dem bleifarbenen Meer begleitete uns ein Segelboot, genauer gesagt schien es uns, als stünde es still und als kämen wir selber, Schritt für Schritt, so wenig vom Fleck wie der unsichtbare Geisterfahrer mit seiner bewegungslosen Barke. Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Wolkenbänke schoben sich weit hinaus über das jetzt von weißen Streifen durchzogene Meer. Die Barke, die solange sich nicht fortbewegen wollte, war auf einmal verschwunden. Der Vater hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes. Als wir endlich zum Ufer am Flußdelta kamen, hielt die Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen. In der Mitte trafen sie einander, der Schiffer flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr; um ihm ganz nahe zu kommen, umarmte er ihn. Ich verstand die reden nicht, sah nur, wie der Vater die Nachricht nicht zu glauben schien, der Schiffer mit der Leidenschaftlichkeit des Schiffervolkes zum Beweise der Wahrheit fast sein Kleid auf der Brust zerriß, der Vater stiller wurde und der Schiffer polternd in die Barke sprang und wegfuhr. Nachdenklich wandte sich mein Vater zu mir, klopfte die Pfeife aus und steckte sie in den Gürtel, streichelte mir die Wange und zog meinen Kopf an sich.Das hatte ich am liebsten, es machte mich ganz fröhlich, und so kamen wir nachhause.

Am Fenster

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Gerade damals glaubten einige, die Kaiserin selbst in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt sie in diese äußeren Gemächer, immer nur lebt sie in dem innersten Garten; diesmal aber stand sie, so schien es ihnen wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor ihrem Schloß. Der Blick der Kaiserin war aber ganz leer, und sie lauschte in Wahrheit nur hingebungsvoll auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das aus dem Hintergrund von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. Diese blassen, beinahe transparenten Wesen, die bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen, betrachtete sie als ihre wahren Getreuen, sie erschienen ihr als das ideale Volk, dienstfertig, todesbereit, in kurzer Zeit beliebig vermehrbar, ausgerichtet nur auf einen einzigen ihnen vorbestimmten Zweck, völlig das Gegenteil der Menschen, auf die grundsätzlich kein Verlaß war, auf die namenlosen Massen draußen im Reich so wenig wie auf diejenigen, die den innersten Kreis bildeten um sie und die, wie sie ahnte, jederzeit imstande waren, sie fallen zu lassen.

Kommentar Am Fenster

Über Kafkas Chinageschichten liegt ein besonderer Glanz, auch der des Glücks der großen Weite, die der Enge der Gerichtstuben, der Kaschemmen, der Hungerkäfige und Zirkusarenen so sehr entgegengesetzt ist. Noch im Augenblick seines Todes denkt der Kaiser, gottgleich, an seinen entferntesten Untertanen und sendet ihm eine Botschaft, die ihn naturgemäß nie erreichen wird, von der er aber am einsamen Fenster seiner Hütte in grenzenloser Steppe träumen kann. Und auch nach dem Einfall der Barbaren kommt Hoffnung auf bei den Untertanen, als man glaubt, die Kaiserin an ihrem Palastfenster zu sehen. Eine grundlose Hoffnung, wie Sebald in den Ringen des Saturn wissen läßt, die Untertanen gelten der Kaiserin weit weniger als ihre Seidenwürmer, die bald ihr Leben lassen werden für den feinen Faden, den sie spinnen.
Am Fenster

Kommentar Conférence

Nicht nur, daß der auf Korsika wandernde Selysses die Begegnung mit Napoleon nicht vermeiden kann, die große europäische Frage: Was wäre geworden, wie sähe es heute aus, hätte es Napoleon nicht gegeben - ist sicher einer der Gründe für seinen Aufenthalt auf der Insel. Selysses hat keine Scheu, Kollegen mit Tagebuchaufzeichnungen, die sie hätten machen können und vielleicht hätten machen sollen, aber nicht gemacht haben, notfalls auszuhelfen, mit Kafkas Tagebuch ist hier aber alles in schöner Ordnung. Kafka führt jetzt nur noch ergänzend aus, während der Ausführungen Richepins seinen seine Gedanken abgeschweift und hätten sich dem geschlagenen Napoleon bei seiner Flucht aus Rußland zugewandt. Mit äußerster Deutlichkeit habe er ihn vor Augen gehabt.

Kafka TB 1922

Conférence

Montag, 21. Februar 2011

Conférence

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Der Napoleonmythos hat die erstaunlichsten, stets auf unumstößliche Wahrheiten sich berufende Geschichten. So erzählt Kafka beispielsweise, daß er am 11. November 1911 auf einer Conférence zum Thema La Légende de Napoléon im Rudolphinum gewesen sei und daß dort ein gewisser Richepin, ein starker Fünfziger mit Taille und einem steif herumwirbelnden und zugleich fest an den Schädel geklebten Daudetfrisur, unter anderem behauptet habe, das Grab Napoleons sei früher jedes Jahr einmal geöffnet worden, damit die vorbeidefilierenden Invaliden den einbalsamierten Kaiser anschauen konnten. Da aber sein Gesicht schon ziemlich aufgedunsen und grünlich gewesen sei, habe man später den Brauch des alljährlichen Graböffnens angeschafft. Richepin selbst sah den toten Kaiser aber noch auf dem Arm seines Großonkels, der in Afrika gedient hatte, und für den der Kommandant das Grab eigens aufmachen ließ. Kafka, der sich bei der Veranstaltung zunehmend unwohl fühlte, war dann für einen Augenblick abgeschweift und sah den Kaiser vollständig lebendig, allerdings nicht in der denkbar besten Lage. Der Kaiser, so das Bild, das sich vor Kafkas innerem Auge auftat, stand beim Fenster einer verfallenen Hütte und blickte mit aufgerissenen, unschließbaren Augen in die Reihen der draußen in Schnee und trübem Mondlicht vorbeimarschierenden Truppen. Hie und da schien es ihm, als mache ein Soldat außerhalb der Reihen beim Fenster halt, drücke das Gesicht an die Scheiben, blicke ihn kurz an und gehe dann weiter. Trotzdem es immer ein anderer Soldat war, schien es immer der gleiche zu sein, ein Gesicht mit starken Knochen, dicken Wangen, runden Augen, rauher gelblicher Haut und immer während er weggieng, brachte er das Riemenzeug in Ordnung, ruckte mit der Schulter und schwang die Beine, um wieder in Taktschritt mit der im Hintergrund unverändert marschierenden Masse zu kommen. Der Kaiser wollte dieses Spiel nicht länger dulden, lauerte auf den nächsten Soldaten, riß vor ihm das Fenster auf und packte den Mann an der Brust. Herein mit Dir, sagte er und ließ ihn durch das Fenster einsteigen. Dort trieb er ihn vor sich in eine Ecke, stellte sich vor ihn und fragte: Wer bist Du? Nichts, sagte ängstlich der Soldat. Das ließ sich erwarten, sagte der Kaiser. Warum hast Du hereingeschaut? Um zu sehen ob Du noch hier bist. – Im übrigen sei die Conférence, so heißt es in der Eintragung Kafkas abschließend, zum Abschluß gebracht worden mit dem Schwur des Vortragenden, daß noch in tausend Jahren jedes Stäubchen seines Leichnams, falls es Bewußtsein hätte, bereit sein würde, dem Ruf Napoleons zu folgen.

Sonntag, 20. Februar 2011

Commedia dell’arte

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In der Goldene Traube war, wider alles Erwarten, ein mir in jeder Hinsicht zusagendes Zimmer zu haben und ich, der ich doch zumeist schlecht bedient werde, wurde von einem an Ferdinand Bruckner mich erinnernden Portier und der anscheinend eigens in der Halle sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommendheit behandelt, nicht anders als hätten sie in mir einen seit langem ihnen in Aussicht gestellten und nun endlich eingetroffenen Ehrengast vor sich. Meinen Ausweis brauchte ich nicht vorzulegen, sondern es wurde mir nur das Register zugeschoben, in welches ich mich eintrug als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker von Landeck. Trotzdem ich aber dem Hotel den Namen Jakob Philipp Fallmerayer aufgeschrieben habe, trotzdem auch sie mir auf meine Zimmerkarte richtig Jakob Philipp Fallmerayer geschrieben haben, steht doch am nächsten Morgen auf der kleinen Tafel des Frühstückstischs Selysses. Soll ich sie aufklären, oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?

Kommentar Commedia

In der Goldenen Traube in Verona wird Selysses so zuvorkommend empfangen wie sonst kaum jemals irgendwo auf seinen Reisen, und er bedankt sich mit einem falschen Namenseintrag ins Register. Als Entschuldigung könnte er darauf verweisen, daß sich Ferdinand Bruckner als Portier verkleidet hier aufhält. Wieso er sich daraufhin die Maske des längst verblichenen Hellenenentzauberers vorhält, ist nicht leicht zu durchschauen, vielleicht will er sich der Rolle als Ehrengast würdig erweisen. Waren Fallmerayer und Bruckner schon im früheren Leben miteinander bekannt? Jedenfalls hilft es nichts, am nächsten Morgen findet er seinen richtigen Namen am Frühstückstisch. Wie läßt sich das aufklären; soll man versuchen es aufklären?

Kafka TB 1922
Commedia dell’arte

Hämmern

Aus dem Schattenteich
Kommentar
Es hatte damit angefangen, daß er die Wagnerei mehr und mehr vernachlässigte, Aufträge zwar noch annahm, aber nur zur Hälfte oder gar nicht mehr ausführte, und das er sich darauf verlegte, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen, wie beispielsweise den eines über die Ach gebauten Wasserhauses oder den der Waldkanzel, die, abgestützt durch eine Wendeltreppenkonstruktion, die den Wipfel eines der höchsten Tannen des Pfarrwaldes umgeben und von der aus der Pfarrer alljährlich zu einem bestimmten Tag eine Ansprache an den Wald halten sollte. Die meisten dieser leider verschollenen Pläne, von denen er Bogen um Bogen entwarf, sind von ihm ernstlich nie in Angriff genommen worden. Verwirklicht wurde einzig das von ihm so genannte Salettl, das in den Dachstuhl seines Hauses eingebaut war, und zwar derart, daß etwa einen Meter unter dem First ein Holzboden eingezogen wurde, auf welchem dann, nach Entfernung der Dachziegel, durch den First hindurch und über ihn hinaus ein Holzrahmengerüst für ein rundum verglastes Observatorium aufgesetzt werden konnte. Von dieser Warte aus sah man über die Dächer des Ortes bis weit ins Moos und in die Felder und bis zu dem aus dem Talgrund aufsteigenden Waldschatten der Berge. Wenn er sein holzbearbeitendes Metier auch nicht mehr ausübte, so sprach er doch gern von ihm in einer seelenkundigen, mystisch drängenden Weise. Dabei konnte es sich etwa um das folgende handeln. Er saß einmal, nach seinen eigenen Worten, vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Er prüfte die Wünsche, die er für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen und – das war allerdings notwendig verbunden – die anderen von ihr überzeugen zu können, eine Ansicht, in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn er ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: ihm ist das Hämmern ein Nichts, sondern: ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts -, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und wenn Du willst noch irrsinniger geworden wäre. Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war bereits damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm; sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten rings herum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des Wunsches ergeben.

Kommentar Hämmern

Ein gewisser Lukas erzählt Selysses von einem Stellmacher, der in seinem Beruf seltsame Wege ging und, wenn man so will, schließlich scheiterte. Dabei erfahren wir zunächst nur solche Dinge und Vorgänge, die von außen beobachtbar sind. Kafka aber hat nun Überlegungen aufgezeichnet, die der Stellmacher ihm gegenüber geäußert hat. Dabei geht es im Kern um das Hämmern und das Nichts. Man fragt sich, ob diese Überlegungen blendend hellsichtig oder ein wenig wirr sind. Wohl eher hellsichtig, denkt man, wenn Kafka sie aufgezeichnet hat, wundert sich aber gleichwohl nicht mehr, wenn der Stellmacher seinen Beruf auf Dauer nicht ordnungsgemäß ausüben konnte.

Kafka TB 1920

Samstag, 19. Februar 2011

London

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Langsam bewegte sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, vorbei an den rußigen Ziegelmauern die mir wegen der in sie eingelassenen Nischen immer wie Teile eines weitläufigen und hier an die Oberfläche tretenden Katakombensystems vorgekommen sind. Aus den Fugen und Ritzen des im letzten Jahrhunderts fertiggestellten Mauerwerks sind im Verlauf der Zeit zahlreiche Schmetterlingssträucher gewachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen. Als er im Sommer zuletzt an diesen schwarzen Wänden vorbeigefahren war, standen die spärlichen Gewächse gerade ein bißchen in Blüte. Und beinahe hätte er seinen Augen nicht trauen wollen, wie er, während der Zug vor dem Signal wartete, von einer Stunde zur anderen, bald oben, bald unten, bald links, immer in Bewegung, einen Zitronenfalter sich herumtreiben sah. Aber das war schon wieder Monate her, und die Erinnerung daran entsprang, wie er sich nun sagte, möglicherweise nur seinem Wunschdenken. Hingegen war nicht zu zweifeln an der Wirklichkeit seiner armen Mitreisenden, die am frühen Morgen alle frisch und gestriegelt aufgebrochen waren, jetzt aber gleich einer geschlagenen Armee in ihren Sitzen hingen und, ehe sie ihren Zeitungen sich zuwandten, mit blind bewegungslosen Augen auf die Vorhöfe der Metropole hinausstarrten. Wo die Häuserwüste weiter sich auftat, erhoben sich in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete, von wabernden grünen Blachen umgebene Wohntürme, und noch viel weiter draußen, vor dem lichterlohen Himmelstreifen am westlichen Horizont, wallte aus der die gesamte Stadt überziehenden blauschwarzen Wolkendecke wie eine ungeheure Trauerfahne ein Regenschauer herab. Es muß diese Regenwand gewesen sein, die in ihm die Erinnerung an ein Gegenbild aus seiner Jugendzeit hervorrief, an einen Sommersonntag an der Themse. Der Fluß war in seiner ganzen Breite weithin angefüllt mit Booten, die auf das Öffnen einer Schleuse warteten. In allen Booten waren fröhliche junge Menschen mit leichter heller Kleidung, sie lagen fast, frei hingegeben der warmen Luft und der Wasserkühle. Aufgrund alles dieses Gemeinsamen war ihre Geselligkeit nicht auf die einzelnen Boote eingeschränkt, von Boot zu Boot teilte sich Scherz und Lachen mit. Verstohlen sah er sich um im Zug, ob er vielleicht gar einen der Bootsfahrer wiedererkennen würde unter den Mitreisenden. Er selbst hatte damals auf einer Wiese am Ufer gestanden. Er betrachtete das Fest, das ja kein Fest war, das man aber so nennen konnte. Er hatte natürlich große Lust, sich daran zu beteiligen, er langte förmlich danach, aber er mußte sich offen sagen, daß er davon ausgeschlossen war, es war für ihn unmöglich, sich dort einzufügen, das hätte eine so große Vorbereitung verlangt, daß darüber nicht nur dieser Sonntag, sondern viele Jahre und er selbst dahingegangen wären, und selbst wenn die Zeit hier hätte stillstehn wollen, es hätte sich doch kein anderes Ergebnis mehr erzielen lassen, seine ganze Abstammung, Erziehung, körperliche Ausbildung hätte anders geführt werden müssen. So weit war er also von diesen Ausflüglern, aber damit doch auch wieder sehr nahe und das war das schwer Begreifliche. Sie waren doch auch Menschen wie er, nichts Menschliches konnte ihnen völlig fremd sein, würde man sie also durchforschen müßte man finden, daß das Gefühl, das ihn beherrschte und von der Wasserfahrt ausschloß, auch in ihnen lebte, nur das es allerdings weit davon entfernt war sie zu beherrschen, sondern nur irgendwo in dunklen Winkeln geisterte.

Kommentar London

Die trostlose Ausfahrt aus der Bahnhof Liverpool Street wird, ausgehend von einigen Schmetterlingssträuchern in den Fugen und Ritzen des Mauerwerks und einem Zitronenfalter, zu einem Ort der Schönheit, sicher auch für den gerade mit Schwindelgefühlen aus Italien zurückgekehrten Selysses selbst, denn auch der Schreibende ist ein Leser, und die Schönheit kommt ohnehin nicht aus den Sträuchern, sondern aus dem Wort gewordenen Blick des Dichters. Ausgeschlossen sind aber die Mitreisenden, die mit blind bewegungslosen Augen auf die Vorhöfe der Metropole hinausstarren. Eine Regenwand über London ruft das Gegenbild eines sonnigen Sommersonntags hervor, und die Verhältnisse kehren sich um. Jetzt ist der inzwischen von Kafka geleitete Selysses der Ausgeschlossene von der Freude auf dem Fluß. So oder so, immer ist Selysses auf der anderen Seite. Der Bazill der Vereinzelung steckt in jedem, aber wenige nur sind ganz in seiner Hand.
Kafka TB 20
London

Dienstag, 8. Februar 2011

Tagliamento

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es ist im Schlaf gewesen, während draußen alles längst in Dunkelheit eingetaucht war, daß ich ein seither unvergeßliches Landschaftsbild gesehen habe. Über den Dächern erhoben sich dunkel bewaldete Kogel, die schwarzgezackte Höhenlinie wie ausgeschnitten aus dem Gegenschein des Abendlichts. Zuoberst aber glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Es bestand für mich im Traum keinerlei Zweifel, daß es sich bei dem Vulkan um den Schneeberg handelte. Aufgewacht bin ich erst mit dem Gefühl, daß der Zug, der sich so lange mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Täler gewunden hatte, nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir die Nebelfetzen entgegen. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Bläulichschwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran. Ich beugte mich hinaus und suchte vergebens ihre Gipfel. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Kopf. Nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, in sich zusammengesunkenes Bauwerk, Schutt- und Schotterhalden an den Tag. Es brannte fast nirgends ein Licht in der ganzen Gegend. Eine Ebene, der Fluß eigentlich nicht vorhanden, viele sich drängende aufgeregte Zuschauer, bereit, je nach der Lage, vorwärts oder zurückzulaufen. Vor mir Hochebene, deren Rand, abwechselnd leer und mit hohem Gesträuch bewachsen, man sehr deutlich sieht. Oben auf der Hochebene und jenseits ihrer kämpfen Österreicher. Man ist in Spannung: wie wird es werden? Zwischendurch sieht man, offenbar um sich zu erholen, vereinzelte Gebüsche auf dunklem Abhang, hinter denen hervor ein oder zwei Italiener schießen. Das ist aber bedeutungslos, ich allerdings laufe schon ein wenig. Dann wieder die Hochebene. Österreicher laufen den leeren Rand entlang, bleiben mit einem Ruck hinter den Sträuchern stehen, laufen wieder. Es geht offenbar schlecht, es wird auch unbegreiflich, wie es jemals gut gehen könnte, wie kann man, da man auch nur ein Mensch ist, Menschen, die den Willenhaben, sich zu wehren, jemals überwältigen. Große Verzweiflung, allgemeine Flucht wird nötig werden. Da erscheint ein preußischer Major, der übrigens die ganze Zeit über mit mir die Schlacht beobachtet hat, aber wie er jetzt ruhig in den plötzlich leer gewordenen Raum tritt, ist er eine neue Erscheinung. Er streckt zwei Finger von jeder Hand in den Mund und pfeift, wie man einem Hund pfeift, aber liebend. Das Zeichen gilt seiner Abteilung, die unweit gewartet hat und jetzt vormarschiert. Es ist preußische Garde, junge stille Leute, nicht viele, vielleicht nur eine Kompagnie, alle scheinen Offiziere zu sein, wenigstens habe sie lange Säbel, die Uniformen sind dunkel. Wie sie nun an mir mit kurzen Schritten, langsam, gedrängt vorbeimarschieren, hie und da mich ansehn, ist die Selbstverständlichkeit dieses Todesganges gleichzeitig rührend, erhebend und siegverbürgend. Erlöst durch das Eingreifen dieser Männer erwachte ich. Wann aber war ich in Schlaf gefallen?


Kommentar Tagliamento

Im Nachtzug, auf der Fahrt von Wien nach Venedig, träumt Selysses ein unvergeßliches Landschaftsbild. Bei der Ausfahrt aus dem Gebirge in die Ebene wacht er auf, das Friaulische, geht es ihm durch den Kopf. Dann, in der Ebene ist der Tagliamentofluß eigentlich nicht vorhanden. Bewaffnete, Österreicher, Italiener und Preußen ziehen einher, allem Anschein nach die Schlacht am Tagliamento, deren Zeitzeuge Kafka war. Offenbar ist es wieder ein Traum, aber dann stellt sich die Frage, ob es eine Wachphase zwischen zwei Träumen gegeben hat oder eher eine Abfolge von drei Landschaftsträumen. Nicht selten ja bestätigt man sich im Traum mit sicheren Beweisen das Wachsein. Sitzt Selysses überhaupt in einem Zug, hat er auch nur sein haus verlassen? La vida es sueño, der Traum ein Leben, mit Grillparzer wird Selysses auf seiner Italienreise auch noch zu tun haben.

Kafka TB 1917

Tagliamento

Dorfszenen

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich bin darum jedesmal wie erlöst gewesen, wenn der Großvater wieder aus dem Kaffeezimmer herauskam, den Hut auf den Kopf setzte und der Mathild zum Abschied die Hand reichte. Beim Herauskommen aus der Haustür ist der Großvater stehen geblieben, um nach dem Wetter zu schauen. Ein Mann wollte eilig aus einer Gasse in die andere einbiegen, da bemerkte er den Großvater. Das ließ ich stehn bleiben. Georg sagte er langsam, als müsse er allmählich alte Erinnerungen hervorholen, und näherte sich, die Hand vorstreckend, meinem Großvater. Mein Großvater hat mich als Kind überallhin mitgenommen, immer wieder auch zum Bauer Lüftner. Die große Diele. Theatralisch das Ganze; er nervös mit Hihi und Haha und auf-den-Tisch-Schagen und Armheben und Achselzucken und Bierglasheben wie ein Wallensteiner. Daneben die Frau, eine Greisin, die er als ihr Knecht vor zehn Jahren geheiratet hat. Ist ein leidenschaftlicher Jäger, vernachlässigt die Wirtschaft. Riesige zwei Pferde im Stall, homerische Gestalten, in einem flüchtigen Sonnenschein, der durch das Stallfenster kam. Auf der Landstraße gegen Oberklee am Abend. Der Dorfplatz hingegeben der Nacht. Die Weisheit der Kleinen. Vorherrschaft der Tiere. Die Frauen – Kühe mit äußerster Selbstverständlichkeit über den Platz ziehend. Mein Sopha über dem Land. – Als der von mir über alles geliebte Großvater während des ersten Föhnsturms nach dem sibirischen Winter siebzehn im Sterben lag, habe ich ihm, der halb schon dahingedämmert war, einen langsamen Ländler in C-Dur vorgespielt, der mir beim Spielen bereits, so will es mir jetzt in der Erinnerung erscheinen, so zeitlupenhaft vorgekommen ist, als dürfte er nie ein Ende nehmen. Von jenem Apriltag an habe ich mich geweigert, die Zither auch nur einmal noch anzurühren.

Kommentar Dorfszenen

Voller Liebe hat uns Sebald die dörfliche Gegend seiner Kindheit in Ritorno in Patria, aber auch in Paul Bereyter und Ambros Adelwarth und nicht zuletzt in den Moments musicaux nahegebracht, und sage niemand, die Liebe müsse eine leichte Sache sein. Auch der Großstadtmensch Kafka kennt sich aus auf dem Lande, kennt ländliche Hochzeitsvorbereitungen und vieles mehr. Die beiden nehmen den kleinen Selysses an die Hand für einen Gang durchs Dorf. Von Kafka kommen fürs Erste Stichworte, Brocken, die Selysses im Fluß seiner Sätze noch auflösen müßte. Es kann aber auch so bleiben, das Unbehauene hat seine eigene Schönheit.
Kafka TB 1917
Dorfszenen

Montag, 7. Februar 2011

Straßenkreuzung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Kurz nach der Rückkehr des Weltreisenden aus dem Heiligen Land brach der Krieg aus und je weiter er um sich griff und je mehr das Ausmaß der Verwüstungen in unserer abgelegenen Gegend bekannt wurde, desto weniger gelang es ihm, in unserem doch so gut wie unveränderten Leben wieder Fuß zu fassen, Für seinen ehemaligen Freundeskreis wurde er ein Fremder, seine Stadtwohnung verwaiste, und auch draußen auf dem Landsitz zog er sich bald völlig auf sein eigenes Quartier und letztendlich ein entlegenes Gartenhaus zurück. Von einem der alten Gärtner konnte man erfahren, daß er tagsüber oft in tiefem Trübsinn verharrte, wohingegen er in der Nacht in dem ungeheizten Gartenhaus leise klagend hin- und widerging. In irrer Aufgeregtheit soll er bisweilen auch irgendwie mit den Kriegshandlungen in Zusammenhang stehende Wörter aneinandergereiht haben, und bei der Aneinanderreihung solcher Kriegswörter hat er sich anscheinend, als ärgere er sich über seine Begriffsstutzigkeit oder als gelte es, das Gesagte auf ewig auswendig zu lernen, mit der Hand immer wieder vor die Stirn geschlagen. Mehrfach geriet er darüber so außer sich, daß er nicht einmal die engsten Freunde zu erkennen vermochte, so als habe er sie vergessen. Wiederholt war er für längere Zeit verschwunden. Einmal haben wir ihn, ich weiß nicht, wo überall und wie lang nach ihm gesucht wurde, um ihn nach zwei, drei Tagen endlich im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer zu entdecken. Nun saß er schon seit langen Wochen an der großen Straßenkreuzung, mit nichts hatten wir ihn zur Rückkehr bewegen können, aber morgen, weil der neue Regent einzieht, soll er seinen Platz verlassen. Er mischt sich sowohl grundsätzlich als auch aus Abneigung in nichts ein, was um ihn vorgeht. Längst schon hat er auch aufgehört zu betteln, und das nicht wegen seiner unermeßlichen Reichtümer. Die welche schon seit langem vorübergehen, beschenken ihn aus Gewohnheit, aus Treue, aus Bekanntschaft, die neuen aber folgen dem Beispiel. Er hat ein Körbchen neben sich stehn und in das wirft jeder soviel als er für gut hält. Eben darum aber, so sagt er, weil er sich um niemanden kümmert und in dem Lärm und dem Unsinn der Straße den ruhigen Blick und die ruhige Seele bewahrt, verstehe er alles, was ihn, seine Stellung, seine berechtigten Ansprüche betrifft, besser als irgendwer. Über diese Fragen kann es keinen Streit geben, hier kann nur seine Meinung gelten. Als daher heute morgens ein Polizist, der ihn natürlich gut kennt, den er aber ebenso natürlich noch niemals bemerkt hat, bei ihm stehn blieb und sagte: Morgen ist der Einzug des Regenten; daß Du nicht wagst morgen herzukommen, antwortete er mit der Frage: Wie alt bist Du.

Kommentar Straßenkreuzung

Cosmo Solomon ist der Prinz des Großen Geldes und bitterarm aus innerer Not. Vermehrt kommt er abhanden und wird etwa, erst nach mehreren Tagen, in seinem alten und vergessenen Kinderzimmer entdeckt. Nun hat er sich an einer Straßenkreuzung aufgestellt. Wegen des Einzugs des neuen Regenten müsse er, so wird ihm von einem Polizisten bedeutet, wenigstens vorübergehend seinen Platz räumen, um nicht als Schandfleck dazustehen. Das ruft die alte, von Arroganz nicht freie Sicherheit der Reichen in ihm wach. Wie alt bist Du? ist seine ganze Antwort. Vielleicht ist es aber auch nur die Stille des wahren Weisen. Zumal die Heiligen rekrutieren sich zu nicht geringem Teil aus denen, die ihre reichen irdischen Güter hingegeben haben.
Kafka TB 1917
Straßenkreuzung

Augenmerk

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Von derlei unguten Beobachtungen und abstrusen Ideen angegriffen, war ihm mit einemmal, als sei er in diesem Kreis dieser ihre Morgenkollation einnehmenden, ganz mit sich selbst beschäftigten Gespenster unversehens jemandem in den Blick gekommen, und tatsächlich fand er zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Diejenigen, denen sie angehörten, lehnten an der Theke ihm gegenüber. Der eine hielt das Kinn in die rechte, der andere in die linke Handfläche gestützt. Wie ein Wolkenschatten über ein Feld, so legte sich über ihn die Befürchtung, daß ihm die beiden jungen Männer, die, wie er sich nicht nur einbildete, zu ihm herüberschauten, seit seiner Ankunft in dieser Stadt mehrfach schon über den Weg gelaufen und daß sie auch in der Bar am Flußufer unter den Gästen gewesen waren. Wie, rief er, der Vielgereiste, plötzlich. War etwas vergessen? Ein entscheidendes Wort? Ein Griff? Eine Handreichung? Sehr möglich. Höchstwahrscheinlich. Ein grober Fehler in der Rechnung, eine grundverkehrte Auffassung, ein kreischender tintenspritzender Strich durch das Ganze. Wer kann in das Wirrsal eindringen? Verdammte tropische Luft, was machst Du aus mir. Wer stellt das richtig? Wo ist der Mann, es richtig zu stellen. Wo ist der gute alte landsmännische Müller aus dem Norden, der die zwei grinsenden Kerle drüben zwischen die Mühlsteine stopft?

Kommentar Augenmerk

Wenn Selysses vorgibt, die Einwohner von Desenzano hätten sich geschlossen auf dem Marktplatz versammelt, um den ihnen gänzlich unbekannten Prager Versicherungsbeamten in Augenschein zu nehmen, so geschieht das mit mildem, therapeutischen Spott für Kafka, der immer alles Augenmerk auf sich, den Nichtswürdigen und Unbeachtlichen, gerichtet fühlt. Gleichzeitig aber sieht Selysses sich selbst auf seiner Reise zunehmend von zwei verdächtigen Augenpaaren verfolgt, und hier ist es nun sein Freund Kafka, der, nach dem er sich ohne Zögern tief in diese Situation hineinversetzt hat, zumindest in Worten aufbrausend die Initiative ergreift: ein Müller soll die beiden Kerle zwischen seine Mühlsteine stopfen, und zwar ein Müller aus Norddeutschland, einer Gegend, die beide Dichter generell wenig beachten. Oder ist der sogenannte hohe Norden gemeint? Im Augenblick des Geschehens atmet Selysses tropische Luft, womöglich in einer ständig von der Malaria heimgesuchten, halbtoten Stadt.

Kafka TB 1917
Augenmerk

General Samson

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In den Sommermonaten kam öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen war. Der Vater unterhielt sich mit ihm meist über die Homerischen Epen, über die Rechenkunst Newtons und über die amerikanischen Reisen, die sie beide gemacht hatten. Was für Weiten man dort durchmaß und was für Wälder sich dort ausdehnten mit Bäumen, deren Schäfte höher hinaufragten als die Pfeiler der größten Kathedralen. Charlotte lauschte mit wachsender Hingabe diesen Gesprächen, insbesondere wenn der vornehme Gast phantastische Geschichten ausmalte, in denen federgeschmückte Krieger vorkamen und Indianermädchen, deren dunkle Haut einen Anhauch zeigte von moralischer Blässe. Bisweilen aber kamen ihn Anwandlungen eines prophetischen Realismus an, eine Gabe, die ihm in seiner späteren politischen Laufbahn noch zu Gute kommen sollte, und er schaute voraus in die Zeit der letzten größeren Kämpfe, welche die amerikanische Regierung mit den Indianern zu führen hatte. Das am weitesten in das Indianergebiet vorgeschobene Fort – es war auch das stärkste – wurde von einem General Samson befehligt, der sich schon vielfach ausgezeichnet hatte und der das unbeirrbare Vertrauen des Volkes und der Soldaten besaß. Der Ruf General Samson! war gegenüber einem einzelnen Indianer fast so viel wert wie eine Büchse. Eines Morgens wurde von einem Stoßtrupp im Wald ein junger Mensch aufgegriffen und gemäß dem allgemeinen Befehl des Generals, der sich auch um die geringsten Dinge persönlich kümmerte, ins Hauptquartier gebracht. Da der General gerade mit einigen Farmern aus dem Grenzgebiet, so hieß es, eine Beratung hatte, sollte der Fremde zunächst vor den Adjutanten, den Oberstleutnant Otway geführt werden. Hier nun, so der Erzählende, war es für mich an der Zeit einzugreifen. General Samson! rief ich und trat taumelnd einen Schritt zurück, denn da trat er aus dem hohen Busche hervor. Still, sagte er und wies hinter sich. Ein Gefolge von etwa zehn Herren stolperte ihm nach.

Kommentar General Samson

Chateaubriand verfügt nicht nur über den arg süßen Ton seiner Indianergeschichten, mit denen er, wie Selysses uns auf seinen englischen Wanderungen gleichsam im Vorübergehen wissen läßt, das Herz der jungen Pfarrerstochter Charlotte für sich einnimmt, er vermag auch in knappen nüchternen Worten einen Blick in die Zukunft zu werfen. Reiner Realismus ist gleichwohl nicht sein Anliegen. Wenn wir vielleicht noch bereit sind, den Gleichklang von General Samson und Gregor Samsa zu überhören, der General, der, angeblich im Gespräch mit einigen Farmern aus dem Grenzgebiet, plötzlich aus dem hohen Busche hervortritt mit einem Gefolge von etwa zehn Herren, bei denen es sich kaum um Farmer handeln dürfte, hat unverkennbar ein Element gotischer Rätselhaftigkeit, das Kafka, seiner Gewohnheit treu, keineswegs auflöst. Die Indianer sind ein wenig in den Hintergrund geraten.


Kafka TB 1917

General Samson

Sonntag, 6. Februar 2011

Zoon Politikon

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Als ich auf den Platz herüberkam, saß Sarbadore bereits vor der Bar mit der grünen Markise und las, die Brille in die Stirn geschoben in einem Buch. Ein Kellner trat an den Tisch. Er trug eine lange grüne Schürze. Ich bestellte einen doppelten Fernet mit Eis. Sarbadore hatte inzwischen sein Buch beiseite gelegt und die Brille wieder richtig aufgesetzt. Am Feierabend, sagte er, rette ich mich in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze ich inmitten der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber setze ich über auf eine Insel, und wenn ich die ersten Sätze anfange zu lesen, so kommt es mir jedesmal so vor, als rudere ich weit auf das Wasser hinaus. Ob er denn nicht auf seiner Insel einen Freund oder Gefährten benötige, so wie Robinson, fragte ich lächelnd. Er überlegte einen kurzen Augenblick und erwiderte dann, seinerseits lächelnd: Einen Freund? Ein ganz unbrauchbarer Mensch. Suche ich mir gegenwärtig zu machen, was er besitzt, so bleibt, bei günstigem Urteil allerdings nur, seine meiner Stimme gegenüber etwas tiefere Stimme. Rufe ich Gerettet, ich meine, wäre ich Robinson und riefe Gerettet, wiederholte er mit seiner tiefern Stimme Gerettet. Wäre ich Korah und riefe Verloren, wäre er gleich mit seiner tiefern Stimme dabei, es zu wiederholen. Es würde bald ermüden, immer diesen Baßgeiger mit sich zu führen. Dabei ist er selbst gar nicht munter bei der Sache, er wiederholt nur, weil er es muß und nichts anderes kann. In einer freien Stunde, schloß Sarbadore sein Bild mit einem übermütigen Pinselstrich ab, wenn ich einmal Zeit habe, diesen persönlichen Dingen mich zuzuwenden, berate ich mit ihm unter Palmen am Strand, wie ich mich wieder von ihm befreien könnte.

Kommentar Zoon Politikon

Über die Welt, oder doch über die europäische Welt verstreut hat Selysses Bekannte und gute Bekannte, ob jemand darunter ist, den er als Freund bezeichnen würde, bleibt unklar. Auch sein Verhältnis zu Sarbadore, offenbar ein Zuwanderer aus Sardinien, den er in Verona trifft, wird in keiner Weise präzisiert. Der scherzhafte Ton des Gesprächs läßt allenfalls auf eine gewisse Nähe schließen. Sollte Sarbadore wirklich der Auffassung sein, Freundschaft sei nichts anderes als ein geradezu störendes Baßecho der eigenen Person, wäre seine Gemeinschaftsfähigkeit als gering einzuschätzen. Vielleicht, um nur eine weitere Möglichkeit zu nennen, hat Selysses ihn aber auch nur bei der Lektüre der Tagebücher Kafkas angetroffen, und Sarbadore referiert, anknüpfend an die Stichworte Insel und Robinson, zum Spaß das eben Gelesene.
Kafka TB 1917
Zoon Politikon

Besuche

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Nie hätte er geglaubt, erzählte er mit bei meinem Besuch, wie lang die Tage, die Zeit und das Leben einem werden könnten, wenn man auf das Abstellgleis geschoben sei. Zudem bedrückte es ihn, der einzig übriggebliebene Seelos zu sein. Er erzählte die Geschichte des Onkels im Tirol, vom bald danach erfolgten Tod der Mutter, die in den letzten Wochen ihres Lebens so viel von ihrem schweren Gewicht verloren habe, daß kein Mensch sie mehr habe erkennen können, und er verbreitete sich des längeren über die seltsame Tatsache, daß die Tanten Babett und Bina, die von Kindheit an alles miteinander getan hätten, am selben Tag gestorben seien, die eine am Herztod und die andere aus Entsetzen darüber. Lange, bis gut über achtzig, habe die Mathild sich gehalten, vielleicht weil sie den wachsten Kopf gehabt habe. Sie sei einen schönen Tod gestorben im eigenen Bett mitten in der Nacht. Tags zuvor habe er sie noch besucht gehabt. Nun freilich habe er niemand mehr, den er besuchen wolle, er müßte ihn denn erst noch suchen. Allerdings kenne man oft nicht den, den man suchen und aufsuchen wolle, und er wohne doch nebenan. Zu erklären sei dies nicht ohne weiteres, man müsse es zunächst als Erfahrungstatsache hinnehmen. Sie sei so tief begründet, daß man sie nicht verhindern könne, selbst wenn man es darauf anlege. Das komme daher, daß man von diesem gesuchten Nachbarn nicht weiß. Man wisse nämlich weder, daß man ihn sucht, noch daß er daneben wohnt, dann aber wohne er ganz gewiß daneben. Die allgemeine Erfahrungstatsache als solche dürfe man natürlich kennen, diese Kenntnis störe nicht im allermindesten, selbst wenn man sie absichtlich sich immer gegenwärtig hält. Er könne von einem solchen Fall erzählen.

Kommentar Besuche

Ein gewisser Lukas malt in Ritorno in Patria ein Genrebild dörflicher, ständige gegenseitige Besuchen ermöglichender und erzwingender Verwandtschaftsverhältnisse, ein Bild, das dann nach und nach mit dem Tod der Abgebildeten erlischt. Die weiteren Ausführungen des Lukas sind leicht als Folge seiner Vereinsamung zu erkennen. Eine seltsame Doppelbödigkeit tut sich auf, dem Besuchen müßte in seiner jetzigen Situation ein Suchen vorausgehen, das aber aufgrund eines mehrfach in sich verschlungenen Unwissens so gut wie unmöglich ist, obwohl man weiß, der Gesuchte wohnt nebenan. Ob der exemplarische Fall, den Lukas noch erzählen will, die etwas wirren Nebel über den abstrakten Ausführungen lichten kann, würde man gern erfahren.

Kafka TB 1917
Besuche

Samstag, 5. Februar 2011

Blitzzug

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In einem Eisenbahnzug sitzen, es vergessen, leben wie zuhause, plötzlich sich erinnern, die fortreißende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden, kindlich dies fühlen, ein Liebling der Frauen werden, unter der fortwährenden Anziehungskraft des Fensters stehn, immer zumindest eine ausgestreckte Hand am Fensterbrett liegen lassen. Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war gerade erst zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Schärfer zugeschnittene Situation: Vergessen, daß man vergessen hat, mit einem Schlag ein im Blitzzug allein reisendes Kind werden, um das sich der vor eile zitternde Waggon erstaunenswert im Allergeringsten aufbaut wie aus der Hand eines Taschenspielers. Die beiden Leserinnen hatten den Zug inzwischen verlassen, in meinem Abteil saß nun eine gefiederte Dame mit einer Menge verschiedener Hutschachteln. Sie rauchte eine große Brasilzigarre und sah durch den blauen Qualm manchmal auffordernd zu mir herüber. Ich wußte aber nicht, wie ich sie ansprechen sollte, und starrte in meiner Verlegenheit fortwährend auf die weißen Glacéhandschuhe mit den vielen Knöpfen, die neben ihr auf dem Sitzpolster lagen.

Kommentar Blitzzug

Kafka ist zu begeisterten Ausbrüchen fähig, die Sebald in dieser Form fremd sind, die Begeisterung ist versteckt in der reichen Stille seiner Sätze. Kafka ist ja auch bereits in einem Alter gestorben, als Sebald mit dem Schreiben kaum angefangen hatte. Das junge Mädchen und die Franziskanerschwester, mit denen der in Italien reisende Selysses das Abteil bestückt, bestärken Kafka aber nur in seinem Reiseenthusiasmus, er versucht die Situation noch schärfer zu fassen. Als er den Blick wieder hebt, sind die beiden Schönen verschwunden, die zigarrenrauchende Dame, die an ihrer Stelle Platz genommen hat, dämpft die Stimmung. Inzwischen wird kaum noch geraucht in den Zügen.
Kafka TB 1917

Blitzzug

Pascal

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Letrange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Letrange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe Letrange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Einer der Nachbarn berichtete, er sei über den Zaun hinweg in ein Gespräch mit Letrange geraten. Der sei ohne jede Vorbereitung auf Pascal zu sprechen gekommen. Pascal mache vor dem Auftreten Gottes große Ordnung. Aber es müsse eine tiefere ängstlichere Skepsis geben, als diese des thronenden Menschen, der sich mit wunderbaren Messern zwar, aber doch mit der Ruhe des Selchers zerschneidet. Woher diese Ruhe? Die Sicherheit der Messerführung? Ist Gott ein theatralischer Triumpfwagen, den man, alle Müdigkeit und Verzweiflung der Arbeiter zugestanden, mit Stricken aus der Ferne auf die Bühne zieht! - Er könne nicht behaupten, so der Besucher, daß er aus diesen Ausführungen schlau geworden wäre. Wir unsererseits sollten nicht vertrauensselig voraussetzen, daß dieses Gespräch wirklich stattgefunden hat.

Kommentar Pascal

Zwar begegnen uns in Sebalds Werk ständig Heilige, gleich zu Beginn seines ersten großen Werks die vollständige Schar der Nothelfer, und nicht wenige aus dem säkularen Personal des Dichter, wie Mrs. Ashbury oder der Major Wyndham Le Strange, führen auf die eine oder andere Art ein Heiliges Leben, zu einem Disput über religiöse oder theologische Fragen aber kommt es nicht. Eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der jetzt aufgetauchten Nachricht einer Auseinandersetzung mit der Theologie Pascals ist daraufhin angebracht. Andererseits sind uns aus dem Werk Thomas Bernhards Eremiten bekannt, die sich in einem Kalkwerk oder einer anderen abgelegenen Behausung obsessiv mit dem Werk Novalis oder Mendelssohn-Bartholdys beschäftigen. Pascal ist da nicht weniger naheliegend.
Kafka TB 1917
Pascal

Austoben der Laster

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Sein wegen seines unerbittlichen Regiments gefürchteter Vorgänger, bei dem Straffällige stundenlang auf kantigen Scheitern knien mußten, hatte, damit die Kinder nicht hinausschauen konnten, die Fenster zur Hälfte mit Kalkfarbe weißeln lassen. Die erste Amtshandlung nach seiner Einstellung war es gewesen, daß er diesen Anstrich mit einer Rasierklinge in eigenhändiger, mühevoller Arbeit wieder entfernte, was im Grunde so dringend nicht gewesen wäre, weil er ohnehin die Gewohnheit hatte, die Fenster, sogar bei schlechtem Wetter, ja selbst im Winter bei strenger Kälte sperrangelweit aufzureißen, war er doch fest davon überzeugt, daß Sauerstoffmangel die menschliche Denkfähigkeit beeinträchtigte. Überhaupt, sagte er immer wieder, sei die Erziehung nichts als eine Verschwörung der Großen. Wir ziehen die frei Herumtobenden unter Vorspiegelungen, an die wir auch, aber nicht in dem vorgegebenen Sinne glauben, in unser enges Haus, das sei die Wahrheit. Wer möchte nicht gern ein Edelmann sein. Türschließen. Das Lächerliche in der Erklärung und Bekämpfung von Max und Moritz. Der Wert des Austobens der Laster, der durch nichts zu ersetzen ist, bestehe darin, daß sie in ihrer ganzen Kraft und Größe aufstehen und sichtbar werden, selbst wenn man in der Erregung der Mitbeteiligung nur einen kleinen Schimmer von ihnen sehe. Man lernt das Matrosenleben nicht durch Übungen in einer Pfütze, wohl aber kann man durch allzugroßes Training in der Pfütze unfähig zum Matrosen werden.

Kommentar Austoben

Bereits bei Sebald ist Paul Bereyter ein Freiluftpädagoge hart an der Grenze des amtlich Zugelassenen, und auch die Radikalisierung zum Antipädagogen bei Kafka tut seinem Bild als begnadeter Kinderlehrer und Melammed keinen Abbruch. Bereyter hätte auch das Zeug zum Helden in einem Buch von Bernhard, und darum sagt er das, was er zu sagen hat und ihm die Wahrheit ist, immer wieder und einigermaßen apodiktisch. Die Leidenschaft seines Vortrags läßt einige Stellen dunkel, aber wem würde nicht einleuchten, daß die frei Herumtobenden in ihrer ganzen Kraft und Größe aufstehen und sichtbar werden.

Kafka TB 1916
Austoben der Laster

Freitag, 4. Februar 2011

Seebad

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es schien, als habe sich hier in unserem Seebad im Sommer 1913 die gesamte Welt versammelt. Man sah die Comtesse de Montgomery, die Comtesse Fitz James, die Baronne d’Erlanger und die Marquise de Massa, die Rothschild, die Deutsch de la Meurthe, die Peugeot, die Worms und die Hennessy und die Isvolkys und die Orlovs, Künstler und Künstlerinnen und die Demimondäne wie die Réjane und die Reichenberg, griechische Reeder, mexikanische Petroleummagnaten und Baumwollpflanzer aus Louisiana. In der Zeitung stand zu lesen, daß heuer eine regelrechte Welle des Exotismus über das Seebad hineingebrochen sei: des musulmans moldo-valaques, des brahmanes hindous et toutes variétés de Cafres, de Papous, die Niam-Niams et de Bachibouzouks importés en et leurs instruments sauvages. Rund um die Uhr war alles in Bewegung. Abends, bei den großen Diners, waren von der wie von einem leichten Seegang bewegten Menge der dinierenden Gäste nur die glitzernden Ohrringe und Halskettender Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen. Auch der König besuchte unser Seebad, machte aber keinen Aufwand. Wer ihn nicht von Bildern kannte, hätte ihn nie als König erkannt. Sein Anzug war schlecht genäht, nicht in unserer Werkstatt übrigens, ein dünner Stoff, der Rock immer aufgeknöpft, fliegend und zerdrückt, der Hut verbeult, grobe schwere Stiefel, nachlässig weite Bewegungen der Arme, ein starkes Gesicht mit großer grader männlicher Nase, ein kurzer Schurrbart, dunkle ein wenig zu scharfe Augen, kräftiger ebenmäßiger Hals. Einmal blieb er im Vorübergehn in der Tür unserer Werkstatt stehen und fragte, die Rechte oben am Türbalken: Ist Franz hier? Er kannte alle Leute bei Namen. Ich drängte mich aus meinem dunklen Winkel zwischen den Gesellen durch. Komm mit, sagte er nach kurzem Blick. Er übersiedelt ins Schloß, sagte er zum Meister.