Mittwoch, 12. Januar 2011

Charlotte

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In den Sommermonaten kam öfters ein junger französischer Adeliger zu Besuch, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen war. Der Vater unterhielt sich mit ihm meist über die Homerischen Epen, über die Rechenkunst Newtons und über die amerikanischen Reisen, die sie beide gemacht hatten. Was für Weiten man dort durchmaß und was für Wälder sich dort ausdehnten mit Bäumen, deren Schäfte höher hinaufragten als die Pfeiler der größten Kathedralen. Charlotte lauschte mit wachsender Hingabe diesen Gesprächen, insbesondere wenn der vornehme Gast phantastische Geschichten ausmalte, in denen federgeschmückte Krieger vorkamen und Indianermädchen, deren dunkle Haut einen Anhauch zeigte von moralischer Blässe. Am liebsten aber war ihr das Bild des Hundes, der mit einer Laterne, die er an einem Stecken trug im Maul, der angsterfüllten Atala vorausleuchtete auf ihrem Weg durch die Nacht und so das in seiner Seele schon zum Christentum hingeneigte Mädchen sicher durch die gefahrvolle Wildnis geleitete. Dergleichen Kleinigkeiten waren es immer, die sie ergriffen, weitaus mehr als die hohen Gedanken. Auf dem Heimweg dann dachte der Vicomte, wie schön Charlotte heute wieder gewesen war. Die eigentlich normale Schönheit der kleinen Hände, der leichten Finger, der gewalzten Unterarme, die in sich so vollkommen sind, daß selbst der doch ungewohnte Anblick dieser Nacktheit nicht an den übrigen Körper denken läßt. Das in zwei Wellen geteilte, vom Kerzenlicht hell beleuchtete Haar. Die ein wenig unreine Haut um den rechten Mundwinkel. Wie zu kindlicher Klage öffnet sich ihr Mund, oben und unten in zart geformte Buchtungen verlaufend, man denkt, daß diese schöne Wortbildung, die das Licht der Vokale in den Worten verbreitet und mit der Zungenspitze die reine Kontur der Worte bewahrt, nur einmal gelingen kann und staunt das Immerwährende an. Niedrige weiße Stirn. Das Pudern, dessen Verwendung ich bisher gesehen habe, hasse ich, wenn aber diese weiße Farbe, dieser niedrig über der Haut schwebende Schleier von etwas getrübter Milchfarbe vom Puder herrührt, dann sollen sich alle pudern. Sie hat gern zwei Finger am rechten Mundwinkel, vielleicht hat sie auch die Fingerspitzen in den Mund gesteckt, ja vielleicht hat sie sogar einen Zahnstocher in den Mund geführt; ich habe diese Finger nicht genau angesehn, es sah aber fast so aus, als hätte sie einen Zahnstocher in einen hohlen Zahn geführt und ließe ihn dort eine Viertelstunde lang ruhen.

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